Risikofaktor Schule

IGLU bestätigt PISA: Die ersten Ergebnisse der IGLU-Studie rücken erneut die seit Jahrzehnten im deutschen Bildungssystem herrschenden ungerechten Zustände ins Zentrum

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Mitten in die Bildungs- und Innovationsdebatte welche derzeit in Deutschland die Tagespolitik beherrscht, platzen die nun veröffentlichten Ergebnisse der im Jahr 2003 angestoßenen Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU). Im Gegensatz zum "Programme for International Student Assessment" (PISA) bei dem (15-jährige) Sekundarschüler getestet wurden, ging es bei der IGLU-Untersuchung um die Leistungen von Grundschülern. Und obwohl die Ergebnisse dieses mal im internationalen Vergleich über dem Durchschnitt liegen, im Zuge dessen es also wahrscheinlich keinen IGLU-Schock geben wird, zeigt sich einmal mehr, dass es Deutschland trotz vielfältiger, aber anscheinend falscher Initiativen nicht geschafft hat, annähernde Chancengleichheit im Bildungssystem zu gewährleisten. An der nationalen Untersuchung hatten sich aus finanziellen, und wohl auch aus anderen Gründen, nur sieben der sechzehn Bundesländer beteiligt.

Leistung ist nicht gleich Leistung

Besonders deutlich zeigt sich bei IGLU die Problematik des dreigliederigen Bildungssystems, weil am Ende der Grundschulzeit, meist schon in der 4. Klasse, Empfehlungen für den weiterführenden Schul- und damit auch Lebensweg abgegeben werden müssen.

Über die Vergleichbarkeit von Noten an sich sind schon viele kontroverse Diskussionen geführt worden. Dass Empfehlungen für die weiterführende Schule nach der Herkunft der Schüler vergeben werden, ist nun wissenschaftlich bestätigt. Dies torpediert nicht nur in höchstem Maße die derzeitigen politischen Vorgaben den Wettbewerb im Bildungssystem zu erhöhen, schließlich kann bei solchen Verzerrungen von einem Wettbewerb nicht mehr gesprochen werden. Es zeigt auch, dass nicht nur "die Besten" in den Genuss einer potentiellen Bildungskarriere kommen, sondern vor allem die Privilegierten:

Der Sohn vom Chefarzt hat gute Chancen, eine Gymnasiumsempfehlung auch bei mittleren Leistungen zu bekommen. Die Tochter einer türkischen Putzfrau hat es schwer, auch wenn sie sehr gut ist.

Prof. Dr. Wilfried Bos, Universität Hamburg, Mitherausgeber der Studie

Ein weiteres Problem, das sich daraus ergibt, ist auch, dass es die deutsche Grundschule nicht schafft, ihre genuinen Aufgaben zu erfüllen, nämlich herkunftsbedingte Ungleichheiten abzuschwächen:

Die Grundschule als diejenige Einrichtung, die als einzige für die Förderung aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von sozialer Herkunft und Vorleistungen zuständig ist, hat eine Funktion, die gerade im Rahmen der derzeitigen Gesamtarchitektur des deutschen Schulsystems von herausragender Bedeutung ist.

Ergebnisse der IGLU-Studie

Die Schule als Schicksalsinstitution

Nach PISA verwundert die spezielle Misere der Grundschule nicht weiter, ist sie doch gemeinsam mit den Hauptschulen finanziell und somit auch in Personal- und Sachausstattung schlechter gestellt als alle anderen weiterführenden Schulen. Die Folgen sind immer die Gleichen: Zu wenig Förderung der Lernschwachen und zu wenig Förderung des leistungsstärkeren Individuums. IGLU bestätigt die Erkenntnis aus PISA, dass demjenigen, der nicht ins System passt, Entwicklungschancen genommen werden: Das System frisst seine Kinder:

Die Entwicklung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung scheint ein kumulativer Prozess zu sein, der lange vor der Grundschule beginnt und an den Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt wird.

Ergebnisse der PISA-Studie

So gesehen ist das deutsche Bildungssystem für junge Menschen nicht nur Chance auf eine Zukunft. Es ist vor allem ein Risikofaktor für "Risikokinder" (Winfried Bos), verbaut und verstärkt systematisch und ungerechtfertigterweise Schülern die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs, und das gerade denen, die diese Institution am dringendsten benötigen.

Gibt es einen IGLU-Schock?

Die im internationalen Vergleich zu geringe Abiturquote, die Forderung der PISA-Kommision, das dreigliedrige Schulsystem aufzubrechen, und das mit den Leistungen des Bildungssystems zusammenhängende Wirtschaftswachstum sollten zusammen mit den IGLU-Ergebnissen die Politik endlich dahingehend zum Handeln zwingen, dass tatsächlich Leistung und nicht Herkunft für den individuellen Erfolg des Einzelnen und die Gesellschaft in den Vordergrund gestellt werden.

Was die Reaktionen der Politik anbelangt, schienen die bisher gemachten Aussagen leider eine gewisse Kontinuität zu zeigen. Die Bildungsminister der B-Länder (CDU/CSU regiert) klopfen sich selbst auf die Schulter und feiern ihr gutes nationales Abschneiden bei der IGLU-Studie. Grund zu feiern gibt es aber wenig, herrscht doch international weiterhin Mittelmaß, und gerade die Union vertritt mit Vehemenz das gegliederte Schulsystem aus Haupt-, Realschule und Gymnasium, auch haben sie die schlechtesten Abiturquoten eines Jahrgangs zu verzeichnen.

Gleichwohl sind auch die Betroffenheitsadressen von den Regierungsparteien im Bund und der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) nicht angebracht. Alle Parteien haben diesen eigentlich skandalösen Zustand zu verantworten und jahrelang mitgetragen, dass Lehrer falsche Schulempfehlungen aussprechen. Gibt es vielleicht doch einen IGLU-Schock?