"Hinter dem Widerstand im Irak steht die einfache sunnitische Bevölkerung"

Ein Gespräch mit Robert Fisk, einem der renommiertesten Korrespondenten aus dem arabischen Raum und Kriegsberichterstatter für die britische Tageszeitung Independent

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Robert Fisk, gegenwärtig der Nahost-Korrespondent der britischen Zeitung Independent, nimmt kein Blatt vor den Mund. Gegenüber der Politik der Bush-Regierung und dem Irak-Krieg war er von vorneherein kritisch eingestellt. Im Gespräch führt er aus, warum er der Meinung ist, dass sich der Widerstand keineswegs nur aus Saddam-Anhängern speist. Fisk lebt seit über 20 Jahren im Nahen Osten und wohnt derzeit in Beirut. Er hat bereits über die Revolution im Iran, den Krieg zwischen Irak und Iran, die russische Besetzung von Afghanistan, dem ersten Golfkrieg, den Krieg in Bosnien, die Bombardierung Serbiens oder den Konflikt in Algerien geschrieben.

Vor einigen Tagen hat ein US-amerikanischer Divisionskommandeur im nördlich von Bagdad gelegenen Tikrit angekündigt, den Widerstand in Saddam Husseins Heimatstadt "innerhalb von sechs Monaten" niederzuschlagen. Halten Sie diese Prognose für realistisch?

Robert Fisk: Ganz im Gegenteil. Diese Stellungnahmen sind typisch für Vertreter einer Armee, die sich im Krieg mit Guerillakräften befindet. Vertreter dieser Truppe werden immer wieder behaupten, dass dieser Widerstand "beendet", "zerschlagen" oder "gebrochen" sei oder nur noch von "alten Hardlinern" unterstützt werde. Ich erinnere mich an diese Rhetorik in den siebziger Jahren, als ich aus Nordirland über den Konflikt zwischen der britischen Armee und der IRA berichtete, und ich erinnere mich, wie die Israelis solche Stellungnahmen immer wieder über die Hisbollah im Libanon verbreiten ließen. Nun hören wir die gleichen Sätze also von den US-Amerikanern in Irak. Manchmal hilft aber ein Blick in die Geschichte, denn selbst die Briten nutzten die gleiche Propaganda, nachdem sie 1917 in Irak einmarschierten. Das scheint mir ein Standard zu sein, der belegt, dass Militärs niemals etwas dazu lernen.

Sehen Sie dabei keine Unterschiede zwischen den hohen Militärs und den einfachen Soldaten vor Ort?

Robert Fisk: Wenn Sie heute den Irak bereisen und mit Soldaten oder mittleren Kommandeuren der Besatzungstruppen sprechen, dann werden diese Ihnen bereitwillig Auskunft über die Stimmungslage geben. Manche scherzen dabei, viele sind betreten. Alle werden Ihnen aber deutlich sagen, was sie denken. Wenn Sie dann aber zu einem Militär gehen, der mit Pressekontakten Erfahrung hat, so wird der Ihnen ein anderes Bild zu vermitteln versuchen.

Gesetzt der Fall also, der Widerstand nimmt zu und wir bekommen durch geschickte Pressearbeit nur ein unvollständiges Bild vermittelt: Wo liegen die Quellen dieses Widerstandes?

Robert Fisk: Ich bin nicht einmal sicher, ob die Widerstandsbewegung sich darüber im Klaren ist. Was Sie hier beachten müssen, ist die krasse Fehleinschätzung der US-amerikanischen Truppen gegenüber der irakischen Guerilla - und das von Beginn an. Die erste Reaktion bestand darin, den Widerstand dem alten Saddam-Regime anzulasten, weil diese Kräfte ihrem alten Führer angeblich wieder zur Macht verhelfen wollten. In diesem Kontext gab es eine ganze Reihe von Lügen. Die irakischen Soldaten, die beim Einmarsch angeblich vor der US-Armee ihre Waffen streckten und nach Hause gingen, stellen sich nun den Besatzern entgegen und sprengen sie tagtäglich in die Luft.

Dann wurden im Juli vergangenen Jahres die beiden Söhne Saddam Husseins, Udai und Kusai, sowie Mustafa, der Sohn Kusais, getötet. Unmittelbar danach trat in London Blair vor die Weltpresse, um einen "großen Tag für den Irak" zu verkünden. Dann wurde Saddam lebend gefangen und die ganze Leier ging von vorne los. Und erst vor wenigen Tagen ging in Bagdad die größte Bombe hoch, die von der Guerilla seit Beginn des Widerstandskampfes platziert werden konnte. Dabei wurde ein schwer gepanzertes Fahrzeug völlig zerstört. Wir reden hier also nicht mehr nur über kleine Rohrbomben oder selbstgebaute Raketenwerfer auf Eselskarren. Das war eindeutig ein qualitativer Schritt in der militärischen Eskalation.

