Videoüberwachung: Sicherheit oder Scheinlösung?

Der Bombenleger von Köln ist rechtswidrig gefilmt worden: Ein Anlass, die Videoüberwachung einmal mehr näher zu beleuchten

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Im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag auf die Keupstraße in Köln fahndet die Polizei mittlerweile nach zwei Männern. Diese sind von der Überwachungskamera des Musiksenders Viva erfasst und gefilmt worden. Laut Gesetz hätte der Bordstein nicht derart weitwinklig gefilmt werden dürfen. Generell beklagen die Datenschützer fehlendes Bewusstsein für Gesetze und Bedeutung der Videoüberwachung. Obwohl keine wissenschaftlichen Untersuchungen vorliegen, die die Effektivität der Videoüberwachung belegen, wird die Maßnahme nicht erst seit dem 11. September 2001 ausgebaut. Schleichend etabliert sich eine Infrastruktur zur tendenziell flächendeckenden Videoüberwachung, die eigentlich keiner will.

Am 9. Juni war in der fast ausschließlich türkisch bewohnten Keupstraße in Köln-Mülheim vor einem Haarstudio eine Nagelbombe explodiert und hatte 22 Menschen teils schwer verletzt. Die Bombe, eine ferngezündete Gasflasche mit Schwarzpulver, gespickt mit Zimmermannsnägeln, befand sich in einem Kunststoffbehälter auf dem Gepäckträger eines Fahrrades.

Ein Angestellter des Haarstudios hatte den Täter offenbar gesehen, wie er das Rad vor dem Schaufenster abgestellt hatte. Wer immer der oder die Täter waren, sie wollten möglichst viele Menschen treffen. (Nagelbombe in Klein-Istanbul).

Aufnahme der Viva-Überwachungskamera: der gesuchte Bombenleger

Beide Männer, nach denen nun gefahndet wird, sind von der Überwachungskamera des Musiksenders Viva gefilmt worden. Auf einer Aufnahme ist der bereits erwähnte Mann mit sportlicher Kleidung und Schirmmütze zu sehen. Die 20-köpfige "Mordkommission Sprengstoff" der Kölner Polizei geht davon aus, dass er der Bombenleger ist, da er eine Stunde vor der Explosion das Fahrrad zum Tatort geschoben hatte, auf dem die Bombe war. Ein zweiter Mann war eine halbe Stunde vor ihm mit zwei anderen Fahrrädern Richtung Keupstraße gegangen. Nach gut zehn Minuten kam er wieder zurück, um ein drittes Mal, diesmal 20 Meter vor dem Bombenleger, beim Gang Richtung Keupstraße gefilmt zu werden. Die Polizei hat den zweiten Mann gebeten, sich zu melden, da er den Täter gesehen haben könnte. Er hat sich seit dem 22. Juni nicht gemeldet. Vielleicht ist er ein Komplize.

Aufnahme der Viva-Überwachungskamera: ein zweiter gesuchter Mann

Auf ihrer Webseite hat die Kölner Polizei zwei Videoaufnahmen veröffentlicht. In zwei Pressemitteilungen hat sie die Bevölkerung um Fahndungshinweise gebeten. Eine heiße Spur ist nicht unter den 75 Hinweisen gewesen. Telepolis nimmt diesen Fall zum Anlass, um das Thema Videoüberwachung einmal mehr näher zu beleuchten.

Die Aufnahmen des Musiksenders sind nämlich, auch wenn sie nun - was gut ist - strafrechtlich verwendet werden dürfen, rechtswidrig. Dieses bestätigte der Berliner Rechtsanwalt Nils Leopold von der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union. Am 18. Dezember 2003 hat das Berliner Amtsgericht Mitte den Präzedenzfall geschaffen, dass private Überwachungskameras nur einen Meter breiten Streifen entlang eines überwachten Gebäudes erfassen dürfen (Immer im Bilde).

Gefragt nach dem Grund der Überwachungskamera verwies ein Viva-Sprecher auf die Auskunft der Polizei. Diese ist jedoch nicht zuständig. Privatpersonen oder Unternehmen sind für den Einsatz ihrer Kameras eigenverantwortlich und müssen sich dabei nach dem Bundesdatenschutzgesetz richten. Unkenntnis der gesetzlichen Vorschriften sei leider nicht unüblich, bestätigt Bettina Gayk vom nordrhein-westfälischen Büro der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit. Das LDI hält daher ein Faltblatt für private Stellen bereit.

