Ungleicher Tausch

Begleitet von massiver Kritik in der israelischen Öffentlichkeit ging am Donnerstag die erste Stufe des größten Gefangenenaustauschs im Nahostkonflikt der vergangenen 20 Jahre über die Bühne

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Unter Aufsicht des Bundesnachrichtendienstes übergaben israelische Sicherheitskräfte auf dem Militärflughafen Köln-Wahn und an den Grenzen zum Westjordanland, dem Gazastreifen und zum Libanon 429 Häftlinge sowie die Leichen von 60 getöteten Mitgliedern der Hisbollah. Im Gegenzug erhielten sie den obskuren Geschäftsmann Elhanan Tannenbaum und die sterblichen Überreste von drei Soldaten zurück. In einer zweiten Stufe will die Bundesregierung drei in Deutschland inhaftierte Terroristen freilassen, wenn dafür der seit 18 Jahren vermisste israelische Luftwaffen-Navigator Ron Arad übergeben wird.

Aus den Lautsprechern erklang das jüdische Glaubensbekenntnis Sch'ma Jisrael, als die in israelische Fahnen gehüllten Särge der Getöteten langsam ans andere Ende des Rollfelds der Luftwaffenbasis am Ben Gurion-Flughafen in Tel Aviv getragen wurden. Dort warteten bereits Premierministerin Golda Meir und die anderen Würdenträger des Staates, um den Opfern des Anschlags auf die israelische Olympia-Mannschaft die letzte Ehre zu erweisen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen, damals 1973.

Etwas mehr als 30 Jahre später hat sich diese Zeremonie am Donnerstag Abend am gleichen Ort wiederholt. Und wieder hatte die Choreographie einige Schönheitsfehler: Meir war einst vorgeworfen worden, sie habe sich nicht genug für ein glückliches Ende des Geiseldramas eingesetzt. Ariel Scharon sieht sich derweil dem Vorwurf ausgesetzt, einen zu hohen Preis gezahlt und dabei auch noch das falsche Signal ausgesandt zu haben - eine Erfahrung, die auch Premierminister Jitzhak Schamir machte, als er 1985 dem bisher größten Austausch in der Geschichte des Nahostkonflikts zustimmte: Damals wurden 1.150 Gefangene gegen drei israelische Soldaten eingetauscht.

"Es ist wichtig, dass jeder Israeli, egal ob tot oder lebendig, nach Hause gebracht wird - aber doch nicht um jeden Preis", sagte Avi, der Zeitungsverkäufer in der Jerusalemer Innenstadt am Donnerstag morgen - und fasste damit auch gleich den Inhalt seiner Ware zusammen: Ma'ariv, Jedioth Ahronoth, Haaretz - keine der drei landesweiten Zeitungen lässt ein gutes Haar an dem Deal, den sich Scharon und Bundeskanzler Gerhard Schröder gerne als Verhandlungserfolg auf die Fahnen schreiben würden.

"Zuviel gegeben und zu wenig bekommen"

Sowohl Ma'ariv als auch Jedioth Ahronoth vermuten innenpolitische Gründe hinter dem Deal, der zwar bereits seit drei Wochen vorgelegen hatte, aber von der Regierung erst bekannt gegeben worden war, als die Korruptionsaffäre um Scharon in der vergangenen Woche zu eskalieren begann: "Nach Wochen der negativen Schlagzeilen hat sich der Regierungschef wohl einen Moment der nationalen Einheit erhofft, aus dem er gestärkt hervor gehen würde," kommentiert Ma'ariv.

Der öffentliche Druck, die Entführten zurück zu holen, war in der Tat stark. Grund dafür war vor allem der Vater eines der entführten Soldaten. Seit dem Verschwinden seines Sohnes gab er unermüdlich Interviews, trat in Talkshows auf und sorgte dafür, dass das Schicksal der drei jungen Männer nicht in Vergessenheit geriet. "Es waren wohl auch die telegenen Tränen dieser Familie, die Scharons Haltung in dieser Frage beeinflusst haben", heißt es in Haaretz. "Denn der Premierminister ist auch ein ehemaliger General, der zutiefst in der militärischen Regel verwurzelt ist, dass ein Kamerad niemals zurück gelassen werden darf."

Und trotzdem: "Die Anerkennung für die geglückte Rückführung der Gekidnappten wird Scharon versagt bleiben, weil er dabei den Blick für die Relationen verloren hat: Er hat zuviel gegeben und zu wenig bekommen", schreibt Jedioth Ahronoth.

Dass es zu einem Gefangenenaustausch kommen würde, hatte sich schon seit mehreren Monaten angedeutet. Monatelang hatten Politiker über die Parteigrenzen hinweg heftig über das Für und Wider eines solchen Austausches gestritten. Doch obwohl keiner von ihnen damit gerechnet hat, dass der Handel am Ende so weitreichende Zugeständnisse beinhalten würde, hielten sich selbst die stärksten Kritiker in den vergangenen Tagen mit öffentlichen Äußerungen zurück: In Israel ist es üblich, dass Politiker eine einmal gefällte Sicherheitsentscheidung des Kabinetts klaglos hinnehmen - "auch wenn es manchmal schwer fällt," wie ein Abgeordneter der Arbeiterpartei im Privatgespräch einräumt: "Es könnte sein, dass hier eine Entscheidung getroffen worden ist, die wir noch bitter bereuen werden."

