Kino oder Wirklichkeit?

"Die Schlacht um Algier": Vom Algerienkrieg zum besetzten Irak

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Ein Film zur rechten Zeit: Seit Mitte voriger Woche haben die allermeisten Franzosen und Französinnen zum ersten Mal Gelegenheit, den in Teilen der "Dritten Welt" längst zum "Klassiker" gewordenen Film La bataille d'Alger (Die Schlacht um Algier) zu sehen. Mitte der 60er Jahre gedreht, war der algero-italienische Film 1966 beim Mostra-Festival in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden. Doch die französische Delegation hatte die Preisverleihung boykottiert und auf französischem Staatsgebiet wurde die Ausstrahlung des Films unmittelbar darauf verboten.

1971 wurde die Strafandrohung zwar aufgehoben. Doch bei einer der ersten Aufführungen in einem Pariser Kino explodierte eine Bombe, die wahrscheinlich von Rechtsextremen gelegt worden war. Versprengte Reste der Terrororganisation OAS (Organisation armée secrète), die gegen den französischen Rückzug aus Algerien gebombt hatten, waren damals noch sehr aktiv. Nach kürzester Zeit war La bataille d'Alger wieder von den Leinwänden und Kinoplakaten verschwunden. Vom massiven Einsatz der Folter durch die französische Republik in ihrem "schmutzigen Krieg" in Algerien zu reden oder sie gar zu zeigen, war nach wie vor eine heikle Angelegenheit.

Jetzt also erlebt das Werk des Regisseurs Gillo Pontecorvo (Interview) gewissermaßen sein spätes Comeback. Man könnte sagen: rechtzeitig zur Debatte um die Folterbilder aus dem Irak, wenngleich er auch derzeit nur in zwei (von insgesamt über 100) Pariser Kinos zu sehen ist. Und die neue Popularität des Films beschränkt sich nicht auf Frankreich, sondern erfasst auch die USA, wo er seit Januar 2004 in den Kinos anlief. Dort war La bataille d'Alger in den späten 60er Jahren vorübergehend eine Art Kultfilm der Black Panther Party und ähnlicher Strömungen. Das dürfte längst vergessen sein, dennoch verbuchte der Film in diesem Jahr in den USA bereits 500.000 Eintritte.

Vor dem Irak-Krieg interessierte sich bereits das Pentagon für den Film

Der Zusammenhang zwischen der "Aktualität" der Folterdebatte und den ­ von algerischen Laiendarstellern, die selbst unmittelbar an den Ereignissen beteiligt waren, nachgespielten - Bildern aus dem Algerienkrieg ist enger, als man auf den ersten Blick denken könnte. Und er ist keineswegs zufällig oder willkürlich hergestellt. Denn es waren US-amerikanische Entscheidungsträger, die just in der Vorbereitungsphase des letztjährigen Krieges im Irak diesen Film aus der historischen Versenkung heraus beförderten - und mit ihm die an ihm hängenden historischen Ereignisse.

Bereits im September 2002, also sechs Monate bevor der Angriff auf den Irak effektiv erfolgte, wurden zwei US-Diplomaten in Algier in der Villa des seinerzeitigen Hauptdarstellers Yacef Saadi vorstellig. Dieser interpretiert in dem Film seine eigene geschichtliche Rolle: Er war während des Befreiungskrieges Oberkommandierender des militärischen Arms des FLN (Front de libération nationale) in der Hauptstadt des damals noch von Frankreich beherrschten Algerien. Der Wunsch der Diplomaten war es, er möge La bataille d'Alger in Nordamerika vorführen und auch für Nachfragen und Diskussionen zur Verfügung stehne. Das tat Yacef Saadi denn auch; ein längeres Interview mit gezielten politischen Fragen wurde im Januar 2004 durch CNN ausgestrahlt.

