Im eigenen inneren Gefängnis

Der kanadische Regisseur David Cronenberg über "Spider"

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Der Kanadier David Cronenberg, geboren 1943, gehört zu den wichtigsten Autorenfilmern der Gegenwart. Seine faszinierend-eigensinnigen Werke - u.a. "Die Fliege", "Crash", "eXistenZ" - kreisen vor allem um das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper und zur modernen Technik und Wissenschaft. Zum Start seines Films "Spider" (Monochrome Leere) sprach Telepolis mit ihm.

Ihre Filme haben immer einen philosophischen Anspruch: Wissenschaftskritik, Körper und Technik, Metall und Fleisch - man hat den Eindruck, dies alles interessiert Sie persönlich am meisten...

David Cronenberg: Korrekt. Für mich ist Filmemachen eine philosophische Erkundungsreise. Das ist mein Weg, um meine eigene Existenz zu begreifen, das Leben und den Tod. Und - ohne hoffentlich zu schwerblütig und zu prätentiös zu werden - das ist etwas, was das Kino tun kann, obwohl es leider nicht mehr sehr oft getan wird. Ich denke, wir haben noch nicht einmal richtig damit begonnen, die Möglichkeiten des Kinos zu erkunden und auszureizen.

Das Drehbuch für SPIDER, das ja auf eine Erzählung von Patrick McGrath zurückgeht, zirkulierte bereits eine Weile, andere Regisseure, unter anderem Atom Egoyan, hatten es abgelehnt. Sie haben dann ein neues geschrieben. Was hat Sie an diesem Projekt gereizt? Sind sie arachnophil?

David Cronenberg: In einem Punkt muss ich Sie korrigieren: Ich habe kein neues Drehbuch geschrieben. Sondern Patrick McGrath, von dem schon das ursprüngliche Script stammt, hat dieses gemeinsam mit mir überarbeitet. Er hat geschrieben - ich habe darüber geschaut. Das ist gewiss ein ungewöhnliches Verfahren, aber in diesem Fall hat es sich bewährt. Tatsächlich ist das Script vorher in Kanada zirkuliert. Ich weiß nicht genau, welche Regisseure - außer Egoyan - es gelesen und dann abgelehnt hatten. Mir gefiel es von Anfang an. Gegenüber der Novelle ist es allerdings verändert. Die stärkste Veränderung ist die Tatsache, dass im Buch Spider als Ich-Erzähler fungiert. Die Spinne und das Spinnenhafte hat ja hier in diesem Fall mehrere Funktionen: zunächst einmal ist es der Name, den der Junge von seiner Mutter erhielt. Dies wird dann zu einer visuellen Metapher: Die Art, wie er in sein Buch hineinschreibt, wie er mit den Wollfäden als Kind spielt, auch wie er als Erwachsener sein Zimmer vernetzt. Schließlich wird ein "Spinnenfaden" zur tödlichen Waffe.

"Ich glaube, ich mache Komödien!"

SPIDER berührt sehr verschiedene Themen. Man könnte ihn als Horrorfilm begreifen, aber auch als Psychothriller, oder als Fallstudie einer Krankheit. Was ist der Film für Sie?

David Cronenberg: Ich glaube, ich mache Komödien! (LACHT). Wissen Sie: Ich denke nicht in diesen Kategorien. Wer das tut, muss Rezept und Machart akzeptieren, und das will ich gerade nicht. Glücklicherweise bin ich der letzte, der SPIDER auf einen Begriff bringen muss; das ist mehr eine Aufgabe für Filmkritiker. Natürlich steckt etwas von allen drei genannten Möglichkeiten in ihm. Aber nach heutigem Verständnis würden ihn wohl viele Zuschauer nicht als Horrorfilm einstufen, dafür ist einfach zu wenig Horror in ihm. Unter "Horrorthriller" verstehen Zuschauer heute etwas anderes, Blutigeres. Oder ironische Genre-Variationen wie SCREAM. Den Verleihern wäre es natürlich sehr lieb, wenn sie ihn so vermarkten könnten.

Tatsächlich hatte ich aber zunächst vor, mehr Horrorelemente einzubauen: Etwa eine Szene, in denen die Kartoffeln, welche die Mutter schält, sich mit Blut vermischen. Das habe ich dann aber wieder verworfen, weil es mir unangemessen schien. Es hätte nicht zum Charakter der Figur gepasst. Auch wollte ich den Film offener lassen. SPIDER ist natürlich ein psychologischer Thriller. Aber dafür hat er zu wenig Thrill, zu wenig Spannung. Andererseits gibt es einen Mord, es gibt ein Mysterium, die Suche nach dem Mörder. Man könnte also sagen: Es ist ein Murder-Mystery-Film. Aber da Sie den Film kennen, werden Sie wahrscheinlich mit mir übereinstimmen, dass auch das eher in die Irre führt.

