Frauenwürde mitten im Krieg

Tschetschenien: Eine Überlebensstrategie gegen die Brutalität, die Demütigungen und den Missbrauch

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Tschetschenien, das sind rauchende Schlote, Gebäuderuinen und Witwen", fasst Alexandra Schrödl vom Münchner Arbeitskreis Tschetschenien ihre Eindrücke nach mehreren Besuchen in der Kaukasusrepublik zusammen. Nach zehn Jahren Bomben, Tod und Elend ist der Kriegszustand zum Alltag geworden. Tschetschenien ist ein Ort der Rechtlosigkeit, über den es fast keine Berichterstattung mehr gibt. Wo es zum Leben nicht mehr reicht, bleibt die nackte Existenz. Wie sieht der Kampf ums Überleben aus?

Die Arbeitslosigkeit liegt bei ungefähr 95 Prozent, produziert wird so gut wie nichts mehr. Glücklich, wer einen Garten hat, sonst wird es schwierig, denn in Tschetschenien gelten für die meisten Waren Weltmarktpreise - alles ist fast so teuer wie bei uns. Seit geraumer Zeit werden wieder Renten ausbezahlt, im Durchschnitt 20 Euro, das ist schon ein Fortschritt. Glücklich also, wer Großeltern hat. Glücklich auch, wer Verwandte in den Lagern in Inguschetien hat und von dort etwas aus den Lebensmittelspenden humanitärer Organisationen erhält (noch aktiv: das Dänische Flüchtlingskomitee, UNHCR).

Sonst heißt es: durchschlagen. Manche sammeln das Aluminium von Bomben, um es zu verkaufen. Weiterer Verkaufsschlager ist selbst gebranntes Benzin. Denn zirka 15 Meter unter Grosny gibt es Erdöl und viele Leute betreiben eine eigene "Bohrstation" in ihrem Garten, wo sie unter lebensgefährlichen Umständen "Erdöl fördern", es abkochen und für 6 Rubel pro Liter als Billigbenzin verkaufen - guter Kunde ist das russische Militär.

Die Bürde des täglichen Lebens lastet vor allem auf den Frauen. Die meisten von ihnen sind Witwen, sie müssen ihre Kinder und vielleicht noch ein paar Verwandte durchbringen. Die wenigen Männer im wehrfähigen Alter verbergen sich meist in den Häusern, anstrengende Arbeiten wie Wasserholen können sie nicht erledigen, denn keiner kann garantieren, dass sie die Kontrollen an den berüchtigten Blockposten überleben - zu viele Männer sind dort schon verschwunden. Die Frauen müssen einem unerträglichen Druck standhalten. Sie müssen fürs Überleben sorgen, ständig organisieren und improvisieren. Die Männer verschwinden, werden getötet, die Kinder sind traumatisiert, nur die Frauen müssen funktionieren. Aber es gibt für sie keine Strukturen. Sie haben keinen Ort, wo sie sich austauschen können und Hilfe bekommen.

Alexandra Schrödl

Um diesen Frauen einen Ort der Begegnung zu verschaffen, hat Alexandra zusammen mit Lipkhan Basajewa, einer Mitarbeiterin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, vor zwei Jahren die Idee gehabt, eine Zentrum für Frauen zu gründen:

Im Juli 2002 fanden wir ein Haus. Es liegt zentral in der Innenstadt. Es ist groß und ausbaufähig. Der erste Stock war zwar zerstört, doch 35 Leute haben bei der Renovierung mit angepackt und nach drei Monaten war es weitgehend fertig. Wichtig war daran die psychologische Bedeutung, die der Bau hatte: Ein Haus wurde wieder aufgerichtet, ein Haus, in dem Leben entsteht. Wir haben das Zentrum dann Frauenwürde genannt (russ. Zenskoje Dostoinstvo), weil es dort um Menschenwürde geht, darum sie aufrecht zu erhalten als Überlebensstrategie gegen die Brutalität, die Demütigungen und den Missbrauch, den viele Frauen erfahren haben.

Was bietet das Frauenzentrum? Die Stammbesetzung des Projekts besteht aus der Psychologin Zulai, der Frauenärztin Medina, der Juristin Malika und der Leiterin Laila. Sie bieten psychologische Betreuung als Einzel- oder Gruppentherapie. Sie geben juristischen Rat, etwa, wenn eine Frau Witwenrente beantragen möchte, von den Behörden aber abgewiesen wurde, weil der dafür erforderliche Trauschein fehlt, weil er bei einer Bombardierung zerstört wurde. Die Frauenärztin nimmt gynäkologische Untersuchungen vor. Sie informiert über Säuglingspflege und gibt aber auch wichtige Tipps für den Alltag, wie man sich z. B. in den hygienisch schwierigen Umständen vor Salmonellen schützen kann etc. Diese Hilfe ist gratis für die Frauen, von denen die meisten kein Geld für einen Anwalt oder Arztbesuch haben.