In diesem Kontext kam es am 27. August 2003 zu einer Sondervorstellung im Pentagon, welche die Direktion für besondere Operationen und low intensity conflicts organisiert hatte. Auf dem Einladungskarton hieß es unter anderem:

Kinder schießen aus nächster Nähe auf Soldaten. Frauen legen Bomben in Cafés. Bald wird die gesamte arabische Bevölkerung von einem verrückten Fieber erfasst sein. Erinnert Sie das an etwas? ... Die Franzosen haben einen Plan. Sie erzielen einen taktischen Erfolg, aber erleiden eine strategische Niederlage. Um zu verstehen warum, kommen Sie zu dieser seltenen Vorführung.

Dieser "Plan", das war die Folter. Sie ist in dem Film deutlich präsent: Folter durch Stromstöße (mittels eines Apparats, den die Franzosen la gégène tauften), durch Eintauchen des Kopfes in Wasser, durch Aufhängen mit verrenkten Gliedmaßen, durch Verbrennungen. Sexuelle Demütigungen sind nicht zu sehen, aber sie waren in Algerien ebenso wie im Irak Bestandteil des Programms zur Brechung der Gefangenen, vor dem Hintergrund vermeintlicher "Kenntnis einer arabischen Gesellschaft". Die bei der Vorführung in Washington anwesenden zivilen und militärischen Entscheidungsträger interessierten sich besonders dafür, wie der Einsatz der Folter einerseits effizient sein konnte, andererseits aber auch Märtyrer und Helden des Unabhängigkeitskampfes hervorzubringen drohte.

Dies bedeutet vor allem eines: Bereits vor dem tatsächlichen Stattfinden des Angriffs auf den Irak erwartete man zumindest in Teilen der US-Führungselite, dass man dort keineswegs allgemein als "Befreier" Aufnahme finden werde ­ sondern sah sich im Voraus stattdessen in einer ähnlichen Rolle wie Frankreich in seiner nordafrikanischen Kolonie. Und spätestens im August 2003 stand das Interesse an den politischen Folgen der Folter, vielleicht neben anderen Aspekten, oben auf der Agenda des politischen und militärischen Führungspersonals in Washington.

Die Folter im Kampf gegen einen "unsichtbaren Feind"

Die Rolle und Bedeutung der Folter wird in La bataille d'Alger durch Colonel Mathieu (gespielt von Jean Martin), den obersten französischen Militär, der dargestellt wird, auf sehr nüchterne und offene Weise auf den Punkt gebracht. Dabei gehört es zu herausragenden Leistungen der Regie, den Oberkommandierenden der Truppe im Kolonialkrieg nicht als subjektiv blutrünstiges Monstrum dargestellt, sondern den Mann in seiner Funktion und seine unterschiedlichen Facetten herausgearbeitet zu haben.

Der Oberbefehlshaber erscheint zwar einerseits an manchen Momenten als eiskalte Natur hinter seiner undurchlässigen Sonnenbrille, etwa beim Einzug des Kontingents in Algier im Januar 1957, nachdem die Truppe zur Hilfe bei der Aufstandsbekämpfung gerufen worden war ­ die Polizei wurde alleine nicht mehr mit dem Aufruhr der Kolonisierten fertig. An anderen Momenten zeigt er sich jedoch durchaus "normaler" Regungen, ja einer gewissen Freundlich- oder jedenfalls Umgänglichkeit fähig. Und er verteidigt seine moralische Integrität gegen die Vorwürfe der vor ihm versammelten internationalen Presse:

Viele von uns sind ehemalige Résistance-Kämpfer, waren in Buchenwald oder Dachau.