Videoüberwachung in Nordrhein-Westfalen

Die Polizei in Nordrhein-Westfalen hat es seit der Erweiterung des Polizeigesetzes zum 25. Juli 2003 rechtlich leichter, einen öffentlichen Ort offen mit Kameras zu überwachen. Voraussetzung laut Paragraf 15a ist seitdem nicht mehr das Vorhandensein von "Straftaten von erheblicher Bedeutung" am zu überwachenden Ort, sondern das Vorhandensein eines "Kriminalitätsbrennpunktes", an dem "wiederholt Straftaten begangen wurden" und "solange Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an diesem Ort weitere Straftaten begangen werden."

Die Änderung geht zurück auf die Initiative von Innenminister Fritz Behrens (SPD). Der Entscheidung des Kabinetts vom Sommer 2002 folgten intensive Koalitionsgespräche. Letztendlich setzte sich die NRW-Fraktion der Grünen über eine Zweidrittelmehrheit der Landesdelegierten, die sich gegen eine Gesetzesänderung ausgesprochen hatten, hinweg. Gemeinsam mit der SPD-Fraktion und dem Argument, den Menschen den berechtigten Wunsch zu erfüllen, "sich auf öffentlichen Straßen und Plätzen möglichst sicher zu fühlen", wurde das Polizeigesetz gelockert.

Das Kabinett berief sich dabei auf die Ergebnisse des Pilotprojekts der Bielefelder Polizei zur Videoüberwachung. In einer Pressemitteilung vom 17. Juli 2002 hat das Innenministerium mitgeteilt:

Der Erfolg ließ sich in Zahlen messen: Schon nach einem Jahr war in Bielefeld die Zahl der erfassten Straftaten von erheblicher Bedeutung um mehr als die Hälfte gesunken.

Dieses ist einerseits richtig und falsch. Die Tabelle gibt die Zahlen zur Kriminalitätsentwicklung in dem Park an, der im Pilotprojekt vom 21. Februar 2001 bis zum 31. März 2002 überwacht worden war.

Vergleicht man den Zeitraum 1998/1999 mit 2000/2001, so ist die Aussage des Innenministeriums inhaltlich korrekt. Vergleicht man jedoch die Zahlen erheblicher Delikte zwischen dem Jahr vor der Videoüberwachung (2000) und dem Hauptjahr der VÜ (2001), so hat es sogar eine Zunahme von sieben auf neun Fällen gegeben. Angesichts dieser geringen Zahlen hatte das LDI von Anfang an kritisiert, dass der Park nie ein Ort gewesen sei, an dem wiederholt schwere Straftaten begangen worden seien. Außerdem ist die Zahl der Straftaten ja schon vor Installation der Kameras zurückgegangen. Dieses ist ein Placebo-Effekt, der aus britischen Studien zur Videoüberwachung bekannt ist: Allein die Ankündigung einer VÜ-Maßnahme lässt die Kriminalität zurückgehen.

Der Bielefelder Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD nennt jedoch auch den Grund, dass der Park, in dem sich auch Drogenabhängige und Obdachlose trafen und treffen, ganz einfach zur damaligen Expo geschönt worden sei. Außerdem hatte die nahe Drogenanlaufstelle ihr Angebot für Suchtkranke verbessert. Deshalb sei alles gesitteter abgelaufen. Für das "Herbeilügen" von Erfolgen hat FoeBuD daher Innenminister Behrens den regionalen Big Brother Award 2002 verliehen.

In der Tat gibt es in Deutschland keine wissenschaftlich haltbaren Untersuchungen, ob Videoüberwachung Kriminalität wirklich verhindert oder verdrängt. Dieses wird unter anderen von Prof. Klaus Boers vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster bestätigt. http://www.lit-verlag.de/isbn/3-8258-7317-x. Empirische Aussagekraft wird auch von der Fachhochschule Bielefeld, auf deren Untersuchung sich das Innenministerium letztendlich berufen hat, gar nicht in Anspruch genommen.