Die Mitarbeiterinnen des Zentrums dokumentieren ihre Arbeit sorgfältig und schreiben regelmäßig Berichte. Das ist wichtig, weil es über Tschetschenien und die Verhältnisse dort keine offiziellen Statistiken mehr gibt. Die Kaukasusrepublik ist ein blinder Fleck auf der Landkarte humanitärer Hilfe: Es ist wahrscheinlich das einzige Land der Welt, in dem keine der großen humanitären Organisationen mehr tätig ist.

"Die Ergebnisse, die die Untersuchungen der Frauen bringen, sind erschütternd", meint Alexandra.

Neben den Folgen von Gewalteinwirkung, die festgestellt werden, leiden alle Frauen unter Anämie. Viele haben Nierenschäden, weil sie über Monate in kalten Kellern gelebt haben. Die schlechte Ernährung und die schlimmen hygienischen Bedingungen haben Krankheiten wieder aufleben lassen, die es dort lange nicht gab: Bauchtyphus, Cholera, Gelbsucht etc. Jedes zweite Kind, das auf die Welt kommt, weist Missbildungen auf. Weil die Mütter so schlecht ernährt sind, entwickeln sich die Organe der Embryonen nicht. Wegen der hohen radioaktiven Belastung in Grosny und Umgebung sind Schilddrüsenerkrankungen weit verbreitet.

Die Resonanz auf das Frauenzentrum ist überwältigend: Rund tausend Frauen haben das Zentrum schon besucht, mittlerweile ist es in ganz Tschetschenien bekannt. Neben den konkreten Hilfestellungen, die die Frauen dort bekommen, ist das Zentrum auch als Kommunikationszentrum wichtig, als Ort, an dem sie der Beschränkung auf den Familienkreis kurzfristig entgehen können und als Ort des Wohlbefindens. Viele Frauen wurden dort wahrscheinlich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gefragt, wie es ihnen geht.

In der kurzen Zeit seines Bestehens hat sich Zenskoje Dostoinstvo zum Ausgangspunkt zahlreicher Aktivitäten entwickelt. Es wurde eine kleine Bibliothek angelegt und Näh- und Handarbeitskurse eingerichtet. Geplant sind jetzt Computer- und Sprachkurse. Außerdem wurde auf dem Grundstück des Zentrums ein kleines Landwirtschaftsprojekt begonnen. Dort stehen fünf Kühe, die täglich gemolken werden. Die Milch ist eine kleine Calciumspritze für die Kinder eines Hilfsprojekts, das im Erdgeschoß des Hauses untergebracht ist sowie für die Kinder der Mütter, die das Zentrum besuchen, denn 87 Prozent der tschetschenischen Kinder sind mangelernährt. Um den Vitaminmangel von Frauen in der Schwangerschaft und dessen verheerende Wirkung zu bekämpfen, soll noch in diesem Jahr ein Versuchsprojekt starten, bei dem 50 Frauen vom Beginn ihrer Schwangerschaft an mit Vitaminen versorgt werden.

Bei so viel Aktivität und Erfolg muss das Zentrum eigentlich ein Dorn im Auge des russischen Militärs sein. Doch Übergriffe oder Schutzgelderpressungen hat es bis jetzt offenbar noch nicht gegeben. Allerdings kommen die Militärs gelegentlich vorbei und machen Ausweiskontrollen. Zur Sicherheit des Projektes und der Beteiligten trägt vermutlich bei, dass es offiziell registriert und genehmigt wurde. Und natürlich gibt auch die internationale Bekanntheit einen gewissen Schutz.

Das Zentrum Frauenwürde zeigt, wie effizient kleine Projekte sein können.

Das Feld unseres Projektes ist unendlich, wir machen Stück für Stück weiter. Mit jeder Spende - und das Projekt finanziert sich nur über Spenden - überlegen wir, was wir mit dem Geld machen können und was die Leute brauchen. Letztes Mal haben wir z. B. zwei Sportgeräte gekauft. Das klingt jetzt vielleicht absurd. Aber es gibt für die tschetschenischen Frauen keine Möglichkeit Sport zu treiben. Joggen geht schon wegen der vielen Minen nicht. Und gerade für diese Frauen ist es wichtig, etwas Neues zu entdecken und auch wieder etwas Lebensfreude zu entwickeln.

Die Frage, was passiert, wenn das Zentrum zerstört würde, kann die engagierte Projektleiterin nicht aus der Fassung bringen. "Für jeden Tag, den die Frauen dort von dem Zentrum profitieren können, war es das wert. Das war unsere Prämisse - von Anfang an."

Das Projekt freut sich im Übrigen immer über Spenden an das Interkulturelle Forum e. V., Kontonummer: 88 57 700 bei der Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 700 20 500)