Die Metamorphose des Narziss

Zum 100. Geburtstag Salvatore Dalis

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Salvador Dali, der 1989 verstarb, wäre am 11. Mai. 2004 hundert Jahre alt geworden. Die bei Schirmer und Mosel erschienene Autobiographie "Das geheime Leben des Salvador Dali" beweist, dass Dali ein bedeutender Schriftsteller war. Das Werk ist mehr als eine Lebensbeichte mit vielen bisher nur aus zweiter Hand bekannten Anekdoten. Vielmehr hat Dali hier auch seine visuellen Obsessionen in beeindruckend anschauliche literarische Bilder und Metaphern ausformuliert, um sein eigenwilliges Programm der Metamorphose surrealistischer Objekte ästhetisch und philosophisch zu begründen. Hier einige Bruckstücke eines mythomanischen Panoramas.

Salvador Dalis berühmtes programmatisches Werk ist die "Metamorphose des Narziss" aus dem Jahre 1937. Es hängt heute in der Londoner Tate Gallery. Zeit seines Lebens hat sich Dali, wie aus seiner Autobiographie hervorgeht, mit der Figur der Doublierung, des Doubles und der Wiederholung beschäftigt. Mit ihr hat er nicht nur ein autobiographisches, sondern auch ein kosmologisches Modell behandelt, das in der Geburt und dem Tod seines zwillingshaften Bruders erstmals zum Thema wurde.

Mein Bruder starb mit sieben Jahren an einer Gehirnhautentzündung, drei Jahre vor meiner Geburt. Sein Tod stürzte meine Eltern in tiefe Verzweiflung; sie fanden Trost nur dadurch, dass ich zur Welt kam. Mein Bruder und ich ähnelten einander wie ein Ei dem anderen, aber wir dachten verschieden. Wie ich besaß er die unverkennbare Gesichtsmorphologie eines Genies. Er zeigte Symptome beängstigender Frühreife, doch sein Blick war verschleiert von der Melancholie, die für unüberwindliche Intelligenz kennzeichnend ist. Ich dagegen war viel weniger intelligent, dafür reflektierte ich alles. Ich sollte der Prototyp par Excellence des phänomenal zurückgebliebenen 'Polymorph-Perversen' werden, der sich die Erinnerung an die erogenen Paradiese des Säuglings fast ganz bewahrt hat. Mit hemmungsloser, egoistischer Gier griff ich nach der Lust, und beim geringsten Anlass wurde ich gefährlich. Eines Abends kratzte ich meinem Kindermädchen mit einer Sicherheitsnadel brutal in die Wange, obwohl ich sie liebte -, bloß weil der Laden, zu dem sie mich mitnahm, um Zuckerzwiebeln zu kaufen, um die ich gebettelt hatte, schon geschlossen war. Mit anderen Worten, ich war lebensfähig. Mein Bruder war wahrscheinlich eine erste Ausgabe meiner selbst, nur zu sehr im Absoluten konzipiert.

Kritisch-paranoische Methode und mythologisches Panorama

Dali hat damit nicht nur ein Stück Psychoanalyse und Écriture automatique für seine Zwecke bearbeitet, er hat mit seiner kritisch-paranoischen Methode das mythologische Panorama der Traumwelt des Narziss in philosophischer Weise ausgedeutet, um die Möglichkeiten einer Grenzüberschreitung der subjektivistischen Ästhetik des modernen Menschen in ein neues Zeitalter eines jesuitischen Katholizismus in der Epoche des ausgehenden frankistischen Faschismus zu sondieren: .

