Reise von der Hölle in den Himmel - und zurück

Michael Moores "Fahrenheit 9/11" im Wettbewerb von Cannes, sowie ein paar andere Versuche, politisches Kino zu drehen

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Der Wettbewerb von Cannes hat seinen Zenit erreicht. Durchweg starke Filme werden gezeigt, in der Regel ein Kino der extremem Blicke gegenüber den lauen Pamphletfilmen, die dieses Jahr auf der Berlinale liefen. Doch auch hier stehen oft Versuche im Zentrum, neue Möglichkeiten für politisches Kino auszuloten. Für den größten Hype sorgte der bekannteste von ihnen: Das langerwartete Kino-Pamphlet "Fahrenheit 9/11", Michael Moores Beitrag zum US-Wahlkampf

Bilder: www.michaelmoore.com

Wenn jeder Film seinen Schöpfer spiegelt, dann hat es Michael Moore wirklich nicht leicht. Oder man muss sich eben wieder das angewöhnen, was man im Kino gerade tagtäglich verlernt: hinter die Oberfläche sehen, dem dicken Schein nicht trauen, den Blick scharf stellen. Den Blick scharf zu stellen, das bedeutet im Fall Michael Moores vor allem, hinter das Offensichtliche zu blicken. Man kann noch so sehr über die "Moorerisierung des Dokumentarfilms" wettern, der eitlen Selbstdarstellung des dicken Regisseurs noch so skeptisch gegenüber stehen und überzeugt sein, dass dieser den spektakulären Bruch mit Disney passend drei Tage vor Cannes vor allem als Werbetrick inszeniert hat - dem unmittelbaren Eindruck des Films und seinen Argumenten tut das keinen Abbruch. Und das ist das Wichtigste.

Zum Thema Selbstdarstellung ist gleich zu bemerken: So viel Moore auch präsent war im Vorfeld von Cannes und auf den Diskussionsveranstaltungen an der Croisette, so deutlich dezenter als bisher geht er mit seiner Person in "Fahrenheit 9/11" um. Nur zwei, dreimal sieht man - "Hi, I am Michael Moore" - als großen Investigator Kongressabgeordnete anquatschen, nur gelegentlich ist er mit im Bild, mit Dackelblick, wenn irgendwelche netten Menschen traurige Geschichten erzählen - unser aller Stellvertreter auf Erden.

Ansonsten zeigt er nicht sich selbst, sondern Verhältnisse: Mit "Fahrenheit 9/11" hat Moore eine Dokumentation gedreht, die ein Pamphlet ist. Thema: Die vier Jahre unter George W. Bush. Moral: Die USA werden regiert von einer Clique von Reichen, die noch reicher werden wollen. Eine Schande. Und, spätestens seit dem Irak-Krieg, vielleicht noch Schlimmeres. Nichts wirklich Neues also, für Moore und seine Fans schon gar nicht. Aber das schreibt sich zu leicht. Moores Film lebt nicht von den großen Thesen, sondern von einzelnen konkreten Eindrücken. Vieles aus den vergangenen vier Jahren wird verquickt, Zusammenhänge dabei ebenso deutlich wie die grundsätzliche ethische Korruption des Regimes.

Der Anfang ist wunderbar: Man sieht sie alle vor der Kamera, bevor sie in ihre amtliche Rolle schlüpfen und das Regierungshandeln rechtfertigen, beim Schminken, Kämmen, Grimassieren: Wolfowitz, Cheney, Rice, Rumsfeld, Ashcroft und immer wieder Bush. Ready for the Show. Noch einmal erinnert man sich an die Wahlnacht 2000, an Gores Scheintriumph und den Morgen danach, an dem Amerika doch einen anderen Präsident hatte. Moore zeigt viele Einzeleindrücke, bildet aus ihnen ein Mosaik: Die Abweisung der Wähler-Proteste, die Nichtzulassung vor allem schwarzer Wähler. Demonstrationen und faule Eier auf Bushs Limousine bei der Inauguration. Vor dem 11.9.2001 war Bush 42% seiner Regierungszeit in Ferien.