Doch die Funkstille währte nicht lang: Eine Reihe von Abgeordneten blieb am Abend der Staatszeremonie für die drei Soldaten fern. Auffallend war dabei die große Zahl an Parlamentariern der Koalitionsfraktionen, die während der Feier fehlten. "Ich war gegen diesen Austausch und werde deshalb nicht hingehen", wird der Likud-Abgeordnete Yuval Steinitz in HaAretz zitiert. Und Ariye Eldad von der Nationalen Union warf der Regierung vor, sie habe sich der Hisbollah ergeben und Scheich Nasrallah, den Führer der Organisation, zum "König von Gaza" und zum "Prinzen von Nablus" ernannt. Auf der Linken kritisierte Yossi Sarid, Scharon missbrauche das Ereignis für politische Zwecke: "Eine zurückhaltende militärische Zeremonie wäre angemessener gewesen als ein Massenauflauf von Politikern."

Die Kritik ist aber womöglich nur der Anfang: Denn in der zweiten Stufe des Deals werden sich Scharon und Schröder über den Willen der Familie des entführten Navigators Ron Arad hinweg setzen müssen: Die Bundesregierung will für ihn drei in Deutschland einsitzende Häftlinge freilassen. Außerdem wird die Hisbollah vermutlich die Überstellung aller in Israel inhaftierten Palästinenser fordern. Arads Familie möchte aber auf gar keinen Fall, dass für ihren Angehörigen Terroristen freigelassen werden. "Ron ist vermutlich tot", sagt seine Schwester Chen Arad. "So gerne wir ihn auch wieder bei uns hätten, müssen wir doch zuerst einmal an den Schutz der Lebenden denken. Niemand kann garantieren, dass diese Männer nicht wieder die Hand gegen Unschuldige erheben werden, wenn sie in Freiheit sind."

Mit dieser Begründung hatten auch Angehörige von Terroropfern bis zur letzten Minute versucht, die erste Stufe des Deals per Gerichtsbeschluss verhindern zu lassen. Doch der Oberste Gerichtshof lehnte die beiden Petitionen wenige Stunden vor Beginn der Operation "Himmelblau-Weiss" ab.

Stärkung der radikalen Kräfte?

Ha'aretz sorgt sich derweil um die Langzeitwirkung des Deals: "Dass Israel palästinensische Gefangene mit dem Umweg über die Hisbollah austauscht, zeigt den Palästinensern, dass Gewalt die einzige Sprache ist, die wir Israelis verstehen", schreibt Ze'ev Schiff.

Auch im Verteidigungsministerium herrscht Unmut über die Ausmaße der Aktion. Während dessen offizielle Sprecher ständig wiederholen, dass kein Preis zu hoch sein kann, um einen Kämpfer zurück zu bringen, sind die Strategen sauer: "Als Mahmut Abbas palästinensischer Premierminister wurde, haben wir darauf gedrängt, dass als Zeichen guten Willens wenigstens ein Teil der Gefangenen frei gelassen wird", berichtet ein Analyst des Ministeriums. "Jetzt müssen wir uns darauf einstellen, dass die radikalen Kräfte langfristig gestärkt worden sind."

Erste Anzeichen dafür gibt es schon jetzt: Der palästinensische Präsident Jassir Arafat dankte der Hisbollah dafür, dass sie sich für "ihre Brüder, die Palästinenser" eingesetzt habe. Außerdem hat der Austausch der Hisbollah auch im Libanon größeren Zuspruch verschafft. Nach der Landung der deutschen Luftwaffen-Maschine in Beirut zeigte das libanesische Fernsehen die Führung der Hisbollah Seite an Seite mit Regierung, Vertretern der Glaubensgruppen und der militärischen Führung des Landes. In Beirut und im Süden des Zedernstaates feierten Tausende Freudenfeste.

Die Führung der Organisation droht derweil bereits mit neuen Entführungen: Israelis an der Nordgrenze sollten sich in Acht nehmen, warnte der Hisbollah-nahe TV-Sender Al-Manar am Donnerstag. Zudem bejubelte die Station den schweren Anschlag auf einen Bus vor der Jerusalemer Residenz des Premierministers, bei dem die Selbstmordattentäterin am Donnerstag morgen zehn Menschen in den Tod riss. Zwar betonte Scharon wenig später, das Attentat habe nichts mit dem Austausch zu tun. Doch entkräften konnte er den Verdacht nicht: Dafür war der Anschlag zu bald, zu heftig, zu nah an Scharon dran. Chanan Naveh, Nachrichtenchef des staatlichen israelischen Rundfunks, sieht darin ein klares Signal: "Die Nachricht der Extremisten an die Regierung ist: Wir haben die Kontrolle."

Derweil mühen sich offizielle Stellen nach Kräften, den vierten Entführten zu ignorieren, so gut es geht: Während am Donnerstag Nachmittag eine Ehrengarde ihrer Einheit die Särge der drei jungen Soldaten an den Honoratioren vorbei trug, wurde an einem geheimen Ort der einzige lebend Heimgekehrte von Ermittlern des Inlandsgeheimdienstes vernommen. Sie sollen herausfinden, was Elhanan Tannenbaum im Libanon zu suchen hatte.

Gerne würde auch die Polizei mit ihm reden. Denn von dem obskuren Geschäftsmann erhofft sie sich Aufschlüsse über den Drogenhandel an der Nordgrenze, in den Tannenbaum schon vor seiner Zeit im Libanon verwickelt gewesen sein soll. Doch so genau scheint das die Regierung nicht wissen zu wollen: Sie hat schon vor seiner Rückkehr festgelegt, dass es weder Ermittlungen noch Anklage gegen ihn geben wird.