Die Mauer des Schweigens überwinden

Friedensaktivisten forderten mit einem Menschenrechtsmarsch durch Israel und Palästina eine Beendigung der Besetzung

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Kurz vor Weihnachten begann eine Gruppe von internationalen Friedensaktivisten in Tel Aviv einen dreiwöchigen Menschenrechtsmarsch durch Israel und Palästina. Telepolis sprach nach ihrer Rückkehr mit der Aachenerin Ursula Finken (58) über die Aktion. An ihr nahmen nur Frauen teil, logistisch wurden sie aber von Männern unterstützt (vgl. Weibliche Präsenz als taktische Variante).

Wie viele Frauen beteiligten sich am Marsch?

Ursula Finken: Zwischen 50 und 300. Die Differenz kommt daher, weil wir unterstützt wurden von Frauenorganisationen der israelischen und palästinensischen Friedensbewegung. Viele Frauen konnten uns aber nicht überall hin begleiten. Sie unterstützten uns dann nur an einem Ort und nahmen nur dort an unseren Aktionen teil. Im Kern gehörten rund 60 Frauen zum internationalen Menschenrechtsmarsch.

Wo waren Sie überall?

Ursula Finken: Über eine Woche lebten wir in Ost-Jerusalem, innerhalb der Festungsmauer Alt-Jerusalems, einem eher liberaleren Ort, wo wir in einem griechisch-orthodoxen Palästinenserhotel wohnten. Dann waren wir in Tel Aviv, Ramallah, Jenin, Bethlehem und im völlig eingezäunten Tulkarem. Dorthin mussten wir ausweichen, da wir in Nablus wegen der totalen Absperrung durch das israelische Militär nicht übernachten konnten. Zudem besuchten wir Nazareth und Beduinen der Rahat-Siedlung in der Negev-Wüste. Und wir waren in Eretz, dem Übergang nach Gaza, wo kürzlich der Selbstmordanschlag einer jungen Palästinenserin passierte.

Wie haben Sie die Situation im Land empfunden?

Ursula Finken: Bedrückend war es, wenn wir Flüchtlingslager besucht haben oder wir wegen der Abriegelmaßnahmen selbst nicht mehr aus einigen Orten herauskamen - etwa Tulkarem und Jenin. Ein Ausgleich war, dass wir von israelischen und palästinensischen Frauen freundlich empfangen wurden. Besonders die Palästinenserinnen waren sehr herzlich. Wohl auch, weil wir die einzigen Besucher in Kalkilja waren. Das ist der Ort, wo die letzten Auseinandersetzungen am Grenzzaun stattfanden. In Kalkilja findet kein Handel und Handwerk mehr statt, die Stadt ist wie ausgestorben - und umgeben von neuen israelischen Siedlungen.

Welche Aktionen haben Sie unternommen?

Ursula Finken: Wir haben - unterstützt von Frauen aus der Umgebung und mithilfe palästinensischer Frauenorganisationen - auf der Basis der völligen Gewaltlosigkeit Aktionen am Zaun durchgeführt. Beispielsweise in der Nähe von Ramallah, wo der Zaun noch nicht richtig geschlossen war. Sehr viele Frauen und Kinder waren bei uns, was nicht ungefährlich war, denn die palästinischen Kinder versuchen immer, Steine auf das Militär zu werfen. In unserem Beisein haben Aufpasser dafür gesorgt, dass die Kiddies das nicht machen. Wir selbst wurden trotzdem vom Militär mit zwei Rauchbomben beschossen. Nachdem wir uns später entfernten, haben die Kinder wieder Steine geworfen.

Wir haben zudem auf der Straße protestiert. Wir sind etwa durch die Innenstadt von Hebron gezogen, und es war wegen des Markttages alles voller Menschen. Sie müssen wissen, in Hebron konfisziert Israel die meisten Häuser. Überall entstehen neue Checkpoints in der Stadt. Einige davon haben wir versucht zu überschreiten. Das ist uns aber nur einmal gelungen. Wir wollten auch den großen Checkpoint Qualandia zwischen Jerusalem und Ramallah von beiden Seiten aus mit jeweils 70 Aktivistinnen übertreten. Aber im Gegensatz zu früheren Situationen, wo wir Soldaten in Gesprächen überzeugen konnten, dass sie uns passieren lassen, kamen wir diesmal nicht durch. Die Soldaten pickten uns auch alle heraus, als wir es später in Dreiergruppen versuchten.

Sie sagten, Qualandia sollte von beiden Seiten überschritten werden. Sie waren doch eine Gruppe?