Dann 9/11, der Tag, der die Welt veränderte, und der womöglich das komplette Jahrhundert so mitprägt, wie der Juni vor 90 Jahren das letzte. Moore zeigt reines Schwarz, lässt nur die Geräusche zu. Auch das hatte man schon gesehen, in Alain Brigands Kompilationsfilm 11'09''01 SEPTEMBER 11 hatte der Mexikaner Alejandro González Iñárritu fast das Gleiche getan.

"They are no good targets in Afghanistan. Let's bomb Iraq!"

Zunächst macht sich Moore lustig über Bush, auch noch über den Augenblick, an dem er die Nachricht der Attentate erhält. Was denkt einer in solchen Minuten? Eine gute Frage und nicht mit den Witzen zu beantworten, die sich Moore hier gönnt. Zugleich ist der Film immer wieder brillante Satire: Schockierend und sarkastisch zugleich, voller ätzender Kritik und Emphase, voller Witz. Eine Szene zeigt, angelehnt an den Bonanza-Trailer, nicht Nevada und Virginia City in Flammen aufgehend, sondern Afghanistan, zur Musik von DIE GLORREICHEN SIEBEN: Auf den Pferden reiten und lächeln statt Ben, Adam, Hoss und Little Joe sieht man Bush, Cheyney, Rumsfeld und Blair. Dann rekapituliert Moore, wie Bin Ladens Familie ausreisen durfte, wie der Botschafter der Saudis - denen 7% der USA gehören - am 13.9.2001 zum privaten Abendessen bei Bush geladen war, wie der Afghanistan-Krieg beginnt, dass es mehr Polizisten in New York als US-Soldaten in Afghanistan gibt, den Okkasionalismus der US-Regierung, die den 11.9.als ihre Chance begreift, "Fear does work", und so weiter und so weiter.

Manchmal ist das ein bisschen langweilig, nicht immer ist es unterhaltsam. Politische Seelenfischerei bei den längst Bekehrten. Aber wenn es zum Irak-Krieg kommt wird der Ton anders. Schärfer. Das Lachen bleibt einem nicht nur im Hals stecken, es trifft einen in die Magengrube, wenn Moore dann zynische Soldaten oder Präsidentenkommentare über die Bilder derjenigen, auch der Amerikaner, schneidet, die unter ihnen zu leiden haben. Wenn er den Song spielt, den die Soldaten im Kampf am liebsten hören: "Burn motherfuckers, burn." Eine Mutter, die den letzten Brief ihres getöteten Sohnes vorliest. Verkrüppelte und traumatisierte US-Soldaten. Eine weinende irakische Mutter, ein Schnitt auf Britney Spears: "We should just trust our president."

Besonders gelungen der Musikeinsatz. Etwa Bush auf dem Flugzeugträger, den Sieg erklärend. Dazu läuft der Song "Believe it or not", den man mit anderen Ohren hört: "Look at what's happened to me/ I can't believe it myself/ Suddenly I'm up on top of the world/ should have been somebody else. ... Believe it or not, it's just me." wenn er später eine US-Patroiulle durch Bagdad begleitet, erniedrigte Iraker zeigt, weinende Menschen, die aus der Nacht gerissen werden, daneben Soldaten in voller Montur spielt er ein Weihnachtslied, das sich als Horror-Song entpuppt: "You better watch out, you better not cry/ Better not pout, I'm telling you why/ Santa Claus is coming to town/ He's making a list and checking it twice/ Gonna find out who's naughty and nice/ He sees you when you're sleeping/ He knows when you're awake/ He knows if you've been bad or good/ So be good for goodness sake."

Solche streckenweise wie ein Videoclip gedrehten Bilder sind natürlich sehr suggestiv, aber nie gelogen oder auch nur halbwahr: Moore ist ein Moralist und genau darin gehört er zum Besten, was das Weltkino zu bieten hat. Am stärksten ist sein Moralismus, wo er mit kühler, für ihn eigentlich untypischer Sachlichkeit inszeniert.

