Eskalation im Nahen Osten unvermeidbar

Der Mord an dem Hamas-Gründer Scheich Ahmed Jassin ruft international scharfe Kritik hervor. Der PLO-Vertreter im Gespräch mit Telepolis: "Scharon hat der Gewalt Tür und Tor geöffnet"

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Der Mordanschlag der israelischen Armee gegen den Hamas-Gründer Scheich Ahmed Jassin (Hamas-Gründer bei Raketenangriff in Gaza getötet) ist international auf Ablehnung gestoßen. Nachdem am Montagmorgen drei Raketen den umstrittenen Politiker töteten, waren die Reaktionen von politischen Akteuren in der Region und in Europa einhellig: Die Folgen des von Ministerpräsident Ariel Scharon persönlich angeordneten Politmordes werden unumkehrbar sein. Die deutlichsten Worte fand ausgerechnet der ehemalige israelische Justizminister Jossi Beilin. "Die Büchse der Pandora ist geöffne", sagte der Oppositionspolitiker. Auch UN-Generalsekretär Kofi Annan verurteilte die gezielte Ermordung.

Aus den an Israel angrenzenden Staaten wurden spontane Proteste gemeldet. Wie in den Palästinensergebieten strömten auch im Libanon Tausende Menschen auf die Straßen, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Die symbolreichste Geste wurde am Rande des Geschehens aus Ägypten vermeldet. Unter dem Eindruck spontaner antiisraelischer Proteste in Kairo sagte die US-nahe Regierung unter Husni Mubarak eine Parlamentarierreise nach Israel ab. Die Abgeordneten sollten den 25. Jahrestag des Abkommens von Camp David in Jerusalem feiern. Es hätte ein Zeichen des friedlichen Miteinanders werden sollen.

Auch Palästinenserpräsident Arafat im Visier?

Der außenpolitische Beauftragte der Europäischen Union, Javier Solana, verurteilte die Tötung in einer Mitteilung besonders scharf. Es seien schlechte nachrichten für en Friedensprozess. Bei den Außenministern der Europäischen Union traf der Mordanschlag, im israelischen Militärjargon war von einer "gezielten Liquidation" die Rede, auf scharfe Kritik. Eine "gezielte Tötung" verletzt das internationale Recht und ist "nicht akzeptabel und gerechtfertigt", erklärte der britische Außenminister. Er glaube nicht, so Straw weiter, dass Israel davon profitiere, wenn ein alter Mann in einem Rollstuhl Ziel eines Angriffs wird. Der französische Außenminister Dominique Villepin sah durch das israelische Vorgehen "die Spirale der Gewalt" angetrieben. Ähnlich äußerte sich auch die Außenminister von Deutschland, Dänemark und weiteren EU-Staaten. Die US-Regierung beschränkte sich darauf, beide Seiten zur Zurückhaltung zu mahnen. Eine Verurteilung des Mordes an Ahmed Jassin wurde bewusst vermieden. Washington, so Sicherheitsberaterin Rice, sei in die israelischen Pläne nicht eingeweiht gewesen.

Does the White House condemn the attack?

MR. McCLELLAN: I think that, again, what we have said is that Israel has a right to defend herself, but all parties, including Israel, needs to keep in mind the consequences of their actions. Again, Hamas is a terrorist organization. Sheik Yassin is someone who was personally involved in terrorism. That's very well-documented.

Der Sprecher des Weißen Hauses, Scott McClellan, gestern auf der Pressekonferenz

Auf Anfrage von Telepolis bestätigte der Chef der "Generalvertretung Palästinas" in Deutschland, Abdullah Franghi, die erhöhte Sicherheitsstufe im Hauptquartier der PLO in Ramallah. In dem nach einer vorherigen Militäroperation der israelischen Armee größtenteils zerstörten Gebäudekomplex steht PLO-Chef Yassier Arafat unter israelischem Hausarrest. Es sei nie klar, "gegen wen und wann der israelische Ministerpräsident einen Mordbefehl erteilt", sagte Frangi am Montag. Aus diesem Grund seien nach dem Mord an dem Hamas-Gründer unverzüglich Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden, "um das Leben des Präsidenten zu schützen". Ein politischer Berater von Ariel Scharon hatte Arafat kurz nach der Ermordung des Hamas-Oberhauptes als "gefährlicher als Jassin" bezeichnet.

Nach Frangis Ansicht ist Ariel Scharon "offen dazu übergegangen, einen Aufstand in den palästinensischen Gebieten zu provozieren, der nur schwer aufzuhalten sein wird". Eine solche Eskalation würde es der Regierung Scharon ermöglichen, der Autonomiebehörde vorzuwerfen, sie sei zur Kontrolle der Lage nicht fähig.

Scharon hat der Gewalt im Nahen Osten nun Tür und Tor geöffnet. Dieser Anschlag war ein schwerwiegender Fehler. Ich fürchte, dass blutige Tage auf uns zukommen werden.

Abdullah Frangi, 22. März 2004

Zweck der Mordanschläge umstritten

Unklarheit herrschte nach dem Tod von Jassin, der als geistiges Oberhaupt der Hamas in der gesamten arabischen Welt Ansehen genoss, über die Strategie auf israelischer Seite. Vermeldet wurde lediglich, dass Ariel Scharon die Militäroperation von einer Ranch in der Wüste Negev aus verfolgt habe. Offiziell begründete die israelische Regierung die Raketenattacke auf den Hamas-Gründer mit dessen "führender Rolle bei der Organisierung von Selbstmordattentaten". Zuletzt war die Hamas sogar dazu übergegangen, Frauen und Kinder für die Anschläge einzusetzen.

Mehrere internationale Korrespondenten mutmaßten, die israelische Armeespitze wolle schlichtweg Stärke zeigen. Vor dem Rückzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen und Teilen der Westbank habe so ein deutliches Zeichen an die bewaffneten Widerstandorganisationen gesandt werden sollen. Vermieden werden sollte wohl um jeden Preis eine Situation wie vor vier Jahren: Als sich die israelische Armee damals aus dem Südlibanon zurückzog, wurde das von der dort aktiven Hisbollah als Sieg gefeiert. Das hatte den radikalen Teilen des palästinensischen Widerstandes nachhaltig Auftrieb gegeben.

Der politische Nutzen der jüngsten Ereignisse liegt zweifelsohne bei den Hardlinern der israelischen Regierung. Und die jüngsten Bilder aus der arabischen Welt zeigen: Zu feiern wird es in den kommenden Wochen und Monaten nichts mehr geben.