Grenzen der Wahrheitsfindung

Der Fall Motassadeq muss neu aufgerollt werden

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Der Bundesgerichtshof entschied am vergangenen Donnerstag, das Verfahren gegen Mounir El-Motassadeq an einen anderen Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts (OLG) zu verweisen. Motassadeq befindet sich noch in Haft, seine Anwälte kündigten an, seine Freilassung bald zu beantragen.

Wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3.600 Fällen sowie der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung musste sich Mounir El-Motassadeq in dem weltweit ersten Al-Qaida-Prozess im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September Ž01 vor dem Hamburger OLG verantworten. Die Bundesanwaltschaft warf ihm vor, Teil der so genannten Hamburger Zelle um Mohammed Atta gewesen zu sein und Atta und dessen Gefolgsleute bei der Vorbereitung der Attentate unterstützt zu haben. Er soll u.a. deren Abwesenheit in Hamburg verschleiert haben. Am 19. Februar 2003 wurde er deswegen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Während des Prozesses war es nicht möglich, maßgebliche Zeugen zu verhören. So wurde beispielsweise Ramzi Binalshibh, der sich selbst in einem Interview mit dem arabischen TV-Sender Al Dschasira als "Hauptorganisator der Anschläge" bezeichnete, im September 2002 von amerikanischen Geheimdienstleuten gefasst. Binalshib wurde verhört und gab zu Protokoll, dass außer den direkt Beteiligten in Hamburg niemand von diesen Plänen gewusst habe. In dem Hamburger Motassadeq-Prozess durfte weder Binalshibh als Zeuge vorgeladen werden, noch die Verhörprotokolle in das Verfahren eingeführt werden. Diese waren zwar dem Bundesinnenministerium zur Kenntnis zugeleitet worden, doch mit der Maßgabe seitens der USA, sie nicht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Bundesinnenminister Otto Schily fürchtete deshalb internationale Verwicklungen, falls diese Protokolle gegen den Willen der Bush-Regierung prozessrelevant würden. Also blieb der Aktendeckel zu, der Inhalt der Protokolle wurde erst im Rahmen des zweiten Al-Quaida-Prozesses gegen Abdelghani Mzoudi - zumindest auszugsweise - bekannt. Für die Anwälte Motassadeqs bedeutete die Verweigerung der USA, Binalshibh als Zeugen in dem Verfahren vernehmen zu dürfen, eine eklatante Verletzung des Rechts ihres Mandanten auf ein faires Verfahren. Sie legten deshalb Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) gegen das Urteil ein. Am 29. Januar 2003 befasste sich der BGH daraufhin das erste Mal mit dem Fall Motassadeq.

Bei dieser Anhörung vor dem BGH argumentierte der Anwalt Motassadeqs, Josef- Gräßle-Münscher, in Bezug auf die Existenz, bzw. Nicht-Existenz der so genannten Hamburger Terrorzelle, dass eine eigenständige Teilorganisation nur dann bestehe, wenn ihre Ziele sich von der Mutterorganisation unterscheiden oder sie mit Sonderaufgaben betraut sei. Beides sei in diesem Falle nicht gegeben. Seinem Mandanten sei das Recht auf einen fairen Prozess dadurch verweigert worden, dass ein wichtiger Zeuge dem Gericht nicht zur Verfügung gestanden hätte, so Gräßle-Münscher weiter. Die USA seien jedoch völkerrechtlich verpflichtet gewesen, Binalshibhs Zeugenvernehmung zuzulassen und die Protokolle seiner Verhöre durch US-Behörden dem Gericht zugänglich zu machen.

Laut des so genannten Montreal-Abkommens von '71, des Abkommens gegen Bombenattentate von '97 und der Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrates seien die beiden Staaten verpflichtet, sich gegenseitig in höchstem Maße zu unterstützen. "Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist hier so schwerwiegend verletzt, dass die Freisprechung des Angeklagten oder die Einstellung des Verfahrens geboten ist", so Gräßle-Münscher in seinem Plädoyer vor dem BGH.

Auch der Vorsitzende Richter Klaus Tolksdorf sprach am 29. Januar davon, dass eine vorsichtigere Beweisführung des OLG geboten gewesen wäre. Das ließ auf eine Entscheidung schließen, den Fall neu aufzurollen. Inzwischen wurde Mzoudi, der Angeklagte in dem zweiten Al-Quaida-Prozess vor dem Hamburger OLG freigesprochen. Die Bundesanwaltschaft hatte wegen derselben Vorwürfe wie gegen Motassadeq das Verfahren gegen ihn eingeleitet. Der Vorsitzende Richter Klaus Rühle vermochte der Argumentation der Bundesanwaltschaft nicht folgen und sprach Mzoudi frei. Das Gericht sei nicht von dessen Unschuld überzeugt, sondern es sei lediglich nicht gelungen, die Schuld zweifelsfrei nachzuweisen, so Rühle in seiner Urteilsbegründung. Die Kammer sei während des Prozesses "an die Grenzen der Wahrheitsfindung gestoßen", deshalb habe nach wie vor der rechtsstaatliche Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" zu gelten.

Am vergangenen Donnerstag entschied der BGH, das Hamburger OLG habe wesentliche Umstände bei der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt. So habe der in US-Gewahrsam befindliche Zeuge Ramzi Binalshibh in der Hauptverhandlung nicht vernommen und auch keine Vernehmungsprotokolle aus den USA eingeführt werden können. Der BGH verwies das Verfahren an einen anderen Strafsenat des Hanseatischen OLG. In der neu aufzurollenden Verhandlung müssen alle im ersten Prozess gehörten Zeugen erneut geladen und alle Indizien erneut bewertet werden. Zudem können neue Beweismittel in das Verfahren eingeführt werden. Noch steht nicht fest, wann diese Verhandlung los gehen wird, die Hamburger Justizbehörde äußerte jedoch der Presse gegenüber, für einen schnellen Prozessbeginn zu sorgen.

Derweil befindet sich Motassadeq weiterhin in Haft. Seine Anwälte kündigten an, schnellstmöglich einen Antrag auf Haftentlassung zu stellen, zunächst müssten sie allerdings die schriftliche Urteilsbegründung des BGH abwarten.