Wie ein Samurai an den Galgen

Im traditionsbewussten Japan wird die Todesstrafe wie eh und je vollzogen. Doch auch die Straftäter, die nicht in den Todeszellen sitzen, haben in Nippons Knästen nicht viel zu lachen

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Denkt man an die Todesstrafe, so fallen einem unwillkürlich die USA und China ein, die beiden Länder, die es in Sachen Exekution international zu Höchstleistungen bringen. Mit Shoko Asahara, dem ehemaligen Führer der japanischen Aum-Sekte, wurde jetzt in Japan erneut ein Todesurteil gefällt. Bei der Gelegenheit stellt man fest, dass es auch im "Land des Lächelns" Traditionen gibt, die man sich weit in die Vergangenheit wünscht.

Gegner der Todesstrafe bei einer Demonstration

Japan ist ein sicheres Land. Verglichen mit anderen Industriestaaten, ist die Verbrechensrate gering, die Zahl der Gefangenen ungewöhnlich niedrig: Auf 100.000 Einwohner kommen zirka 37 Häftlinge (Deutschland: 80, USA: 519; Zahlen: Human Rights Watch-Bericht von 1995) Mit rund 50 000 Gefangenen sind die Haftanstalten nur zu 70 Prozent ausgelastet, davon können Gefängnisleiter in Deutschland nur träumen. Auch sonst können sich die Statistiken sehen lassen: Es gibt kaum Ausbrüche oder gewaltsame Übergriffe von Gefangenen und so gut wie keine Revolten. Trotz der schönen Zahlen macht die Mauer des Schweigens, die Japans Strafsystem umgibt, misstrauisch - zu Recht.

Einblicke in die Haftanstalten Japans gibt es so gut wie nicht. Eine Delegation von Human Rights Watch (HRW) musste 1995 die Inspektion abbrechen, weil sich eine "ungesteuerte" Besichtigung als unmöglich herausstellte. Was sich hinter den Mauern abspielt, und hier gleichen sich die Berichte von Organisationen wie Amnesty International (AI) oder HRW, gelangt nur über Umwege an die Öffentlichkeit, denn der Strafvollzug wird weitgehend von Bestimmungen geleitet, die - ganz offiziell - geheim sind. Die Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen beruhen daher in erster Linie auf Aussagen von Strafgefangenen, vor allem ausländischen, die sich allerdings erst nach ihrer Entlassung gesprächig zeigen, im Gegensatz zu den noch Einsitzenden, die Bestrafung fürchten. Und die Befragten erzählen von rigiden Regeln, von Misshandlungen und drakonischen Strafen. In dem Bericht von 1995 kommt HRW zu dem Schluss, dass Strafgefangene in Japan vom Moment der Festnahme bis zu ihrer Entlassung "routinemäßigen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind".

Völlige Isolation

Wenn der Horror russischer Gefängnisse in schmutzigen, TBC-verseuchten Zellen besteht, liegt der Schrecken japanischer Zellen genau im Gegenteil: in sauberen, fast leeren Zellen, in denen alles stets penibel an seinem definierten Platz zu sein hat - den Bewohner eingeschlossen. Während sich in russischen Knästen die Gefangenen bis unter die Decke stapeln, leben die meisten ihrer japanischen Leidensgenossen in völliger Isolation in Einzelzellen und sie dürfen weder mit ihren Mitgefangenen sprechen noch ihnen oder den Aufsehern in die Augen blicken.

Der japanische Strafvollzug ist Freiheitsentzug im wahrsten Sinne des Wortes: Der Gefangene hat sich einem bürokratischen Vorschriftenkatalog unterzuordnen, der keinen persönlichen Entscheidungsspielraum mehr lässt: Geregelt ist danach nicht nur die Zahl der Briefe, die ein Häftling schreiben darf (nur wenige und nur an enge Blutsverwandte), wann und ob er die Toilette benutzen, wie er zu laufen, sich zu bewegen, zu schlafen und zu sitzen hat. Oft dürften Gefangene sich nicht einmal bei Hitze den Schweiß von der Stirn wischen oder bei Schnupfen die Nase putzen. Schon bei den geringsten Anlässen drohen empfindliche Strafen. Häftlinge müssen dann beispielsweise für Stunden oder sogar Tage unbeweglich in derselben Haltung in ihrer Zelle verharren. Sie werden in so genannte Schutzzellen gesteckt, und in eine Zwangsjacke Modell Nippon gesteckt: Ein 15 Zentimeter breites Stück Schweinsleder, das eng wie ein Korsett um den Bauch geschnürt wird, die Hände sind in Lederschlaufen daran befestigt, die linke auf den Rücken gebunden, die rechte auf den Bauch.