Es gibt keine absolute Realität

Sie brechen wieder mit vielen Erwartungen, man braucht eine Weile, um sich an ihn zu gewöhnen. Daher wüsste ich gern, was für Sie, ausgehend von der Vorlage von McGrath, besonders interessant an dem Stoff war. Mir scheint, dass Sie sich einerseits für das Freudianische an SPIDER interessieren - die ganze Story hat etwas Ödipales - andererseits stimmt an diesem Gedanken irgendetwas wiederum gar nicht...

David Cronenberg: Richtig. Die Story ist nämlich eher anti-ödipal... Worum es meiner Ansicht nach viel eher geht, ist Repression. Spider wird unterdrückt, und kämpft dagegen und die Repression bricht zusammen. Zugleich unterdrückt er in sich selbst wieder ein Stück von sich.

Im Zusammenhang mit dem Film eXistenZ hatten Sie von ihrem Interesse für Existenzphilosophie berichtet, und erzählt, dass Sie den Schauspielern Kierkegaard, Nietzsche und Sartre zu lesen gegeben haben. Auch SPIDER legt eine existentialistische Sicht nahe. Die Weltwahrnehmung der Hauptfigur erinnert jetzt sehr stark an Sartres Roman "Der Ekel". Man könnte sagen, die Hauptfigur sei der "nackte Mensch", eine Art "Mensch schlechthin". Erst später wird der entscheidende Unterschied klar: Dass nämlich die Hauptfigur bei Sartre nicht verrückt ist, Ihre dagegen schon...

David Cronenberg: Nun, vermutlich haben 1938, als der Roman erschien, viele Leser geglaubt, dass vor allem Sartre verrückt ist. (LACHT) Aber Sie haben völlig recht: Die Existenzphilosophie interessiert mich sehr und beeinflusste diesen Film stark. Und genau um diese Form der Weltwahrnehmung ging es mir viel stärker, als etwa um Psychoanalytisches. Es gibt keine absolute Realität. Es gibt nur ein oder zwei Tatsachen über das Leben: eines ist der Tod und eines ist das Leben. Dazwischen müssen wir alles selbst erfinden und hervorbringen. Die Verantwortung dafür ist ganz und gar unsere eigene - niemand nimmt uns das ab.

Es gibt keine Regeln, außer die, die wir selbst erfinden. Das entspricht meiner Weltsicht. Wir sind, wie Sartre gesagt hat: "Dazu verdammt, frei zu sein." Das ist erschreckend und aufregend zugleich. Die meisten Leute wollen diese Verantwortung nicht akzeptieren. Die meisten Religionen versuchen uns eine Struktur zu verpassen, mit deren Hilfe wir das nicht anerkennen müssen. Sie geben uns eine Moral und normalerweise auch eine Ausflucht gegenüber dem Tod. Aber als ein wahrer Existentialist akzeptiert man diese unangenehmen Wahrheiten und trifft seine Wahl auf der Basis, das es nur auf einen selber ankommt. Das ist das Menschenbild der Existenzphilosophie. Dies zu sagen ist zur Zeit zwar nicht sehr in, aber ich glaube, dass es sich bei den Diagnosen der Existentialisten um eine philosophische Position handelt, das bis heute nicht übertroffen wurde. Die Existenzphilosophie ist zwar vielleicht nicht mehr so in Mode, wie sie es wohl in den 50ern war, aber sicher heute wieder wichtiger, als in den 80ern, wichtiger auch als Dekonstruktivismus und Postmoderne...

Angst vor allem, auch vor sich selbst

Ihr Film legt zugleich - und das ist ja kein Widerspruch zu dem Sartre-Vergleich - auch eine andere Lesart nahe: Vieles, was wir Zuschauer sehen, entspricht der inneren Wahrnehmung der Hauptfigur, seinen Alpträumen und Wahnvorstellungen. Man könnte sagen: was wir im Film sehen, ist gar nicht real, sondern Spiders Konstruktion, sein Cyberspace...

David Cronenberg: Ja, wenn Sie "Cyber" als etwas Inneres verstehen. Ganz gewiss geht alles um Spiders eigene Wahrnehmung. Das Buch ist, wie schon gesagt, aus der Ich-Perspektive erzählt. Jenes Buch, dass Spider schreibt, ist das Buch, das wir als Leser lesen: "Spider", Spiders Tagebuch. Dadurch werden wir, ganz klar, selbst zu Spider. Auch im Kino. Und seine Reisen ins Innere, in seine Vergangenheit, werden auch für uns zu einer schmerzhaften Entdeckung. Der Film ist ein allmählicher Erfahrungsprozess.

Alles, was wir sehen, entspricht Spiders innerer Erfahrung...