Ursula Finken: Wir hatten unsere Kerngruppe geteilt, die Hälfte hatte den Checkpoint teilweise lange vorher als Touristen überschritten oder ihn umfahren. In Ramallah traf die Gruppe dann palästinensische Frauen und kam mit diesen zum Checkpoint. Die andere Hälfte ging mit israelischen Friedensaktivistinnen ebenso zum Checkpoint. Es gab Kundgebungen mit Fahnen und Redebeiträge. Während wir die Pache-Fahnen dabei hatten und ein sehr buntes Bild abgaben, haben die Palästinenserinnen auf der anderen Seite ihre Fahne geschwenkt. Die Israelinnen schwenkten ihre Landesfahne übrigens nicht, denn sie gilt bei ihnen als Zeichen der reaktionärsten, übelsten und rechtesten Schicht, nämlich der Siedler.

Welche Einrichtungen haben Sie besucht?

Ursula Finken: Wir wurden etwa von Jassir Arafat in seinem Regierungssitz in Ramallah empfangen. Wir wollten ihm kritische Fragen stellen, etwa zur Rolle der Hamas oder Al-Aksa-Brigaden im Zusammenhang mit seiner Al Fatah. Aber wir erhielt die Weisung, ihm nicht zu heikle Fragen zu stellen. Man sagte uns, er habe zu viel mit den täglichen Begebenheiten zu tun, es sei einfach zu viel. Erstaunlich war, dass er völlig frei zugänglich war und ihn nur zwei oder drei seiner Soldaten bewachten. Da wir keine kritischen Fragen stellen durften, malten wir noch ein Plakat mit der Aufschrift: We want the dialog! Aber ob er das lesen konnte, ist fraglich. Er sieht sehr, sehr schlecht und ist ein sehr kranker Mann.

Haben Sie auch Regierungsvertreter Israels getroffen?

Ursula Finken: Wir trafen einen Abgeordneten der Knesset, der einer sehr kleinen Abspaltung der Linken angehört. Die Gruppe ist im israelischen Parlament aber völlig irrelevant. Wir haben mit ihm über das Genfer Friedensabkommen diskutiert. Er sagte, der Dialog mit Arafats Autonomiebehörde sei weniger problematisch als das Gespräch mit den Palästinensern, die in den Grenzen Israels leben. Seit der Vertreibung 1948 haben sie das Recht, israelische Staatsbürger zu sein. Der Ausgleich dieser alten Flüchtlingsfrage sei ein Hauptproblem. Der Politiker hat uns auch bei einer Kurzdemonstration begleitet, hatte aber immer Angst, mit uns gesehen zu werden.

Haben Sie auch gegen die Regierung demonstriert?

Ursula Finken: Wir waren vor dem Haus von Ariel Scharon, dem israelischen Premier. Es gab vor dem Haus in einem Jerusalemer Prominentenvierteln nur eine kleine Straßenbarriere, ein Wachhäuschen und vier Polizisten, die uns davon abhielten, näher an das Haus heran zu kommen. Wir hatten eine Erklärung zum Grenzzaun und der Unmöglichkeit, ihn zu überwinden, vorbereitet. Aber Scharon war nicht zuhause. Und sein Nachbar, Finanzminister Benjamin Netanjahu, wollte uns nicht empfangen.

Während der Zeit ihres Marsches kam es zu vielen Aktionen gegen den Grenzzaun, über die auch in den europäischen Medien berichtet wurde. Haben Sie an solchen Protesten teilgenommen?

Ursula Finken: Wir haben an einer Aktion am Kalkilja-Zaun teilgenommen, aber uns im Hintergrund gehalten. Wir gehörten nicht zu jenen, die den Zaun durchgeschnitten haben und vom Militär beschossen wurden. Dort kam es ja auch zu dem Vorfall, dass ein Brite angeschossen wurde. Einige von uns wollten später an einem Checkpoint eine Sitzblockade durchführen und sich medienwirksam verhaften lassen. Aber wir haben dies diskutiert und abgelehnt, da wir der Meinung waren, dass das nicht unser Ziel war. Wir wollten mit den einzelnen Menschen in Kontakt und ins Gespräch kommen. Dennoch haben wir uns auch mit Target-Symbolen gekennzeichnet und so unsere Solidarität bekundet zu jenen Demonstranten, die beschossen wurden. Uns war ebenso bewusst, dass wir jederzeit selbst beschossen werden könnten.

Konnte Ihr Marsch dazu beitragen, den Friedenprozess zu stärken?

Ursula Finken: Wohl nicht. Aber viele Frauen haben uns mit auf dem Weg gegeben, dass das, was wir getan haben, noch nie jemand versucht hat - nämlich das ständige Überschreiten der Grenze und die ständige Kommunikation untereinander. Und man sagte uns, dass das ein erster Schritt sei, die Mauer des Schweigens zu überwinden. Aber richtig etwas bewirken kann wohl nur ein Zusammenspiel verschiedener parlamentarischer, aktionsmäßiger und sonstiger Kräfte.