Diskussion über Videoüberwachung in Köln

Auch in Köln existieren Pläne, die polizeiliche Videoüberwachung einzuführen. Schon seit Jahren köchelt in der Domstadt ein Streit zwischen den einzelnen Ratsgruppen, etwa zwischen den beiden Regierungsfraktionen CDU und den Grünen. Mit dem Ziel zu beraten, ob die VÜ ein geeignetes Mittel ist, um die Sicherheitslage in Köln zu verbessern, wurden am 14. Juni, kurz nach dem Nagelbombenattentat, Experten angehört. Das Ergebnis könnte nicht unterschiedlicher sein. Die Grünen bleiben bei ihrer Ablehnung. Die CDU, im O-Ton Alfred Kuhlmann, findet weiterhin, der Schutz der Bevölkerung habe einen "hohen Stellenwert" und die Videoüberwachung "bestimmter Orte", etwa eines Parks, in dem sich gewalttätige Übergriffe häuften, sei sinnvoll. Mit dieser Formulierung ist die Kölner CDU von vorherigen Forderungen abgewichen, zentrale Orte der Innenstadt zu überwachen.

Die Kölner Polizei kennt jedoch "momentan keine Örtlichkeit, an der eine Videoüberwachung stattfinden sollte." Es gilt also kein Ort als hinreichender Kriminalitätsbrennpunkt. Nach der Verängstigung der Keupstraße durch die Nagelbombe ist diese mittlerweile höchstens ein sogenannter Angstraum, keinesfalls aber ein Kriminalitätsbrennpunkt. Außerdem sieht die Polizei ganz generell auch einen Bedarf für Beweise, dass Videoüberwachung Kriminalität tatsächlich verringert.

Auf der Kölner Expertenanhörung sprach in der Person von Rainhard Ruprecht auf Vorschlag der CDU auch ein Lobbyist des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI. In einer Mitteilung vom 8. Oktober 2002 monierte der Verband, die Videoüberwachung sei "unzureichend eingesetzt", da die Technik "öffentliche Kassen erheblich entlasten" könne: "Die Hersteller elektronischer Sicherheitstechnik haben der öffentlichen Hand ein wirksames Mittel zur Bekämpfung der Gewaltkriminalität auf Straßen und Plätzen in die Hand gegeben", und es läge jetzt an den Entscheidern, dieses zu nutzen.

Nutzen würde dieses natürlich auch den Herstellern elektronischer Sicherheitstechnik. Eine US-amerikanische Unternehmensberatung schätzt den weltweiten Umsatz von Sicherheitstechnik in 2008 auf knapp elf Milliarden Dollar, den europäischen auf knapp vier Milliarden. Das Geschäft mit neuer Technologie, etwa zur Gesichtserkennung, steht an (Wie eine Seuche). Ob die Videoüberwachung tatsächlich die Kassen entlasten würde, ist zumindest fraglich. Nils Leopold schreibt, laufende Kosten seien "ganz erheblich". Die Stadt Bielefeld hat für die Anschaffung von vier Kameras, die mittlerweile wieder laufen, 30.000 Euro bezahlt. Die monatliche Miete der Standleitung beträgt 250 Euro. Einen Wartungsvertrag gibt es nicht.

Eine Personaleinsparung ist nicht ersichtlich. Der Kölner Polizeidirektor Udo Behrendes sagte auf der Expertenanhörung, wirksamer seien mehr aktive Beamte auf der Straße als passive am Bildschirm. Effektiver als die Videoüberwachung sei also die Präsenz auf der Straße. Auch in der Keupstraße wird nun häufiger Streife gefahren. Nicht zuletzt fordert deshalb auch Alfred Kuhlmann von der CDU, dass Kameras von mehr Streifen begleitet sein müssten.

Erfahrungen aus Großbritannien

Es gibt in Deutschland keine haltbaren Untersuchungen über die Effektivität von Videoüberwachung. Forschungsbedarf sieht Thomas Kubera, Polizeioberrat bei der Bezirksregierung Detmold, vor allem bei Fragen, ob es den allgemein angenommenen Verdrängungseffekt gibt, Kriminalität sich also lediglich verlagert, und zum Sicherheitsgefühl der Bürger, ob eventuelle Maßnahmen den Bürgern vielleicht lediglich das Gefühl geben, sicherer zu sein.