Das entspricht tatsächlich einer Facette der historischen Wirklichkeit. Dieser Mann also bringt die Rolle der Folter sinngemäß auf den Punkt:

Wir haben eine grundsätzliche Wahl getroffen: Wir wollen in Algerien bleiben, während diese Leute uns hier nicht haben wollen. Sie, meine Damen und Herren von der Presse, haben diese Entscheidung geteilt. Dann müssen Sie aber auch die Konsequenzen, die daraus erwachsen, mit uns ziehen. ...Wir kämpfen gegen einen unsichtbaren Feind, der sich überall verbergen, der ständig nachwachsen kann, solange wir den Kopf nicht gefasst haben. Wir benötigen Informationen über ihn. Die Mitglieder der gegnerischen Organisation haben Anweisung, während der ersten 48 Stunden im Verhör durchzuhalten. Danach dürfen sie losplaudern, denn nach zwei Tagen sind die Informationen wertlos, die sie uns geben können. Also tun wir alles, um diese Informationen vor Ablauf der 48 Stunden zu erhalten.

Wie in dem Film auch zu sehen ist, war der Einsatz solcher Zwangsmittel durchaus auf seine Art und Weise ­ kurzfristig ­ effizient: La bataille d'Alger beginnt und endet mit dem Tod des letzten Führungsmitglieds des FLN im durch die Militärs belagerten Algier, Ali la pointe ("Ali die Spitze"; er trug diesen Decknamen nach einem Stadtteil von Algier, der in das Mittelmeer hinein ragt). Da Ali la pointe und die Handvoll mit ihm versteckter Mitkämpfer(innen) nicht zur Aufgabe bereit sind, sprengt die französische Armee das gesamte Haus mitsamt seinem Versteck in die Luft. Auch dies ist eine historische Tatsache: Die Ruine ist heute noch in der Kasbah, der osmanischen Altstadt von Algier, zu bewundern.

Doch längerfristig wird Frankreich den Krieg verlieren: Wegen der internationalen Meinung, wegen der Kriegsmüdigkeit und teilweise der schockierten Reaktionen der eigenen Bevölkerung in der französischen "Metropole". Und weil sich eine militärische Kontrolle über die gesamte Millionenbevölkerung Algeriens auf die Dauer nicht ohne ein Mindestmaß an sozialer Akzeptanz aufrecht erhalten lässt.

Die historische Realität der Schlacht um Algier

"Die Schlacht um Algier" bedeutete tatsächlich eine schwere strategische Niederlage für die Nationale Befreiungsfront. In den Monaten zuvor war der FLN, 1956, zu Methoden des urbanen Terrorismus übergegangen. Das bedeutet konkret, dass nicht mehr nur ­ wie seit dem 1. November 1954 ­ in den Bergen gegen Einheiten der französischen Armee gekämpft wurde, sondern auch Anschläge im städtischen Zentrum Algier stattfanden.

Zuerst handelte es sich um Attentate auf Polizisten und Militärs, die wiederum Repressalien gegen die arabische Bevölkerung der Metropole nach sich zogen und deren europäische Bevölkerung zu rassistischen Reaktionen aufstachelten. Dann, um den Gang der Ereignisse zu beschleunigen und zugleich um dem Vergeltungswunsch der bedrückten arabischen Bewohner der Kasbah ­ als Reaktion auf mörderische Sprengungen von Wohnhäusern, mitsamt ihrer Insassen, durch französische Staatsorgane ­ nachzukommen, kommen zeitweise Anschläge anderer Natur hinzu. Auf realistische und schonungslose Weise sind in dem Film jene beiden, besonders umstrittenen Anschläge des FLN vom Spätherbst 1956 nachgestellt, die zwei von Europäern frequentierte Gaststätten (Le Milk-bar und La Caféteria) trafen.

In dieser Phase muss der FLN, der eine Art volontaristischer Flucht nach vorne mit rein militärischen Mitteln versucht hatte, eine schwere Schlappe einstecken und verliert politische Verbündete. Das stimmt mit der historischen Entwicklung überein: Er büßt über drei Jahre jede nennenswerte Präsenz in der algerischen Hauptstadt ein, während in den Bergen und an den Landesgrenzen gekämpft wird.