Das Grauen kennt aber noch eine Steigerung, nämlich die Haft in den japanischen Todeszellen: Sie ist bestimmt vom endlosen Warten auf den Tod, der jeden Tag völlig überraschend an die Zellentür klopfen kann. Vor allem gegen Jahresende wächst die Angst: In dieser Zeit lässt die Regierung gern noch ein paar Urteile vollstrecken. Doch manchen gelingt es auch unter solchen Umständen alt zu werden: HRW berichtet von Tomiyama Tsuneki, der mehr als 36 Jahre auf den Henker wartete und schließlich mit 86 Jahren an Nierenversagen starb.

Vorgeschriebene Sitzhaltung

Laut AI saßen 2003 mindestens 118 Menschen in japanischen Todeszellen, bei 50 hatte der oberste Gerichtshof des Landes die Strafe bereits bestätigt, damit ist das Urteil rechtskräftig und sie können jederzeit hingerichtet werden. Zum Tode Verurteilte dürfen nicht arbeiten, sie verbringen einen großen Teil des Tages in einer vorgeschriebenen Sitzhaltung in der Mitte ihrer Einzelzelle - selbst hinlegen ist verboten. Im Gegensatz zu den USA finden in Japan Hinrichtungen völlig heimlich statt, so dass die Anwälte keine Möglichkeit haben, um Begnadigung und Aussetzung der Exekution zu ersuchen. Der Betroffene wird meist erst ein bis zwei Stunden informiert, dass seine Zeit gekommen ist. Auch die Angehörigen werden nicht verständigt, sie werden nur irgendwann aufgefordert, die Leiche abzuholen - so diskret lassen sich Hinrichtungen abwickeln.

Die Exekution erfolgt auf persönliche Anordnung des Justizministers und muss dann innerhalb von fünf Tagen erfolgen. Vollstreckt wird durch Erhängen, in einem der sieben Gefängnisse Japans, die mit einem Galgen ausgestattet sind. Die Verurteilten kommen zunächst in einen Altarraum, wo sie beten oder - ganz im Stil eines Samurai-Kriegers vor dem Harakiri - ein traditionelles Todesgedicht verfassen dürfen. Der Galgen steht meist direkt neben dem Altarraum hinter einem Vorhang. Es gibt keine hauptberuflichen Henker, das Hängen gehört zu den Pflichten der Gefängniswärter. Auch sie werden nur kurzfristig über die Hinrichtung informiert und erhalten nach Vollzug eine bescheidene Sonderzulage, die bar ausgezahlt wird.

Von 1945 bis 2002 wurden in Japan 625 Menschen hingerichtet. Seit 1993 finden jährlich nur zwischen zwei und sieben Exekutionen statt. Kritiker glauben, dass Tokio kein Jahr ohne Exekution vergehen lassen will, um das Strafprinzip nicht in Frage zu stellen. Die Regierung beruft sich immer wieder auf Umfragen, in denen sich bis zu 80 Prozent der Japaner für die Todesstrafe aussprechen. Doch die Bevölkerung wird von der Presse nur wenig über das Thema informiert und die internationale Kritik erschöpft sich in allgemeinen Appellen. In regelmäßigen Abständen fordert z. B. die Europäische Union Japan zur Abschaffung der Todesstrafe auf. Der Europarat hat sogar schon einmal eine internationale Delegation zur Untersuchung der Todesstrafe nach Japan entsandt. Die japanischen Behörden hat das allerdings nur wenig beeindruckt und die Delegation ganz einfach an der Gefängnispforte abgewiesen.

Ob auch Shoko Asahara, der mit bürgerlichem Namen Chizuo Matsumoto heißt, der gebremste Fall am Strick droht, wird noch verhandelt. Seine Anwälte sind erst einmal in Berufung gegangen.