Wir wissen heute, dass Form immer das Produkt eines inquisitorischen Prozesses der Materie ist - die spezifische Reaktion von Materie, die dem schrecklichen Zwang des Raumes unterworfen wird, der sie von allen Seiten würgt, presst und ausquetscht und die Beulen hervortreibt, die sich aus ihrem Leben bis exakt zu den Grenzen der strengen Konturen ihrer Reaktionseigenart entladen. Wie oft verlöscht Materie, die einen zu absoluten Impuls aufweist; während ein anderes Stück Materie, das nur zu tun versucht, was es kann, und besser der Lust angepasst ist, sich angesichts des tyrannischen Drucks des Raumes durch individuelles Schrumpfen zu gestalten, eine eigenständige Lebensform zu erfinden vermag. (....) Gerade wie Männer mit einseitigem, einsinnigen Geist vom Feuer der Heiligen Inquisition verbrannt wurden, so fanden vielgestaltige, anarchistische Geister - eben deshalb - im Licht dieser Flammen die Blüte ihrer individuellsten spirituellen Morphologie. (...) Mit äußerster Beweglichkeit reflektierte ich alle Bewusstseinsgegenstände. Alles modifizierte mich, nichts änderte mich; ich war weich, feige und elastisch; der kolloide Umraum meines Geistes sollte in der einzigartigen inquisitorischen Strenge des spanischen Denkens die endgültige Form der blutigen, jesuitischen und verzweigten Achate meines merkwürdigen Genies finden. Meine Eltern tauften mich auf denselben Namen wie meinen Bruder - Salvador: Ich war, wie mein Name andeutet, für nichts Geringeres bestimmt, als die Malerei aus der Leere der modernen Kunst zu erretten, und dies in der abscheulichen Epoche automatischer und zweitklassiger Katastrophen, in der wir das Unglück und die Ehre haben zu leben. Wenn ich in die Vergangenheit blicke, erscheinen mir Wesen wie Raffael als wahre Götter; ich bin vielleicht heute der einzige, der weiß, warum es fortan unmöglich sein wird, sich dem Glanz der raffaelesken Gestalten auch nur entfernt noch einmal anzunähern.

Das Double als ästhetisches und transästhetisches Problem

Dali hat früh erkannt, dass im Phänomen des Doubles ein spezifisches ästhetisches, aber auch transästhetisches Problem vorliegt: Denn jede Wiederholung beschränkt und entgrenzt zugleich den Vorstellungswert einer ersten Figur durch eine zweite, ihr ähnliche Gestalt. Einerseits wird die konkrete Existenz eines vermeintlichen Originals durch Replikation und Variation relativiert und eingeklammert. Die Doublierung leitet das imaginative Spiel einer rein ästhetischen Konkurrenz ein und setzt es auch wiederum durch die faktische Setzung eines doppelten Daseins außer Kraft.

In der spiegelförmigen Doublierung der Figuren ist auch der phantasmatische Kampf um den Eigenwert, um den ausschließlichen Anspruch auf den Eigensinn der Existenz angelegt. Darin liegt die transästhetische Verstörung von Doublierungen und Spiegelungseffekten, wie sie etwa Claude Lévi-Strauss in "Mythos und Bedeutung" hervorgehoben oder Jacques Lacan, der Dali persönlich begegnete, in der frühen Genese des ausgehenden infantilen Selbstbewusstseins ausgemacht hat: Die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild erweist sich zugleich als erster synthetischer Entwurf, als früher visueller Vorschein der zukünftigen Vollkommenheit eines komplett erfahrbaren Körpers für das noch am Boden krabbelnde Krümelmonster, für das senso-motorisch zersplitterte Kleinkind.

Ich werde später noch einige Denkmaschinen, die ich erfand, erklären und genau beschreiben. Eine davon basiert auf der Idee des wunderbaren 'essbaren Napoleon', worin ich jene beiden wesentliche Phantome meiner frühen Kindheit - nutritiv-orales Delirium und blendenden geistigen Imperialismus - materiell verwirklichte.

Das vom Kind oder Jungen bejubelte Bild gilt nicht als Abbild, nicht als bloße Bestätigung einer vorhandenen Identität, sondern als virtuelle Konstitution einer neuen Identität. Bejubelt wird in dem Bild das eigene Ich als ein Anderer, in dessen plastische Rollen-Existenz das Gegenüber gerade erst eintritt.

Dalis malerisches Werk hält den entscheidenden Moment der Transformation und des Übergangs fest, überträgt dabei die Erfahrung der Photographie, der Versammlung von kontingenten raumzeitlichen Momenten und Spuren in eine mediale Transfiguration, eine Verkunstung des Augenblicks wie auf Widerruf.