Kein Wort zu Guantanamo

Andererseits könnte man auch sagen, Moore verniedlicht das Böse. Er zeigt die Verhältnisse in ihrer Absurdität, aber nicht in ihrer Bosheit. Es gibt, eigentlich skandalös, kein Wort zu Guantanamo. Obwohl doch hier die Idee der Menschenrechte - die selbst ein Rumsfeld noch bewahrt, wenn er die neuesten Folterfälle nicht entschuldigt, mag es sich auch um ein bloßes Lippenbekenntnis handeln -, vollends preisgegeben wird.

Stark sind dann wieder die Momente, in denen zum Beispiel Bush vor einer Gruppe reicher Unterstützer redet: "Some people call you the elite. I call you my base." Und die unausgesprochene, aber deutliche Parallelisierung der Familien Bush und Bin Laden, des Präsidenten und des Terroristen. Beide sind Söhne aus denen lange Zeit nichts Rechtes geworden ist, die unter Druck standen, sich dem Papa beweisen zu müssen - und denen das schließlich gelang. So ist Moores mit Spannung erwarteter Film durchaus ein so beklemmendes wie aufwühlendes Portrait des Amerika unter George W. Bush. Aber vollends überzeugen tut er nicht. Die Fakten sind alle bekannt, ihre Inszenierung hat Vorteile, aber einen hohen Preis. Der eigentliche Skandal des Films ist, dass er in den USA von der Selbstzensur des Disney-Imperiums bedroht ist. In über 40 Ländern ist der Start sicher, in dem Land, das es am meisten angeht, bisher nicht.

Vielleicht ist ja der Idealismus selbst das Problem. Ist nicht vielleicht der Idealismus jener Sozialarbeiterin, die jeden Tag die Fahne hisst, und sie dabei, um sie nicht zu beschmutzen, nie auf den Boden kommen lässt, nur der Spiegel des anderen Idealismus, mit dem man einen Irak-Krieg beginnt. Und auch Moore ist ein Überzeugungstäter. Man könnte nun natürlich, um den Idealismus zu retten, schnell zwischen naivem und reflektiertem Idealismus unterscheiden. Aber ist das mehr als wohlfeile Ausrede? Wenn Moores Satz "Immoral behavior breeds immoral behavior" gilt, gilt er nicht auch für "Idealistic behavior"?

Wenn es um den Irak-Krieg geht, wird Moore zum Prediger der sich für diejenigen einsetzt, die im Irak ihr Lebens aufs Spiel setzen, die oft aus sozialschwachem Hintergrund stammen, und die verheizt werden. Da treibt Moore vor allem Wahlkampf, als linker Patriot. Das darf er, aber es führt nicht besonders weit.

Immerhin genügt es aber um Beobachter zu reizen, wie jenen aus Deutschland, der in der FAZ resümierte:

Wenn man die Welt wie Michael Moore sieht, ist dieser Film eine Tautologie, wenn man sie anders sieht, ein Stück Propaganda.

Was Moore hier versucht und was ihm, das ist seine Hauptqualität, bravourös gelingt, ist mit jenem Relativismus aufzuräumen, der die Welt als ein Puzzle aus Parallelwelten begreift und ernsthaft glaubt, dass auch noch beim Irakkrieg Sätze gelten wie: "Man kann es so sehen, man kann es aber auch ganz anders sehen."

Keine echte Liebe, keine echte Revolution - der deutsche Film

Genau das ist die Position von Hans Weingartners deutsch-österreichischem Cannes-Wettbewerbsbeitrag "Die fetten Jahre sind vorbei": Erst einmal fühlt man sich in eine Moore-Doku versetzt: "Wissen Sie, dass diese Schuhe in den Philippinen mit Kinderarbeit hergestellt wurden?" - das erste Bild des deutschen Kinos im Wettbewerb von Cannes, nach 11 Jahren Abwesenheit zeigt gute Deutsche, die gegen Globalisierung und Kapitalismus protestieren. "Die Leute haben einfach keinen Bock mehr auf Euer Scheiß-System" sagen Jule, Jan und Peter zu dem Manager, den sie gerade auf eine Almhütte entführt haben - nicht aus Absicht, sondern durch eine Verkettung unglücklicher Umstände mit eigener Feigheit.

