So, das war's dann wohl. Heute sterben wir

Das Gegenstück zu Michael Moores rechthaberischem "Bowling for Columbine" - In Gus Van Sants "Elephant" scheint das Massaker genauso alltäglich zu sein wie der Tratsch in der Schulkantine davor

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Sie kommen aus dem Herzen der Gesellschaft: Bürgerlich sozialisierte Mittelstandskids, die plötzlich eine Knarre in der Hand haben und ihre Mitschüler und Lehrer im Dutzend niedermähen. Das Schul-Massaker von Littleton stand Pate für Gus Van Sants neuen, meisterlichen Film "Elephant". Das Low-Budget-Werk, das bei den Filmfestspielen von Cannes 2003 die beiden Hauptpreise gewann, macht vor allem das Unergründliche solcher Taten zum Thema - ein Film über Orientierungslosigkeit und das Gegenstück zu Michael Moores rechthaberischem "Bowling for Columbine", der nur Antworten kennt, keine Fragen.

"Die Sonne war schuld!" - an diesen zentralen Satz aus Albert Camus' "Der Fremde" fühlt man sich irgendwann erinnert: In der allerersten Einstellung dieses Films sieht man einen blauen Himmel, mit ein paar dünnen Wolken. Leicht ausgebleichte Farben. Unscharfe, gleichwohl genaue Bilder, denen etwas Träumerisches und zugleich Neugieriges anhaftet, und die von fern an Modephotographien erinnern. Perspektivwechsel, schräg, von oben und dann von unten sieht man Ansichten der nur scheinbar friedlichen, wohlgeordneten Landschaft amerikanischer Suburbs. Väter und Söhne. Ein Auto fährt Schlangenlinien, trifft um ein Haar einen Fahrradfahrer, streift andere Autos. "Dad, I am driving. Get out of the car." Ein Sohn fährt seinen schwer alkoholisierten Vater nach Hause. Ein anderer Teenager verzögert seinen Schulweg durch Photoaufnahmen auf dem Schul-Campus: "Ich arbeite an einer Serie von Zufallsprodukten." erzählt er. Ein früher Morgen in Amerika.

"Elephant" ist der neueste Film von Gus Van Sant. Nach konventionelleren Hollywood-Arbeiten wie "Good Will Hunting" und "Finding Forrester" kehrt er hier wieder zu seinen Anfängen als unabhängiger Filmemacher zurück, zum Geist einfühlsamer Außenseiter-Darstellungen wie "My own private Idaho" und gesellschaftskritischen Satiren wie "To die for". Mit seinem neuen Film gewann er im letzten Sommer gleich doppelt: Bei den Filmfestspielen von Cannes wurde er mit der "Goldenen Palme" für den besten Film und - als erster Film überhaupt - zugleich mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet.

Mäandern im Zeitraum

Zu recht, denn "Elephant" ist ein großer Wurf: Geschildert wird ein Vormittag im Leben des Highschoolschülers John. Zunächst streift die Kamera durch die zugleich sonnendurchfluteten wie öden Gänge der Schule. Nur wenige Menschen sind zu sehen. Sie wirken klein und nebensächlich, die Räume selbst sind das Entscheidende, die Leere und Einsamkeit, die ihre Bilder ausstrahlen. Vor und zurück wandert der Erzählfluss in der Zeitkontinuität, wandert mitunter auch das Kamerabild selbst. Mäandern im Zeitraum. Skizzen zu einer Geometrie des Schicksals. Man kennt Kameramann Harris Savides bisher nur durch wenige zumeist unbekannte Filme, immerhin David Finchers "The Game" ist allerdings darunter - auch dies ein Film, der die Realität durch ihre Subjektivierung aus den Angeln hebt.

Mal sieht man John, dann das Paar Nathan und Carrie, dann ein dickes Brillenmädchen in der Bibliothek, den Sportscrack, Lehrer, drei aufgestylte Freundinnen. Korridore, lange Wege. Dazu erklingt Beethoven. Diese musikalische Referenz schafft nicht allein eine elegische, sozusagen götternahe und schicksalsträchtige Stimmung, die auf alles Spätere vorbereitet, sie lässt zugleich auch an jenen anderen Film denken, der mit diesem mehr zu tun hat, als es auf den ersten Blick scheint: Stanley Kubricks "Clockwort Orange". "Elephant" arbeitet formal mit kleinen, sehr unscheinbaren Verzögerungen, mit Zeitlupen, und Geräuschen: Plötzlich wird es laut. Oder ganz still. Die Subjektivität der Wahrnehmung der Einzelnen ist das Bestimmende.

