Terroristen als Aufbauhelfer

Die Bilanz von UNO-Verwaltung und NATO-Kommando im Kosovo

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Zwischen 24 und 32 Tote und über 600 Verletzte - das ist die vorläufige Bilanz der albanischen Terroroffensive im Kosovo seit dem 17. März 2004. Es ist der höchste Blutzoll in der Provinz, seit die NATO-Truppen die Provinz im Juni 1999 besetzt haben, um dort - angeblich - die Menschenrechte zu sichern. Warum ist die humanitäre Intervention so furchtbar gescheitert?

Fünf Jahre nach Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien ist das Kosovo weitgehend ethnisch rein. Unter den Augen von zunächst über 40 000, zur Zeit etwa 20 000 KFOR-Besatzungssoldaten wurden Serben, Roma und andere Nicht-Albaner vertrieben. Die Zahl der Verjagten gab das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge im Frühjahr 2004 mit 230 000 an, die Regierung in Belgrad geht von mindestens 350 000 aus. Zwischen 70 000 und 120 000 Angehörige von Minderheiten harren in der Provinz aus. Die serbische Restbevölkerung lebt vor allem im Nordteil von Mitrovica sowie in von der NATO geschützten Ghettos und Enklaven.

"In den letzten vier Jahren sind trotz des Protektorats 2500 Serben und andere Nicht-Albaner ums Leben gekommen", klagte der serbische Ministerpräsident Zoran Zivkovic, ein durchaus NATO-freundlicher Politiker, beim Staatsbesuch in Berlin Ende November 2003. Dieser "death-toll" ist pro Kopf der Bevölkerung fast so hoch wie in den Palästinensergebieten sei Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000.

Bis zum November 2002 waren von den Vertriebenen laut Statistik der UN-Verwaltung UNMIK gerade 5.800 Menschen in das Kosovo zurückgekehrt. Die Zahl der rückkehrenden Serben war im Jahr 2002 mit 924 und im Jahr 2003 mit etwa 700 sogar rückläufig. Den Grund für das Zögern der Verjagten findet man in einer ausführlichen Expertise von Amnesty International über die Lage im Kosovo, publiziert Ende April 2003 :

Ihre Furcht wird wieder verstärkt durch die fortgesetzte Straflosigkeit sowohl für diejenigen, die die Verletzungen und den Mißbrauch der Menschenrechte ... während der Zeit der bewaffneten Konflikte verübten, als auch für die Verantwortlichen der Verstöße, die sich nach Kriegsende fortgesetzt haben.

UNMIK und KFOR hätten bei der "Errichtung einer geschützten und sicheren Umgebung, in der Flüchtlinge und Vertriebene sicher nach Hause zurückkehren können", versagt, und damit eines der Hauptziele der UN-Resolution 1244 verfehlt.

Typisch der Ablauf der Ermittlungen im Falle des Bombenattentats auf den Nis-Expressbus am 16. Februar 2001 in der Nähe von Podujevo- mit elf Toten, darunter ein zweijähriges Kind, und 40 zum Teil schwer Verletzten einer der brutalsten Anschlag in der Provinz seit Juli 1999. Vier Kosovo-Albaner wurden in der Folge von der UNMIK-Polizei festgenommen. Drei ließ man schnell wieder frei, aber der vierte, Florim Ejupi, blieb in Untersuchungshaft, weil man seine DNA-Spuren an einer Zigarettenkippe in der Nähe des Tatorts festgestellt hatte. Doch ohne jede richterliche Anordnung verbrachten ihn US-Soldaten aus dem Gefängnis in Pristina auf ihren Stützpunkt Camp Bondsteel, und von dort konnte er entkommen. UNMIK-Kommissar Stu Kellock, dem die Ermittlungen bis dahin unterstanden hatten, äußerte sein Unverständnis:

Meiner Meinung nach ist er nicht geflohen. Ich dachte, ein Gefangener könne aus Bondsteel nicht einfach herauslaufen. Wahrscheinlich ist er zu Befragungen oder so etwas woanders hingebracht worden. Ich kann das immer noch nicht verstehen.

War das Verschwinden des Verdächtigen also ein großes Unglück? UN-Berichten zufolge arbeitete Ejupi längere Zeit für den amerikanischen Geheimdienst CIA. Der Prozess wäre deshalb wohl eine ernsthafte Blamage geworden. Auch Amnesty International formulierte

schwere Bedenken über das Versagen, die Verantwortlichen für das Podujevo Bus-Attentat vor Gericht zu bringen. Amnesty International ist betroffen, daß die UNMIK-Polizei in ihrer Fähigkeit zu einer gründlichen und unparteiischen Untersuchung eingeschränkt wurde, und es gab Angaben von UNMIK-Polizeioffizieren, daß sie bei ihren Untersuchungen durch US-amerikanische KFOR-Angehörige behindert wurden.

Straffreiheit für die Mörder

Amnesty bilanziert im April 2003: "Bis heute ist keinem Albaner wegen Kriegsverbrechen gegen Minderheiten der Prozeß gemacht worden."