David Cronenberg: Dieser Mann steckt völlig in seinem eigenen inneren Gefängnis. Er hat einfach Angst vor allem, auch vor sich selbst. Dies zu zeigen, ist mir sehr sehr wichtig. Wir haben beim Drehen darauf großen Wert gelegt: Das Design der Räume etwa soll zweierlei widerspiegeln: Die Verwirrung und den Wahnsinn, die innere Enge, aber auch die vage Hoffnung, sich durch äußere Ordnung zu stabilisieren. Die Tapeten zum Beispiel spielen hierfür eine bedeutende Rolle.

Noch einmal zurück zum Thema des Cyberspace. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass man in letzter Zeit besonders viele Filme sieht, in denen der Zuschauer in den Kopf eines Menschen, und zwar zumeist eines verrückten oder defekten Menschen, schlüpft, Realität und Wahn für den Zuschauer ununterscheidbar werden? Man könnte die Drehbücher Charlie Kaufmans ebenso als Bespiel nehmen, wie MEMENTO oder MULLHOLLAND DRIVE...

David Cronenberg: Hat dies das Kino nicht schon immer getan? In DR CALIGARI geschieht doch schon ähnliches, scheint mir. Vielleicht kann man dem Publikum heute etwas mehr zumuten, vielleicht ist es aufnahmebereiter. Außerdem müssen Sie sich in die Lage eines Autor versetzen. Der hockt die ganze Zeit zuhause am Computer vor dem Monitor. Da verschwimmen Außen- und Innenperspektive allemal leicht. Und wenn Sie Charlie Kaufman kennen: Der ist meiner Meinung nach einer, der eigentlich immer Filme über sein eigenes Leben macht, seine eigene Wahrnehmung.

Merkwürdige Arbeitsweisen durch Globalisierung

In letzter Zeit hat man viel vom kanadischen Kino gehört, das Kino ihrer Heimat erlebt einen enormen Aufschwung. Lange Zeit gab es, von Außen betrachtet, nur Sie und Atom Egoyan. Heute gibt es eine ganze Reihe junger begabter kanadischer Filmautoren. Wo sehen Sie sich im Verhältnis zu diesen stehen? Fühlen Sie sich überhaupt als "kanadischer" Regisseur?

David Cronenberg: Unbedingt! Alle meine Filme habe ich dort gedreht. Auch SPIDER wurde drei Wochen in London und nur fünf Wochen in Kanada gedreht. Die "kanadische Erfahrung" unterscheidet sich stark von derjenigen der US-Amerikaner. Wir sind stark europäisch und asiatisch geprägt, stärker, als die USA. Bei uns nennen wir es Multikulturalismus, die US-Amerikaner sprechen von Schmelztiegel...

Der neuerdings nicht mehr so gut funktioniert. Es gibt neue Ängste vor der Einwanderung der Latinos...

David Cronenberg: Schon. Aber das gibt es bei Ihnen ein Deutschland ja in anderer Form ähnlich, wenn man an den Rassismus gegenüber Einwanderern, etwa aus der Türkei, denkt. Also: ich fühle mich unbedingt als Kanadier. Aber der nationalen Basis steht das Phänomen gegenüber, das man als Globalisierung bezeichnet. Sowohl dieses Land, als auch das Filmemachen ist natürlich sehr stark davon geprägt - sie ist gar nicht wegzudenken. und wenn Grenzen fallen, ist das ja im Prinzip etwas sehr Positives. Allerdings verändert es sehr stark unser Arbeiten.

Inwiefern konkret?

David Cronenberg: Wenn ich etwa an meinen Freund, den Filmkomponisten Howard Shore denke. Er sitzt da in London, und bekommt Bilder aus Neuseeland zum HERR DER RINGE per Internet überspielt, und komponiert dann etwas dazu. Dann sendet er es weiter in ein Tonstudio in den USA. Eine sehr merkwürdige Arbeitsweise. Was ist der Ort, die Heimat und die Identität dieses Films? Ich bin überzeugt, Regisseur Peter Jackson glaubt, er habe einen neuseeländischen Film gedreht. Aber das ist natürlich Unsinn.

Weil sie es erwähnen: Es ist ein Rätsel für mich, dass jemand wie Howard Shore, der mit Ihnen zusammenarbeitet und mit vielen guten Leuten, dann die Musik zum "Herr der Ringe" macht. Wie geht das zusammen? Was interessiert ihn daran, von der Gage einmal abgesehen?

David Cronenberg: Sie müssen sich ihn wie einen Schauspieler vorstellen. So ähnlich funktioniert das. Und die Gage war zunächst gar nicht so hoch. Einige Schauspieler klagen auch ziemlich darüber. Am Anfang dachte man nie, dass der Film so viel Geld einspielt. Howard Shore würde sagen: das ist die größte Independent-Produktion der Welt. Aber das ist wirklich ein anderes Thema.

Jedenfalls nehme ich an, dass Sie Projekte dieser Art auf keinen Fall reizen, auch nicht, wenn Sie für Sie finanzierbar wären?

David Cronenberg: Ja, da haben Sie allerdings recht. Das reizt mich wirklich kein bisschen.