"General Slocum": Die Volks-Titanic

Für eine melodramatische Verfilmung bis heute ungeeignet: Der Brand und Untergang der General Slocum mitten in New York

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Jeder kennt das Drama um den Luxusdampfer RMS Titanic, bei dem am 14. April 1912 im Eismeer 1496 Menschen starben. Kaum bekannt ist, dass nur 8 Jahre zuvor mit einem anderen Dampfer bereits 1021 umgekommen waren – und zwar mitten in New York.

Der Raddampfer "General Slocum"

Es war der Höhepunkt des Jahres: Der Sommerausflug der deutschen Gemeinde von St. Markus. Ein ganzer Stadtteil sprach damals in New York deutsch – auf der Eastside von Manhattan lag "Little Germany" im heutigen East Village. Die Einwanderer waren fleißig, aber arm und lebten in New York von den Berufen, die sie erlernt hatten, weshalb ihnen die Kirche einmal im Jahr einen Ausflug spendete. Diesmal sollte es eine Schiffsfahrt sein.

Irische (grün) und deutsche (orange) Viertel in New York City um 1865

Für den 15. Juni 1904, einen Mittwoch, hatte man die "General Slocum" gechartert, ein hölzerner 76 Meter langer Schaufelraddampfer mit drei Decks, benannt nach einem Südstaaten-General des Bürgerkriegs. Das Schiff der "Knickerbocker-Reederei" war zwar nicht mehr neu, aber frisch gestrichen und beeindruckte die 1331 Frauen und Kinder, die an Bord gingen – Babys und Kleinkinder nicht mitgezählt. Die Männer mussten dagegen in die Arbeit – eine Fahrt am Wochenende hätte man sich nicht leisten können, in der Woche hatte die Charter immer noch 350 Dollar gekostet, die Pfarrer Haas bezahlte.

Die "General Slocum" kurz nach dem Ablegen

Mit Blaskapelle ging die Fahrt vom Pier an der 3. Straße los, die die Ausflügler zum Picknick mit Grillen, Singen und Spielen den East River hinauf nach Long Island bringen sollte. Es gab an Bord unter anderem Muschelsuppe und Bier. Die Bierkrüge waren in Holzwolle verpackt, die ein Maat kurzerhand in den "Lampenraum" stopfte – eine Kabine, in der auch die Öllampen verstaut waren.

Das Feuer

Etwa nach einer dreiviertel Stunde roch es nach Rauch. Die Gäste dachten, das käme aus der Küche. Ein Junge informierte die Crew, dass aus einer Kabine Rauch drang. Ein Maat – wie alle anderen untrainiert im Umgang mit Feuer, öffnete die Tür, um nachzusehen, wo der Rauch herkam. Daraufhin brach das Feuer aus und fraß sich in wenigen Minuten durch alle drei Decks. Löschversuche scheiterten an verrotteten, platzenden Schläuchen, die Rettungsboote saßen fest und die Rettungswesten – von Leinen umhüllter Kork – waren morsch, zerbröselten und saugten sich voll Wasser: Wer sie benutzte, ertrank unweigerlich. Schwimmen konnte 1904 praktisch niemand.

Kapitän William van Schaick

Der Kapitän musste zunächst durch die Stromschwellen am "Hells Gate", in denen niemand überlebt hätte, wollte dann ans Ufer der Bronx, doch waren dort Öl- und Benzinlager und er fürchtete, mit dem brennenden Schiff einen ganzen Stadtteil anzuzünden. Deshalb fuhr er mit voller Geschwindigkeit, die das Feuer weiter anfachte, das brennende Schiff zur Insel North Brother Island, auf der ein Hospital für ansteckende Krankheiten war. Doch konnte sich zwar die Mannschaft bis auf einen Mann retten, doch nur 310 der Passagiere: Bootsbesitzer nahmen ihnen dafür Schmuck und Uhren ab. Der Rest ertrank oder verbrannte auf dem Schiff, als die drei Decks ähnlich wie fast 100 Jahre später im World-Trade-Center vom Feuer geschwächt aufeinanderstürzten. Bis zum 11. September 2001 war das Slocum-Desaster das größte Unglück in New York.

Tote vor dem Hospital auf North Brother Island: Die Sonntagskleidung erschwerte selbst bei jenen das Schwimmen, die es konnten

Viele Männer und Frauen begingen Selbstmord, als sie erfuhren, dass ihre Kinder und Familie nicht mehr lebten. Der Rest zog weg aus "Little Germany", das sich auflöste. In der ehemaligen St.-Markus-Kirche ist heute eine Synagoge. Elf Leute wurden als Verantwortliche vor Gericht gestellt, darunter auch der Sicherheitsinspektor Henry Lundberg, der sich von der Reederei hatte schmieren lassen und die maroden Westen, Schläuche und Boote noch am 5. Mai ausdrücklich als einwandfrei attestiert hatte sowie die Chefs der Knickerbocker-Reederei. Doch zu 10 Jahren Zuchthaus wurde am Schluss nur der Kapitän William van Schaick verurteilt.

Provisorische Leichenhalle am Pier in der 26. Straße

Am 16. Juni 1904, als der "Ulysses" aus dem 1922 erschienenen gleichnamigen Roman von James Joyce am "Bloomsday" durch Dublin wandert, war das Unglück in allen Zeitungen und wird deshalb auch in dem Roman immer wieder erwähnt. In New York verblasste die Erinnerung dagegen mit dem aufkommenden Ersten Weltkrieg, mit dem die Deutschen nicht mehr wohlgelitten waren. Im Gegensatz zur Titanic waren auch keine Berühmtheiten an Bord gewesen.

Edward T. O'Donnell: Ship Ablaze – The Tragedy of the Steamboat General Slocum, 332 Seiten, Broadway Books, ISBN 0-76790-905-4