Selbstmord aus der Pillendose?

Ausgedröhnt? Die Glücklichmacher aus den Pharmalabors stehen im Verdacht, wenig wirksam, dafür aber gefährlich zu sein.

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Je nach Definition leiden in Deutschland zwischen vier und acht Millionen Menschen an Depressionen. Schwermut gilt heute als eine Art Volksleiden (Psychische Störungen nehmen rapide zu). Nach dem Aufstieg von Antidepressiva wie Prozac zu Modedrogen folgt nun die Ernüchterung. Der New Scientist geht in seiner aktuellen Ausgabe dem Abstieg der Wundermittel nach.

Als der Pharmariese Eli Lilly 1987 in den USA mit Prozac (Fluoxetin) auf den Markt ging, war das ein Meilenstein. Endlich stand ein Mittel zur Verfügung, das nicht die Nebenwirkungen der bislang angewendeten trizyklischen Antidepressiva hatte: Kein Herzrasen, keine Verstopfung, kein trockener Mund.

Besser drauf sein als normal

Die zweite Generation von Antidepressiva, die so genannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI, selective serotonin reuptake inhibitor), für die Prozac zum Synonym wurde, schlug ein wie eine Bombe. Prozac war mehr als ein Medikament, es wurde zur Gute-Laune-Droge für jede Gelegenheit. Eine ganze Welle neuer "Prozacs" folgte, auf der alle glücklich mitschwimmen: Die Industrie, die Milliarden damit verdient, die Patienten, weil der "bottled sunshine" die Stimmung hebt, und die Ärzte, die Präparate für Seelenzustände verschreiben können, die sie vorher nie als Krankheit erkannt hätten.

Wirkung wie Placebos

Doch der Lack ist ab: Seit den 90er-Jahren häufen sich Berichte darüber, dass mit SSRI-Präparaten behandelte Patienten gewalttätig werden oder sogar Selbstmord begehen. Auch die Wirksamkeit der Wunderdrogen steht zunehmend in Frage. Großbritannien hat im vergangenen Jahr gehandelt – zumindest, was Kinder und Jugendliche betrifft: Die UK Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA) hatte im April 2003 ein Expertengremium eingesetzt, das Sicherheit und Effizienz dieser Medikamentengruppe überprüfen sollte. Dazu wurde die Pharma-Industrie aufgefordert, Produktdaten einzureichen. Gut ein halbes Jahr später zeigten die Ergebnisse Konsequenzen: Alle Produkte außer Prozac wurden für unter 18-Jährige verboten. Die Begründung: Wirksamkeit kaum nachweisbar, Risiken dafür umso höher.

Auch bei Erwachsenen waren die Resultate nicht besser: Das britische National Institute for Clinical Excellence (NICE) nahm 1.000 veröffentlichte Studien unter die Lupe. Das Urteil: Bei leichten Formen von Depressionen wirken SSRI im Durchschnitt so gut wie Placebos.

High Noon in New York?

In den USA hat der Staat New York letzten Monat Anklage gegen GlaxoSmithKline (GSK) erhoben. GSK wird vorgeworfen, Forschungsergebnisse, die ein erhöhtes Selbstmordrisiko bei Minderjährigen für das Präparat Paxil belegen, unterdrückt zu haben. Das Mittel war zuvor schon unter Kritik geraten: 1998 wurde erstmals den Angehörigen eines Paxil-Patienten eine Entschädigung von 8 Millionen Dollar zugesprochen: Der Mann hatte seine Frau, seine Tochter und seine Enkelin ermordet, bevor er sich selbst erschoss. 48 Stunden vor der Tat hatte er erstmals Paxil genommen. Auf richterliche Anordnung musste GSK unter Verschluss gehaltene Forschungsergebnisse offenlegen, die nahe legten, dass Paxil bei einer von vier Personen zu "besonderen Erregungszuständen" führen kann.

Mehr Transparenz

Bei zwei Drittel der Patienten helfen Antidepressiva, bei einem Drittel nicht. Es gibt keine Möglichkeit die genaue Wirkung vorherzusagen. Aber das ist nicht das einzige Problem. Die Crux ist die Geheimniskrämerei der Unternehmen: Immer wieder wird bekannt, dass Pharma-Unternehmen negative Studien mehr oder weniger elegant unter den Tisch fallen lassen und wenn nötig Druck auf zuständige Institutionen ausüben.

Der Kreis der Kritiker, die finden, dass es Zeit wird, den Pharma-Multis kräftig auf die Finger zu klopfen, wächst. Am liebsten sähen es viele, wenn die diese alle Forschungsergebnisse offen legen müssten, damit es keine Irreführung geben kann. Vielleicht wird der anstehende Prozess in New York hier das entscheidende Signal setzen.