In dieser Phase des Krieges (1956/57) liegt der Keim dafür begründet, dass die politischen Parteistrukturen im Inneren Algeriens in späteren Jahren bald die Kontrolle über die Nationale Befreiungsfront verlieren ­ und tatsächlich die Militärs die Führung übernehmen. Genauer: Die "Grenzarmee", die nicht direkt in Kämpfe verwickelt ist, sondern auf marokkanischem und tunesischem Boden abwartet, wie die Verhandlungen mit Frankreich auf internationaler Bühne verlaufen. Hier bildet sich jener Machtapparat heraus, der schon bei der Unabhängigkeit im Juli 1962 einen nicht unbedeutenden Zipfel der politischen Macht in Händen hält ­ und im Juni 1965, mittels eines Armeeputschs, die gesamte Macht an sich reißt. Ab diesem Zeitpunkt sind alle Träume von sozialer Befreiung und umfassender politischer Emanzipation der algerischen Bevölkerung, die mit der Entkolonialisierung einher gegangen waren, zerstoben: Die Diktatur installiert sich in Algerien.

Welcher Vergleich mit dem Irak ist möglich?

Auf die aktuelle Entwicklung, beispielsweise im Irak, können diese Erfahrungen nur bedingt übertragen werden, denn die nationalen und internationalen Ausgangssituationen sind zu unterschiedlich. Dennoch lassen sich einige übertragbare Aussagen treffen. So lehrt das Beispiel des Algerienkriegs, dass eine sich vom gesellschaftlichen Geschehen abkoppelnde, rein militärisch-gewaltförmig aktive Widerstandsorganisation gegenüber einem übermächtigen Gegner geringe Aussichten auf Erfolg hat. Denn selbst der FLN erlebte 1957 eine schwere Schlappe, obwohl er eine weitaus längere Vorgeschichte und eine breitere soziale Basis hatte, als viele der heute im Irak militärisch aktiven Gruppen und Grüppchen sie aufweisen können.

Der FLN entsteht 1954 aus dem "aktivistischen" Flügel der Parti du peuple algérien (PPA), einer Unabhängigkeitspartei, die bereits seit dem Jahr 1936 aktiv ist. In den beiden folgenden Jahren gelingt es ihm, alle bedeutenden Strömungen der algerischen Gesellschaft zu integrieren und eine einheitliche, gemeinsame Frontorganisation zu schaffen. Die liberalen Nationalisten unter Ferhat Abbas lassen von ihrer Hoffnung auf bürgerliche Integration in die Kolonialgesellschaft und auf Verhandlungen mit Frankreich ab und werden vom FLN absorbiert. Die Kommunistische Partei löst ihre eigene paramilitärische Struktur auf und tritt dem bewaffneten Arm des FLN bei, auch wenn sie ihre politische Autonomie zu bewahren versucht. Als letzte treten auch die konservativen islamischen Geistlichen der Ulama, die bis dahin jeder politischen Betätigung skeptisch gegenüber standen, unter dem Eindruck der französischen Repression dem FLN bei.

Aus alldem konnte die politische Struktur des FLN die Keimzelle eines politischen Lebens im zukünftigen Algerien formen. Auf dem Kongress an der Soummam im August 1956 wird ein Programm beschlossen, das einen zukünftigen laizistischen Staat, die Trennung von Religion und Politik sowie die Unterordnung der Armee unter die zivilen Politiker vorsieht. Diese Versprechungen wurden bis heute im unabhängigen Algerien nicht eingelöst: Der Rückzug des FLN auf seine militärische Struktur, nach der Zerschlagung des politischen Arms und der "inneren Guerilla" 1957, hat geholfen, diese hoffnungsvollen Ansätze zunichte zu machen. Bleibt zu hoffen, dass sich dieser Teil der Geschichte des algerischen Widerstands nicht wiederhole.