Das höchste Urteil wegen eines Tötungsdelikts an einem Serben bekam ein Deutscher: Roland Bartetzko, ein UCK-Söldner, wurde für einen Mord, vierfachen Mordversuch und weitere terroristische Aktivitäten am 10. Mai 2002 zu 23 Jahren Haft verurteilt.

Die spektakulären Ermittlungen und Anklagen gegen Albaner wegen Kriegsverbrechen, die seit Sommer 2003 verstärkt durch die Presse gehen, betreffen ausschließlich Straftaten, die sie an anderen Albanern begangen haben. So wurden vier Mitglieder der UCK am 16. Juli 2003 von einem internationalen Gericht in Pristina unter Vorsitz eines britischen Richters zu Haftstrafen zwischen fünf und 17 Jahren wegen der Ermordung von Kollaborateuren verurteilt. Der bekannteste der Täter war Rrustem Mustafa, ein ehemaliger Gebietskommandant der Terrororganisation und späterer Kommandeur des Kosovo-Schutzkorps. Nach dem Richterspruch kam es zu zahlreichen Protestdemonstrationen, der kosovarische Premier Rexhepi "richtete gar eine unverhüllte Drohung an die Justiz. Jene, die mit Leib und Seele für Kosovos Unabhängigkeit gekämpft hätten, ließen sich nicht disziplinieren, sagte er."(NZZ, 19./20.7.2003)

Schon seit Jahren umlaufende Gerüchten wegen Haager Verfahren gegen die UCK-Führer Hashim Thaci und Agim Ceku haben sich bis dato nicht bestätigt. Beide üben nach wie vor wichtige Funktionen im Kosovo aus: Thaci ist Vorsitzender der zweitgrößten Albanerpartei PDK, die mit dem gerade erwähnten Rexhepi den Premierminister stellt. Der frühere UCK-Oberkommandeur Ceku wurde mit Zustimmung der Besatzungsmacht zum Leiter des Kosovo-Schutzkorps (TMK), einer Mischung aus Hilfspolizei und Nationalgarde. Statt den vielfältigen Hinweisen auf die Verbrechen der beiden nachzugehen, schützen UNMIK und KFOR das Duo bei jeder Gelegenheit. Thaci etwa war am 30. Juni 2003 am Flughafen von Budapest festgenommen worden - die ungarische Polizei hatte sich dabei auf einen internationalen Haftbefehl Jugoslawiens aus dem Jahre 1993 berufen. Der unfreiwillige Aufenthalt dauerte freilich nur einige Stunden: Der deutsche UNMIK-Gouverneur Michael Steiner kontaktierte höchstpersönlich den ungarischen Außenminister, um die Entlassung Thacis durchzusetzen.

Ceku war gleich zwei Mal kurzfristig hinter Gittern, und zwar am 24. Oktober 2003 in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana und am 29. Februar 2004 in Budapest, und auch er kam beide Male dank einer Intervention der UNMIK wieder frei. "Da es sich um eine Angelegenheit innerhalb meiner Jurisdiktion handelt, ist er von serbischen Behörden erlassene Haftbefehl ungültig", sagte der Steiner-Nachfolger Harri Holkeri zur Begründung.

Die weitere Perspektive

Mehr und mehr sieht es danach aus, als ob die Terroristen für ihr Verhalten nicht nur durch allgemeine Straflosigkeit, sondern auch durch das Erreichen ihres Hauptziels belohnt würden: der endgültigen Abspaltung des Kosovo von Jugoslawien (bzw., so der neue Staatsname, von Serbien-Montenegro). Während Steiner mit seiner Formel "Standard vor Status" zumindest vor einer völkerrechtlichen Finalisierung seiner sezessionistischen Verwaltungsspraxis zurückschreckte, haben sich mittlerweile eine ganze Phalanx vor allem US-amerikanischer Politiker für eine Lösung der Status-Frage nach dem Geschmack der Albaner eingesetzt. Eine entsprechende Position vertreten der jetzige und der frühere Vorsitzende des Ausschusses für internationale Beziehungen des US-Repräsentantenhauses, der Demokrat Henry Hyde und der Republikaner Tom Lantos, der ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidat Robert Dole, der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg und der Vorsitzende des Senatsausschusses für Internationale Beziehungen, Joseph Biden.

Dass "selbst moderate albanische Politiker ... inzwischen offen von einem neuen Waffengang reden" (Spiegel 27/2003), wirkt nicht als Argument gegen, sondern für ihre Ansprüche. "Die Albaner würden nichts außer ihrer Unabhängigkeit akzeptieren" - warnte die einflußreiche International Crisis Group im Herbst 2003. Soll heißen: Besser, wir geben ihnen freiwillig, was sie sich ansonsten mit Gewalt holen. Eine bemerkenswerte Variante des so genannten Kampfes gegen den Terrorismus.

Diese Woche erscheint Jürgen Elsässers neues Buch "Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozeß", 335 Seiten, 18 Euro (Verlag Kai Homilius, Berlin -). Der Autor befindet sich von 22. März bis 9. April auf einer Lesereise. Infos und Termine unter www.juergen-elsaesser.de