So ist es nur scheinbar belanglos, oder gar ein ästhetischer Narzissmus des Regisseurs, wenn eine Szene im Laufe des Films dreimal aus drei verschiedenen Perspektiven gezeigt wird. Wenn es in der Dunkelkammer zwischendurch auch einmal wirklich dunkel ist. Wenn eine Szene rückwärts läuft. Denn die Pubertät kennt keine Zeit. Oder eine andere, als unsere. "Elephant" ist zuallererst ein Film über Wahrnehmungen. In seiner sogartigen Erzählweise webt er ein dichtes Netz aus Fragmenten, aus Bildern und Tönen, das sich im Hirn des Zuschauers zum Bewusstseinsteppich fügt; immer neue Versuche, den Kern der Geschichte einzukreisen. Wie dies allein stilistisch geschieht, ist bereits großartig.

Nicht minder bewundernswert ist, wie Van Sants Porträt dieser Gruppe von Highschool-Kids die Verträumtheit der Pubertät einfängt, beiläufige Bilder für Tristesse und Orientierungslosigkeit findet, und dabei doch aufs Moralisieren verzichtet. Eher erinnert sein schweifender Blick an die Filme von Larry Clark ("Kids"), der ja auch seinen jugendlichen Charakteren näher ist, als erwachsenen Wertebewahrern. Zwar sind es schöne junge Menschen, die hier nahezu schwerelos und sanft durch die Korridore driften, und "Elephant" sieht über weite Strecken wie ein Popvideo aus, doch fehlt van Sants Impressionismus alle Glätte der typischen Hollywood-Konvention. In seiner Mischung aus gnadenloser Neugier und Liebe zu seinen Figuren, der Direktheit mit der er sich ihnen nähert und einfach registriert, mit ätzender Nüchternheit Verhältnisse aufzeichnet und sie gerade durch seine untergründige Schärfe nicht verrät, erinnert der Film auch an Todd Solondz, der Ähnliches in "Welcome to the Dollhouse", "Happiness" und "Storytelling" praktizierte.

Man sieht manche der Schüler auch zuhause. Dort sitzen sie vor dem Fernseher, glotzen eine Doku über Nazi-Propaganda, kaufen im Internet ein Gewehr, kiffen, spielen Videogames und am Klavier "Für Elise" - manchmal alles gleichzeitig. Der Fernseher steckt in einem spießigen Holzkasten, den man bei uns "Gelsenkirchner Barock" nennen würde und darauf liegen recht dekorativ ein paar kleine Kürbisse. Es ist eine langsame, schleichende Eskalation, von der van Sant erzählt.

"So, das war's dann wohl. Heute sterben wir."

"Elephant" mündet in einen Amoklauf, der offenkundig vom Massaker an der Columbine-Highschool im Städtchen Littleton inspiriert ist. Irgendwann sagen zwei der Kids, die man zuvor, wie die anderen schon eine Weile beobachtet hat: "So, das war's dann wohl. Heute sterben wir." "Elephant" erzählt von der Beliebigkeit dieses Sterbens, und von seiner Belanglosigkeit. Manchmal weiß der Zuschauer gar nicht, ob die beiden Jungs, die mit Pumpguns in die Schule gehen, ihre Opfer töten oder nicht. Wen ihre Schüsse treffen. Es könnte jeder sein. Und auch die Täter könnten alle sein.

Der Massenmord scheint also genauso alltäglich zu sein, wie der Tratsch in der Schulkantine davor. Gelassen erschießen die beiden ihre Mitschüler und Lehrer. Was erzählt uns das? Es erzählt, dass Erklärungsversuche auch scheitern können. Weil sie das Leben manchmal nicht erklären lässt. Weil es sich den vorbestimmten Verläufen einen bürgerlichen Trauerspiels a la Hollywood mit Katharsis-Garantie verweigert. Es erzählt aber nicht, dass man mit dem Denken und Erklären aufhören soll. Aber dass man jedenfalls genau hingucken muss, bevor man damit anfangen kann. Oder alle Antworten dienen dann nur der inneren Selbstberuhigung, aber nicht dem Gegenstand. Es erzählt jedenfalls dass Leben und Sterben kein Drama sind - auch wenn zumindest manche Theaterkritiker das noch so gern hätten.