Denn in den drei Berliner Twens hat sich viel Wut und unverschuldetes Unglück zu einer aggressiven Mischung zusammengestaut. Nun schlagen sie zurück, nennen sich "Die Erziehungsberechtigten" und brechen als eine Art Spaßguerilla in die Wohnungen der Reichen ein. Dort stehlen sie aber nichts, sondern verrücken nur die Möbel und hinterlassen mahnende Texte: "Sie haben zuviel Geld", "Die fetten Jahre sind vorbei." Jetzt haben sie ihr letztes Opfer am Hals, und wissen nicht, was mit dem Entführten zu tun ist.

Eine Weile fürchtet man das Schlimmste, dann mündet alles in Versöhnung. "Ich war auch mal im SDS, sogar im Vorstand." lautet der dümmste Satz des Films, mit dem sich das Entführungsopfer als heimlicher 68er entpuppt; ein Satz, welcher der ganzen Story den Sinn nimmt. "Sogar im Vorstand", wenn schon links, dann aber bitte in Führungspositionen. Was übrig bleibt, ist, wie zu oft in deutschen Filmen, eine Versöhnung der Kinder mit den Vätern. Einbrecher, die keine Einbrecher sind, Kapitalisten, die keine Kapitalisten sind - das ist der deutsche Film. Zu unklar, zu unpolitisch, weder echte Liebe, noch echte Revolution, Lalelu-Kino.

Eigentlich noch schlimmer: Dass alles im Stil eines TV-Films gedreht wurde, das Weingartner kein Kinobild einfällt. Mit einer filmischen Haltung, einer ästhetischen Position, die man auch in den missglücktesten der sonstigen Wettbewerbsbeiträge findet, hat das nichts zu tun. "Kommerziell interessant" schrieb die Le Monde in ihr Todesurteil. Und daher darf man in Deutschland auch den Jubelmeldungen nicht trauen, die über Radio und Zeitung verbreitet werden. Der Beifall war durchschnittlich, die Pressevorstellung schwach besucht, die Kritiken sind mau. Nur manch deutschen Berichterstatter beschleicht hier ein Moorescher Patriotismus.

Auch US-Marines kommen in den Himmel

Der liegt Jean-Luc Godard völlig fern. Auch "Notre musique" handelt vom Krieg, dem in Jugoslawien allerdings, der bei Godard jedoch zum konkreten Fall des Allgemeinen wird. Der versponnene, ein bisschen an Kluge und Theweleit erinnernde Filmessay ist als Tryptichon konzipiert: Hölle, Purgatorium, Paradies. Eine Reflexion über das Reale und das Imaginäre. Die Wahrheit liegt nicht im Bild lautet Godards skeptische Reflexion, die sich nicht nur alle Fans von Moores suggestiven Schnitten hinter den Spiegel stecken dürfen. Ein Film voller Zwischenräume, der gutchristlich im Paradies endet - das von US-Marines bewacht wird. Vor der Welt sind wir also auch im Himmel nicht sicher.

Eine weitere Dokumentation lief schließlich auch noch im Wettbewerb: "Mondovino" vom Amerikaner Jonathan Nossiter. Der kurzweilige Film schildert den internationalen Weinhandel: Mehrere Händler und Produzenten werden vorgestellt, manche von ihnen machen seit Jahrhunderten Spitzenweine. Man bekommt so nicht nur eine Ahnung von der Kultur des Weinproduzierens, man erlebt vor allem, wie diese Kultur in den letzten 20 Jahren allmählich zerstört wird. Schuld sind tatsächlich wieder einmal die Globalisierung und in diesem Fall die kalifornischen Weinhändler, welche die französischen Weine mit chemischen Tricks perfekt imitieren - im Film ist die Rede von "Plastikchirurgie" - und zudem bestimmte Geschmäcker mit recht rohen Mitteln weltweit durchsetzen. Alles was anders ist, kommt da unter die Räder. "Mondovino" ist ein Lehrstück über Funktionsweise und Abgründe des Kapitalismus - dabei nie plumpes Pamphlet, und völlig frei von der Moorerisierung des Dokumentarfilms. Die Botschaft ist viel einfacher: "Jeder Wein spiegelt seinen Schöpfer." Für Filme gilt das natürlich auch.