Bremer und der Ayatollah

Irak: Der Schiitenführer Ali Sistani fordert baldige allgemeine Wahlen. Bremer sucht die Unterstützung der UN für eigenen Wahlmodus

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"Amerika behauptet, dass es Demokratie und Freiheiten in die Länder bringe. Gut, dann soll es uns Wahlen verschaffen. Besonders da wir 35 Jahre der Finsternis durchlebt haben, brauchen wir eine Wahl, die das Volk repräsentiert." Eine Stimme unter den fast 100 000 Schiiten , die heute in Bagdad auf die Strasse gingen, um Wahlen zu fordern, die dem Irak endlich eine souveräne Regierung bescheren sollen.

Wahlen will auch Bremer und seine Administration, allerdings nach dem Mitte November festgesetzten Zeitplan und mit einem Wahlmodus, gegen den der Schiitenführer Ayatollah Ali Sistani von Anfang an deutlichen Widerstand gezeigt hat. Bremer und einige Mitglieder des irakischen Regierungsrates sind heute in New York, um die Unterstützung von Kofi Annan, dem Generalsekretär der UNO, zu bekommen: Annan soll dabei helfen, den "Godfather" der Schiiten davon zu überzeugen, dass eine allgemeine Wahl im Irak in der kurzen Zeit bis Juni aus technischen Gründen nicht durchzuführen sind. Eine in Details noch ungeklärte Mitwirkung der UN, so das Leitmotiv, soll den Wahlen eine Legitimation verschaffen, die stärker wiegt als die ständigen Zweifel darüber, ob der von den Amerikanern vorgeschlagene Übergangsmodus mehr von amerikanischen Interessen geleitet ist als von der oft beschworenen Absicht, den Irak schnellstmöglich den Irakern zu überlassen.

Nach dem gestrigen Anschlag auf die US-Verwaltung in Bagdad, bei dem mehr als 20 Menschen ums Leben kamen, stehen die Chancen auf eine UN-Beteiligung im Irak allerdings schlecht.

Schon Mitte Dezember des letzten Jahres hatte Ayatollah Sistani gefordert, dass ein neutrales UN-Komitee in den Irak kommen sollte, um vor Ort zu herauszufinden, ob allgemeine Wahlen - wie die Koalitionsverwaltung behauptet, technisch nicht durchführbar seien: ein Vorschlag, der Bremer damals in einige Verlegenheit brachte.

Seither streiten sich Bremer und der Ayatollah, der bis dato von den Amerikanern als zuverlässig ruhige und loyale Rückendeckung und "Joker" gegenüber Extremisten verstanden wurde, über die amerikanische "road map" zur Demokratie im Irak. Die US-Administration will die Regierungsgewalt bis zum 31. Mai diesen Jahres an eine nationale Interimsversammlung ("transitional national assembly") übertragen, deren Mitglieder von einem 15köpfigen Komitee bestimmt werden. Von den 15 Komitee-Mitgliedern werden 5 vom Regierungsrat benannt und zehn von regionalen Versammlungen.

Dieser Modus, der dem amerikanischen "Caucus"-Verfahren - abgeleitet von einem indianischen Wort für ein Treffen von Stammesältesten - ähnelt, soll nach amerikanischer Auffassung dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Gruppierungen im Irak eine Chance haben. Die Moderaten hätten keine Zeit dafür, sich so schnell für eine allgemeine Wahl zu organisieren, wird ein Sprecher der Administration zitiert. Vom Caucus-Verfahren würden auch die Sunniten profitieren, die bei einer allgemeinen Wahl kaum eine Chance gegen die Schiiten hätten.

Bei einer allgemeinen Wahl, die nach dem amerikanischen Zeitplan erst im März 2005 stattfinden soll, würden - so die Befürchtungen der Amerikaner - die Schiiten, deren Bevölkerungsanteil bei geschätzten 55 bis 60% liegt, den lang ersehnten Sieg davon tragen, der, wie manche Mahner meinen, aufgrund der Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten dem Land Bürgerkriegs-ähnliche Verhältnisse bescheren könnte - oder, wie andere unken, zur "Iranisierung des Irak" führen.

Ali Sistani, dem keine engeren Verbindungen zum Iran nachgesagt werden - "Er ist sehr unabhängig", so der englische Außenminister Straw vor einem britischen Ausschuss auf die Frage, ob der Iran über Sistani Einfluss auf den Irak habe -, will, so lässt er verbreiten, bald möglichst allgemeine Wahlen. Mittlerweile droht der Ayatollah, der sich üblicherweise bei politischen Angelegenheiten zurückhält, den Amerikanern mit einer Fatwa und einer abgestuften Widerstandsstrategie, von Demonstrationen bis zu einem Generalstreik.

Allerdings, so der Kommentator der arabischen Gulf News, sei es falsch, wenn die Amerikaner in Washington und Bagdad Sistani zu sehr beim Wort nehmen und seinen Aufruf zu Wahlen als "definitive Ablehnung" des gegenwärtigen Plans verstehen würden:

Das wäre, so denke ich, eine gefährliche Fehlinterpretation nicht nur von Sistanis Absichten sondern auch von der Rolle, welche die schiitische Geistlichkeit im künftigen Iran spielen sollte. Um damit anzufangen: Sistanis Behauptungen sind eine "Fatwa", was bedeutet, dass sie eine "Meinung" wiedergeben, kein "Dekret" oder ein "Edikt", wie US-Offizielle, Paul Bremer eingeschlossen", zu glauben scheinen.

Kein religiöser Experte im Islam habe die Autorität zu einem Dekret oder einem Edikt. Im Schiitentum wie im Islam allgemein gebe es weder Papst noch Kardinäle; Gläubige würden zwar eine Expertenmeinung suchen, die aber auch mit einer anderen vergleichen und schließlich aufgrund des eigenen Urteilsvermögen handeln, wie es ein fundamentales Prinzip des Islam vorschreibt.

Dieses Schlüsselprinzip sei allerdings von einer Gruppe von Theologen, allen voran Ayatollah Khomeini "herausgefordert worden", da sie behauptet hätten, dass es den meisten Muslimen, arm und des Lesens unkundig, an nötigen Kompetenzen, Wissen und moralischer Stärke fehlen würde, um "korrekte Entscheidungen zu treffen". Diese Menschen, "mustazafeen" genannt, was den "Schwachen" übersetzt werden kann, bräuchten, so Khomeini, Führung und "Wächterschaft" der Geistlichen.

Sistani wäre der letzte der behaupten würde, dass er über irgendeine Autorität verfüge, um den Irakern zu diktieren, was sie tun und was sie unterlassen sollten.

Es wäre eine höhere Ironie, wenn dieser alte Anti-Khomeini-Kleriker von Bremer und seinen Leuten in eine irakische Version von Khomeini verkehrt werden würde.

Demnach sei es falsch, Sistani als "politischen Führer" der irakischen Schiiten zu behandeln. Man müsse mit irakischen Politikern verhandeln, wenn es um politische Entscheidungen geht. Sistani in die Politik zu ziehen, sei schlecht für den Irak, für ihn selbst und für die Koalition.