Die Diskussion über das Exekutionsvideo von Nicholas Berg im Internet

Bilder und Filme können lügen: Wie im Internet nicht nur Verschwörungstheorien gesponnen, sondern ernsthaft um Aufklärung eines strittigen Phänomens gerungen wird

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Die Debatte über das Video von der Enthauptung des US-Amerikaners Nicholas Berg hält an. Auf zahlreichen Websites ist jedes Detail des Clips analysiert und kommentiert worden. Ernsthafte Recherche und Verschwörungstheorien halten sich die Waage. Eins ist unstrittig: Das Internet ist bei diesem Thema jedem anderen Medium überlegen, da technisch Versierte und Spezialisten für jede Detailfrage weltweit in Echtzeit kommunizieren können. Die klassischen Medien - Print, Radio und TV - bleiben in der Diskussion außen vor, da sie sich, zumindest in Deutschland, weder trauen, das Originalmaterial zu veröffentlichen, noch die Quellen der "Konkurrenz" zu verlinken. Von seriösen Medien wurde das Thema kaum aufgegriffen, eine Ausnahme ist etwa Al Dschasira. Hier wurde darauf hingewiesen, dass Blogger weltweit Zweifel geäußert haben, ob das Video echt ist (Der seltsame Fall Nicholas Berg).

Die Frage, ob das Video überhaupt publiziert werden sollte, ist angesichts der Realität obsolet und ein medientheoretisches Rückzugsgefecht auf eine moralisch zwar hochwertige, aber mit der Realität nicht mehr kompatible Position) - wie sie etwa die "TAZ" vertritt. Die Guerilla in Tschetschenien hat schon mehrfach Videos von grausamen Tötungen online publiziert. Empört wegzusehen, wie in westlichen Medien praktiziert, hilft jedoch nicht als Mittel gegen psychologische Kriegsführung. Die "Deutsche Welle" weist auf die in aktuellen Berichten kaum erwähnte Tatsache hin, dass Al Qaida-Sympathisanten dem arabischen Sender Al-Dschasira schon ein Video von der Ermordung einer italienischen Geisel angeboten hatten. Al-Dschasira lehnte ab, weil der Inhalt zu grausam war. Daher wählte Al Qaida jetzt im Fall Nick Bergs den direkten Weg: vom Internet zum Rezipienten, ohne die Zwischenstation der Bedenkenträger in den Medien.

Misstrauen ist gegenüber jedweder Veröffentlichung ist angebracht, selbst wenn die Quelle dafür bekannt ist, auf die Befindlichkeit der westlichen Welt keine Rücksichten zu nehmen. Auch die in dieser Hinsicht "avantgardistische" Position Al-Dschasiras garantiert keine seriöse Recherche. Der Sender gab zum Beispiel die Quelle des Videos vom Mord an Nick Berg falsch an: www.al-ansar.biz. Das wurde von deutschen Medien einfach übernommen. Ein Nachfrage bei haganah.us bestätigte, dass "Internet Haganah" den Clip von der malaysischen Website hostnow.biz kopiert hatte und dass nur der Link zum Original auf al-ansar.biz bekanntgegeben wurde. Aaron Weisbud, der Betreiber der auf islamischen Terrorismus spezialisierten Website, hat dem Autor eine Kopie des ursprünglichen Postings zur Verfügung gestellt.

Von Gewehren, Stühlen, Stimmen oder Blut, das nicht fließt

Die technischen Einzelheiten werfen mehr Fragen auf, als sie endgültig zu beantworten. Norman Griebel aus Pinneberg machte als einer der ersten darauf aufmerksam, dass das Video von zwei Kameras aufgenommen wurde. Das erklärt auch die drei fehlenden Sequenzen: der Clip wurde nachträglich editiert. Das war ohnehin zu vermuten, zumal die Tonspur "verrutscht" ist: Die Schreie des Opfers sind schon zu einem Zeitpunkt zu hören, als es noch still vor seinen Peinigern verharrt. Diese technischen Mängel sind bei unprofessioneller Bearbeitung digitalisierter Aufnahmen nicht ungewöhnlich. Unseriös ist es aber, offene Fragen einfach mit dem Satz lapidar vom Tisch zu wischen - wie bei freenet.de geschehen -, man solle nicht zulassen, dass das Schicksal Bergs zu einem "irrealen Propaganda-Akt" umgedeutet werde. Die Frage, ob das Video "irreal" ist und der Verdacht, es sei ein Fake, "irre", kann erst nach einer gründlichen Analyse entschieden werden - wenn überhaupt - und sollte nicht Resultat einer moralischen Attitude a priori sein.