Sprecher der US-Armee und der alliierten Truppen erklärten zuletzt, dass zunehmend ausländische Kämpfer nach Irak eindringen würden, um den Krieg am Laufen zu halten. Das irakische Volk indes wolle die Freiheit.

Robert Fisk: Natürlich beteiligen sich auch ausländische Kräfte am Guerillakampf, das ist relativ offensichtlich. Aber auch das Problem der US-Truppen liegt klar auf der Hand: Solange Saddam Hussein noch flüchtig war, konnten sie ihm den Widerstand anlasten. Spätestens aber nach der Festnahme hätte der Widerstand doch zusammenbrechen müssen, denn weswegen hätten seine Anhänger ohne ihr Idol weiterkämpfen sollen? Dann kamen US-Vertreter mit dem Hirngespinst an, dass Osama bin Laden hinter dem Widerstand stecke und dass Tausende von ausländischen islamischen Kämpfer in den Irak strömten, was geradezu lächerlich ist, denn niemand in Iran würde auf die Idee kommen, den irakischen Sunniten zur Hilfe zu kommen. Gleiches gilt für ähnliche Versionen über Saudi Arabien.

Wir haben diese Leute also nie gefunden, wir haben niemanden getroffen, mit niemandem gesprochen. All das war allein eine Erfindung von Donald Rumsfeld. Und das musste er. Anderenfalls hätte er nach dem vollständigen Zusammenbruch des Saddam-Regimes eingestehen müssen, dass einfache Iraker aus eigener Motivation hinter dem Widerstand stecken. Und das wäre ein großes Problem für die US-Regierung gewesen, denn es würde bedeutet, dass sich die Iraker offensichtlich nicht ganz so befreit fühlen, wie man es im Weißen Haus gerne darstellt.

Was halten Sie von der Bin-Laden-Version?

Robert Fisk: Wenn man sich die Reden von Osama bin Laden anhört, dann ruft er darin immer wieder zum Widerstand im Irak auf. Wahrscheinlich hätte er seine Leute auch gerne dort, ich glaube aber nicht, dass er seine Strukturen im Land selber aufbauen kann. Weil bin Laden also seine Absicht erklärte, griffen die US-Vertreter das freudig auf, um ihn verantwortlich zu machen. Die Wahrheit aber ist, dass hinter dem Widerstand derzeit vor allem die einfache sunnitische Bevölkerung steht. Die einfachen Soldaten der Besatzungstruppen wissen das sehr genau, ebenso die mittleren Kommandeure vor Ort. Weder das Pentagon noch das Weiße Haus wollen diese Realität aber bislang anerkennen.

Als renommierter Korrespondent sind Sie mit der Situation vor Ort bestens vertraut. Während die US-Truppen und ihre Alliierten nur gute Neuigkeiten über Demokratisierung und Wiederaufbau von Irak haben, weisen unabhängige Medienberichte zunehmend in eine andere Richtung. Wie steht es also um die soziale Situation der Menschen?

Robert Fisk: Ich denke, dass die Haltung der meisten Iraker recht einfach ist: Wenn Sie und Ihre Familie zwar in Sicherheit, aber in einer Diktatur leben, würden Sie Gesetzlosigkeit und persönliche Freiheit vorziehen? Würden Sie es vorziehen, mitten auf der Straße "Saddam ist ein Verbrecher" rufen zu können, ohne dafür in irgendwelchen dunklen Kerkern zu verschwinden, Sie zugleich in der Angst leben müssen, dass ihre Tochter auf dem Schulweg von marodierenden Banden entführt wird, dass Sie an der nächsten Straßenecke wegen ihres alten Wagens erschossen werden, während Sie 24 Stunden am Tag auf Strom verzichten müssen?

Für uns, die wir seit Jahrzehnten in stabilen demokratischen Regimes leben, ist die Vorstellung der politischen Repression unter Saddam Hussein so grauenhaft, dass wir die Frage vielleicht bejahen würden. Die irakische Bevölkerung aber lebt in einer sehr patriotischen Gesellschaft, in der sich die politischen Wertvorstellungen nicht so entwickelt haben wie in unseren Gesellschaften. Daher wird die Antwort oft anders ausfallen.

Was im Umkehrschluss doch heißt, dass die US-Propaganda von Freiheit und Demokratie im Irak auf fruchtlosen Boden fällt?