Schnecken, Spiralen, Gemmen und Nüsse in Malerei, Photographie und Film

Von Photographie und Film schaut Dali für sein bildnerisches Werk die Erfahrung ab, das Flüchtige zu fixieren und es genüsslich in seine mikrologischen Elemente zu zerlegen. Nicht umsonst hat er die Effekte von Halsmanns bewegtem Dali-Porträt wiederum malerisch festgehalten. Dabei basiert das moderne Kunstwerk nicht nur auf einer modernen technischen Reproduktion, die zu jener reproduktiv-visuellen Glätte eines dynamisierten Spiegels führt. Dali hält zugleich jene durchaus taktile Tiefe fest, das massenhaft vermittelte Echo des Motorischen, in dem das Sprengpotential einer neuen sozialen Praxis des öffentlichen Raumes steckt. Dabei ist Dalis morphologischer Moluskenblick in der Lage, die berühmten Köpfe seiner Zeit und früherer Epochen auf eine naturhafte Konstruktionsformel zu bringen, wie man sie nur von Hannibal Lecter erwartet hätte:

Freuds Schädel ist eine Schnecke! Sein Gehirn hat die Form einer Spirale - mit einer Nadel herauszuziehen. (...) Raffaels Schädel ist exakt das Gegenteil von Freuds; er ist achteckig wie eine Gemme, und sein Hirn gleicht Adern im Stein. Leonardos Schädel gleicht jenen Nüssen, die man knackt: das heißt, er sieht eher nach einem eigentlichen Gehirn aus.

Die spekulative Virtualität eines morphologischen Echos

Salvador Dalis programmatisches Gemälde "Métamorphose de Narcisse" zeigt die anamorphotische Transformation des Narziss in einem mit Spiegelstrukturen operierenden Vexierbild: In der für den Bildbetrachter linken Bildhälfte hockt Narziss als glühender, gesichts- und individualitätsloser Körper über seinem Spiegelbild im Wasser, die vorgeneigte Stirn auf das linke Knie gestützt, die linke Hand unterhalb der spiegelglatten Wasseroberfläche; rechts wird das Motiv in seiner äußerlichen Gesamtgestalt wiederholt, mutiert dabei aber zu etwas anderem: zur Kunst, zum Detail einer skulptural versteinerten rechten Hand, die - gefühllos - ein Zwiebel-Ei festhält, aus dem eine Narzisse entspringt.

Die Skulptur der Hand rechts im Bild ist das visuelle Double, durch das die linke Figur selbst zum schwankenden, sichtbar-unsichtbaren Vexierbild wird: Der Blick des Betrachters oszilliert zwischem Ganzem und Teil, Körper und Hand, Leben und Artefakt, Ego und Alter. Die spekulative Virtualität des gesamten Bildes wird nur erfahrbar, wenn man die Tiefenperspektive, Nähe und Ferne der Gegenstände als "Morphologisches Echo" mitliest, wie Dali ein anderes Gemälde aus jener Zeit (1936) genannt hat. Auch dort transformiert Dali figural ähnliche Elemente durch den perspektivischen Kontext in verschiedenartige, surreal verabsolutierte Objekte, deren stofflicher Realismus zum bühnenwirksamen Phantasma wird - durch ihre Position auf dem anamorphotisch illuminierten Tisch des Begehrens am unendlichen Strand des Unbewussten. Mit dem Echo wird zugleich die temporale Dimension der Wahrnehmung und Lektüre des Bildraums markiert.

Die Metamorphose des Narziss (Bild: Tate Gallery, London)

New York, deine enthaupteten Schaufensterpuppen schlafen schon und vergießen all ihr 'ewiges Blut', das wie aus dem 'Operationsspringbrunnen der Reklame’ in die von elektrischem Licht strahlenden, von 'lethargischem Surrealismus’ angesteckten Warenauslagen fließt. Und auf der Fifth Avenue hat Harpo Marx gerade die Zündschnüre angesteckt, die aus den Hintern einer explosiven, mit Dynamit ausgestopften Giraffenherde hervorlugen. Sie laufen in alle Richtungen, verursachen Panik und zwingen jeden, sich Hals über Kopf im Innern der Geschäfte in Sicherheit zu bringen. Man hat zwar gerade die städtische Feuerwehr alarmiert, aber es ist bereits zu spät.

Alle Zitate sind aus der 1942 erschienenen und gerade zum 100. Geburtstag bei Schirmer und Mosel neu aufgelegten Autobiographie Salvador Dali: Das geheime Leben des Salvador Dali, übersetzt von Ralf Schiebler, 704 Seiten, 130 Illustrationen, ISBN 3-8296-0133-6, 39,80 Euro