Der australische Blogger Charles U. Farley alias "vigilant.tv" hat nachgewiesen, dass nicht eindeutig verifiziert werden kann, wenn nur das Vido zur Verfügung steht, dass Berg vor laufender Kamera enthauptet wurde. "What we can't tell from the evidence here is whether the missing 60 seconds occurred before the decapitation (in which case it might have shown an aborted decapitation attempt, or possibly the moment of Nick's death), or after (which would give the white- and black-hooded assailants time to change places), or both." Die technischen Fakten hindern aber die Medien nicht, dass immer wieder zu behaupten, ohne auf die berechtigen Zweifel hinzuweisen.

Die Thesen auf der Website rense.com - "the alleged beheading was a fake" -, die oft als Primärquelle der Verschwörungstheorien zitiert wird, sind dagegen leicht zu widerlegen, zumal deren Quellen nicht näher genannt werden.

Die Behauptung, einer der Mörder trage eine israelische Maschinenpistole "Gilal", stammt aus der pakistanischen Zeitung "The Nation". Die Waffe heißt zudem Galil und sieht der auf dem Video auch nicht entfernt ähnlich. Es könnte auch eine Heckler & Koch HK53 sein, wie auch vermutet wird, oder die Standard-Version der israelischen UZI. Für die letzte Variante spräche zum Beispiel, dass in der aktuellen Ausgabe der Al Qaida-Zeitschrift Al Battar konkret beschrieben wird, wie die UIZ zu handhaben ist. Die Qualität des Videos ist so schlecht, dass nur spekuliert werden kann.

Die meisten Materialien zur Diskussion finden sich auf "Above Top Secret News Service" (ATSNN). Bis ins letzte grausige Detail und anhand anderer, ebenso entsetzlicher Beispiele - wie Bildern von der Ermordung des amerikanischen Journalisten Daniel Pearl im Jahr 2002 - wird die Behauptung widerlegt, dass zu wenig Blut zu sehen sei - das wurde u.a. auch von Asia Times aufgegriffen - und dass das beweisen würde, Nick Berg sei schon vor der Enthauptung tot gewesen.

"Above Top Secret News Service" dokumentiert Einzelheiten, die auf diversen Websites Anlass zu wilden Vermutungen geben. Ein Frame des Clips zeigt eine Hand, vermutlich die eines derjenigen, der den Mord filmt. Hector Carreon von "La Voz de Aztlan" schließt daraus, der Film sei unter Beteiligung von US-Amerikanern im berüchtigten Abu Ghraib-Gefängnis gedreht worden. Diese These wurden schnell von anderen "Blogger"-Websites wie Prisonplanet.tv oder Propaganda Matrix übernommen, letztere jedoch nicht ohne selbstkritische Distanz des Betreibers: "I'm still open to suggestions on this". Ob es sich um eine militärische Kopfbedeckung handelt, bleibt auch in der Vergrößerung eine bloße Vermutung. Allerdings hinderte ein Al Qaida-Mitglied nichts daran, Textilien der US-Armee zu tragen oder sich die schusssicheren Westen getöteter Amerikaner anzulegen.

Die Tatsache, dass der Stuhl im Video demjenigen gleicht, der auf den Folter-Fotos im Gefängnis gezeigt wird, beweist ebenso nichts: Diese Stühle gibt es überall auf der Welt. Und warum sollten die Al Qaida-Kämpfer nicht exakt vorhergeplant haben, welche Wirkung ein Overall in orangener Farbe, den das Opfer trägt, in den Medien haben würde? Vielleicht konnten sie auch vorhersehen, dass einige das zum Anlass nehmen würden, die Amerikaner als Urheber der Filmaufnahmen zu beschuldigen.