Ein pädagogisch wertvoller Beitrag ist das also nicht. Er bietet keine "Lösungen". Und es stimmt schon: "Elephant" geht nie "hinter" die Ereignisse. Er bleibt auf ihnen drauf, und führt uns dahin, das auch zu tun. Wenn wir nicht wegschauen wollen. Es war immerhin Oscar Wilde, der einmal gesagt hat, nur oberflächliche Menschen achteten nicht auf den äußeren Schein. In diesem, in Wildes Sinn ist "Elephant" zutiefst amoralisch, ein "verantwortungsloser Film", wie die US-Fachzeitschrift Variety schrieb. Gerade darin, nicht anderen Verantwortung zuzuschreiben oder gar selbst zu übernehmen, besteht aber der moralische Impetus und die Provokation des Films. Seine Verantwortung also.

Sehr frappant ist der Unterschied zwischen diesem kleinen, feinen Film und Michael Moores grellem, letztlich sehr halbstarken "Bowling for Columbine", der vor lauter großmäuligen Theorien über Teenagerpsychen, Gesellschaft, Waffen, Aggression, Historie und, ja, vor allem natürlich über "Amerika", den Mund gar nicht mehr zubekommen konnte, und es sich im Zweifel immer zu einfach machte. Und auch vor der Dreistigkeit nicht zurückschreckte, Ratschläge zu geben: "Kauft keine Waffen! Verbietet den freien Waffenverkauf!" Als ob das eigentliche Problem gelöst wäre, wenn man in den USA keine Waffen mehr im Kaufhaus kaufen könnte, und Charlton Heston Pazifist würde. Als ob die tollen deutschen Waffengesetze "Erfurt" verhindert hätten. Als ob irgendetwas, was wir über den dortigen Todesschützen wissen, erklären würde, wie es dazu kam, dass er zum Mörder wurde.

Die Gewalt in "Elephant" kennt keine derartigen Regeln und Erklärungen, folgt keinen dramaturgischen Mustern. Gerade das macht sie bedrohlich, gerade das macht sie echt. Sie nimmt den Menschen nichts, außer dem Leben, gibt auch nichts, außer den Tod. Kein Voyeurismus, kein Genuss, kein Witz, aber auch keine Empörung, kein Zorn, kein Moralismus.

"Have fun, man!"

Damit unterscheidet sich der Film auch von Ben Coccios leider allzu unbekannten "Zero Day", der sich ganz auf die Täter einlässt, und aus ihrer Perspektive ein Highschool-Massaker darstellt. Denn auch dieser bietet Erklärungen an, sieht das Leben seiner Figuren nur aus der Perspektive dessen, was noch kommen wird: des Massenmords. Erklärungen gibt es nur in einer Kunst, die sich der Konventionalität verkauft hat. Die Poesie des Lebens ist, auch wenn es um den Tod geht, die der Beiläufigkeit und des Surrealen. "Have fun, man!" - es ist glaubwürdig, dass es genau solche Sätze sind, die eine Ahnung davon geben, was Todesschützen wie jenen von Littleton durch den Kopf geht.

Warum heißt der Film, wie er heißt? Die Erklärungen für den Titel sind umstritten, es gibt deren mindestens zwei. Eine lautet, dies sei eine Hommage an Alan Clarkes gleichnamiges TV-Drama über den Nordirland-Konflikt. Dieser, heißt es da, sei "wie ein Elefant im Wohnzimmer" - er kann nicht übersehen werden, und ist doch unfassbar. Die zweite, plausiblere Erklärung erinnert an das buddhistische Gleichnis von den drei Blinden, die einen Elefanten treffen. Der eine fasst den Rüssel an, der nächste ein Bein, der dritte den Schwanz - und keiner entdeckt das wahre Aussehen des Tiers.

Ein Film ohne Psychologie und Begründungen. Dafür voller Ruhe und Gelassenheit. Die Personen des Films lernen gar nichts. Wie schön! Van Sants verstörender wie intensiver Film will nichts erklären, sondern hinsehen. Schuld sucht er nicht, vermeidet Zuweisung von Verantwortung. Dafür erhalten wir eine Ahnung davon, dass sich manche Vorgänge einfachen Erklärungen, vielleicht sogar der Erklärung überhaupt, verweigern. Eine Ahnung, dass Camus' fremder Held womöglich recht haben könnte, und dass an manchen Morden wirklich nur die Sonne Schuld trägt. Oder die Wolken. Ein Meisterwerk!