Robert Fisk: Ich möchte diese Frage mit einem Beispiel beantworten: Immer wenn wir von einer Reise zurückkommen, schließt mein irakischer Fahrer Mohammed nervös alle Autortüren ab, während er sich in alle Richtungen nach Bewaffneten umsieht. Wenn wir unterwegs sind, dann macht er oft große Umwege, weil er bestimmte Stadtteile umfahren möchte. Und das macht er nicht, weil er besonders paranoid ist. An einem Tag habe ich ihn deswegen aufgezogen. Ich sagte ihm, dass er sich genauso wie ich in einem besetzten Land befinde und dass wir die Risiken unserer Arbeit nun einmal akzeptieren müssten.

Als ich ihn in der vergangenen Woche das letzte Mal aufsuchte, fand ich seine Familie in Trauer, weil sein Bruder, ein Vater von zwei kleinen Kindern, wegen seines 17 Jahre alten Firmenwagens überfallen und mit mehreren Schüssen in die Brust ermordet wurde. Die ganze Familie droht nun im Elend zu versinken. Als ich mit der Frau des Toten und den Angehörigen sprach, sagten sie mir natürlich, dass sie sich die Situation vor dem Sturz des Hussein-Regimes wieder wünschten. Das bedeutet keinesfalls, dass sie Anhänger von Saddam sind. Aber ihre Haltung ist recht pragmatisch. Wäre Saddam noch an der Macht, würde ihr Ehemann, Bruder und Vater noch leben.

Britischer Einmarsch in Bagdad 1917

Ist diese gesamte Lage im Land mittel- und langfristig nicht der eigentliche Motor für den Widerstand gegen die Besatzer?

Robert Fisk: Wenn Sie heute durch den Irak reisen, werden Sie fast vor jeder Tankstelle kilometerlange Autoschlangen sehen. Und das in einem Land, das über die zweitgrößten Ölreserven weltweit verfügt und das derzeit Treibstoff importieren muss. Sie werden ein Land sehen, dass trotz dieses Reichtums keinen Strom und kein fließendes Wasser hat. Sie werden ein Land sehen, in dem in den Leichenhallen der Hauptstadt jeden Morgen zwanzig bis dreißig neue Mordopfer eingeliefert werden. Von einem Besuch des großen schiitischen Friedhofes in Nadschaf wird Ihnen wegen der Sicherheitslage abgeraten, weil dort bewaffnete Kriminelle lauern. Wenn Sie dann durch das Land reisen, werden Sie überall ausgebrannte US-Fahrzeuge sehen.

Die Situation ist zweifelsohne gravierend. Und sie wird von Tag zu Tag unübersichtlicher. Bei einem meiner Gespräche mit irakischen Kollegen haben wir uns über diese Lage unterhalten. Ich gab zu Bedenken, dass diese Umstände früher oder später zu einem Aufstand führen werden. Und ein irakischer Kollege entgegnete: "Absolut, das wird eine Revolution geben." Was nicht bedeutet, dass er dafür ist. Was für eine Revolution sollte das denn auch sein? Und unter welcher Führung?

Der Unmut über die soziale Lage im Land und die Wut über die leeren Versprechen der US-Regierung sind aber inzwischen so groß, dass es im Land immer mehr brodelt. Das Gefährlichste, was nun passieren kann, wäre eine Vereinigung der Schiiten und der Sunniten. Aber genau das wird geschehen: Die Kurden sind von den Besatzern enttäuscht, weil sie auf einen eigenen Staat gehofft hatten. Die Schiiten sind enttäuscht, weil ihnen die Wahlen verweigert werden. Und die Sunniten sind enttäuscht, weil sie die anderen beiden übervorteilt sehen. Alle zusammen könnten sich eher früher als später gegen die USA wenden.

Sehen Sie für eine solche Vereinigung denn ernsthafte Anzeichen?

Robert Fisk: Als die Briten 1917 nach Irak einmarschierten, war der Widerstand gegen sie der einzige Punkt, der die vielen ethnischen und religiösen Gruppen zusammengehalten hat. Im Westen wird derzeit viel über einen drohenden Bürgerkrieg im Irak spekuliert, wenn die Besatzung andauert. Ich sage Ihnen aber, dass die Besatzung das einzige Instanz ist, die die Einheit des Irak derzeit gewährleistet. Bei meinen Recherchen bin ich auf ein Flugblatt gestoßen, dass der Generalleutnant der Besatzungstruppen Stanley Maude 1917 an die Hauswände von Bagdad hat kleben lassen. Darauf heißt es: "Wir sind in Ihr Land nicht als Besatzer oder als Feinde gekommen, sondern als Befreier."