ATSSN veröffentlichte am 19.05., es seien im Video Stimmen in englischer Sprache zu hören, nicht ohne den einer Boulevard-Zeitung würdigen Hinweis "click here to download (audio-only full-version MP3 file of the beheading":

At 5:12 you'll clearly hear the following english statement in what certainly appears to be an American voice: "How wicked was that?" (pause) "Huh?" This is followed with a response: "hoo-ah". Then you'll hear another short pause, followed by: "How are we gonna..." and the audio ends in mid-sentence.

Wie auch im Telepolis-Forum kamen sofort kritische Hinweise und weitere Quellen vom Publikum, so dass einige Thesen des ursprünglichen Artikels durch die Kommentare konterkariert, aber dadurch interessanter wurden. Schon wenige Minuten nach der Veröffentlichung im ATSSN-Forum formulierte ein Surfer die Tendenz, komplizierte Fragen zu einfachen Verschwörungstheorien zu komprimieren:

We need to investigate if there are islamic phrases that could be mistaken as your claims. The human mind has a tendancy to mould things in the way it wants.

Selbst wenn es stimmte, dass englische Satzfetzen mit amerikanischem Akzent zu hören sind: Was würde das bedeuten? Könnten nicht auch die Täter dem Opfer während der Hinrichtung etwas in englischer Sprache zugerufen haben? Vielleicht stammen die Stimmen gar nicht aus dem Originalmaterial. "Might it not be a copy of the original audio catching two guys making the copy just talking over it? I'm just saying," schreibt jemand im ATSNN-Forum. Dafür spricht zum Beispiel, dass der Header des Clips (im wmv-Format) nahelegt, es sei im Oman hergestellt worden, wie im Telepolis-Forum schon angemerkt wurde. Aber auch das ist nicht sicher, da heute beinahe jeder regulär gekauften Kamera eine Software zur digitalen Bearbeitung beiliegt.

Bilder sind Waffen im Propagandakrieg

Fake oder kein Fake - heute ist angesichts der technischen Entwicklung alles möglich. Ob Nick Berg wirklich von Al Qaida-Kämpfern enthauptet wurde, würde sich nur beantworten lassen, wenn ein unabhängiger Gerichtsmediziner seinen Körper hätte obduzieren können und wenn genauso unabhängige Zeugen die Tat bestätigen könnten. Bilder und Filme können lügen, auch und gerade wenn sie im Internet stehen.

Aber das ist nicht neu. Das bekannteste Beispiel ist eines der berühmtesten Fotos über den Krieg überhaupt: die Aufnahme eines soeben von einer Kugel getroffenen Soldaten von Robert Capa aus dem spanischen Bürgerkrieg 1936. Der englische Journalist Phillip Knightley stellte 1975 in seinem Buch "The First Casuality" die These auf, Capa habe das Foto des Soldaten gestellt. Das Buch trägt den bezeichnenden Untertitel " The War Correspondent as Hero, Propagandist, and Myth Maker." Die Behauptung Knightley stellt sich später, nach langwieriger Recherche, als falsch heraus: Der sterbende Mann konnte identifiziert und der Ort seines Todes bestimmt werden.

Und auch von einem im Propaganda-Krieg "entscheidenden" Foto, das Eddie Adams während des Vietnam-Kriegs schoss und auf dem ein vietnamesischer Offizier einen Gefangenen erschießt, wird gesagt, es sei nur zustande gekommen, weil ein Fotograf und ein Filmteam zufällig anwesend gewesen seien.

Bilder sind Waffen - aber für alle Seiten. Dem Propaganda-Effekt, den das Video über den Tod Nick Bergs hatte, kann man nicht entgegentreten, indem man das Internet ignoriert. Was online publiziert wird, stellt die Praxis traditioneller Medien in Frage, nur durch journalistische Maßstäbe Gefiltertes an die Öffentlichkeit zu lassen. Das kann man nicht mehr verhindern, genausowenig wie sich Zahnpasta wieder in die Tube drücken lässt. Von Al Qaida Propadanda lernen, heißt Aufmerksamheit erregen - das scheint bei ähnlichen Organisationen die Devise zu werden. Die algerische Terror-Gruppe Combat/Al-Jama'ah al-Salafiyyah lil-Da'wah wal-Qital, hat vor wenigen Tagen ein Video mit der Rede ihres "Emirs" Abu-Ibrahim Mustafa online gestellt. Das Original verbreitet sich derzeit im Internet. Aber wer kann schon sagen, ob es den "Emir" wirklich gibt?