Wenn es Untersuchungen gibt wie aus Großbritannien, dem europäischen Mutterland der Videoüberwachung ("Das ist gesellschaftlicher Verfall"), sprechen sie eher gegen die Maßnahme. Die zusammenfassende NACRO-Studie kam 2002 zu dem Ergebnis, dass VÜ am effektivsten bei der Verhinderung von Fahrzeugverbrechen sei, besonders auf Parkplätzen. Auf Raub oder Gewaltverbrechen schien die VÜ aber den geringsten Effekt zu haben. Manche Studien hätten einen Verdrängungseffekt gefunden. Oft ließen sich Täter aber auch von Kameras nicht von kriminellen Handlungen abhalten.

Obwohl von 1996 bis 1998 drei Viertel des britischen Budgets für Kriminalitätsverhinderung in die Videoüberwachung geflossen sind, ist die Kriminalität nur um fünf Prozent gesunken. In Gegenden, in denen die Straßenbeleuchtung verbessert worden war, ist die Kriminalität hingegen um 20 Prozent zurückgegangen. An Kölner Bahnhöfen, an denen die Verkehrsbetriebe Kameras betreiben, stellt die Polizei sogar eine Zunahme des Diebstahls fest.

Hinzu kommt, dass Kameras Kriminalität im Einzelfall selten verhindern. Selbst wenn eine Straftat im Fokus einer Kamera geschieht, ist nicht gegeben, dass diese auch zu sofortiger Hilfe führt. In Bielefeld erfolgt der "Videoschutz" regelmäßig als "Nebenbeiaufgabe" der Einsatzbearbeiter, die "nicht zu 100 % durch Funkverkehr, Telefonate, Recherchen u.a. ausgelastet" sind. Häufig dient die Aufzeichnung also nur der Ermittlung im Nachhinein. Auch hier macht Kubera die Einschränkung, die VÜ sei zwar eine "interessante technische Ergänzung polizeilicher Arbeit", zur Aufklärung von konkreten Straftaten sei sie aber "offensichtlich weniger geeignet".

Bedrohung der individuellen Handlungsfreiheit

Rena Tangens vom FoeBuD kritisiert, Videoüberwachung sei etwas, mit der "populistische Politiker sich profilieren", indem sie suggerieren, dass sie etwas für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger tun. "Symbolische Politik" sei das. Die Kölner Grünen bezeichnen die VÜ als "abenteuerliche Scheinlösung", bei der vermeintliche Sicherheit teuer erkauft würde. Denn eins ist klar: Wer Videokameras im öffentlichen Raum einführt, treibt die Beschneidung der Bürgerrechte weiter voran.

Denn Kameras im öffentlichen Raum greifen in Jedermanns grundgesetzlich verbrieftes Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht hat das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 bekräftigt:

Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.

Die Videoüberwachung ist das klassische Beispiel einer Bedrohung der individuellen Handlungsfreiheit. Bettina Gayk vom LDI weist darauf hin, dass Kameras zu Verhaltensänderungen führen: "Ich bewege mich ja nicht mehr gleichermaßen frei, wie ich es täte, wenn keine Kamera da wäre." Je dichter das Überwachungsnetz, desto mehr würden auch Freiräume etwa für Demonstrationen und Versammlungen eingeschränkt. Videoüberwachung stellt somit eine Hemmschwelle der demokratischen Partizipation dar. "Man überlegt sich, möchte ich mich so präsentieren, wenn da eine Kamera ist?", gibt Gayk zu bedenken.

Aushöhlung der Unschuldsvermutung und Trend zur Prävention

Man kann sich auch fragen, ob sich Verliebte zum Knutschen gerade einen videoüberwachten Park aussuchen. Die Sorge ist nicht unbegründet. Britische Erfahrungen mit der VÜ zeigen, dass Frauen auch aus voyeuristischer Neugierde beobachtet werden. Außerdem nehmen Überwacher überdurchschnittlich viele Ausländer ins Visier. Die Videoüberwachung geht aber auch schon deshalb einher mit einer schleichenden Aushöhlung der Unschuldsvermutung, da ja Jedermann gefilmt wird, ohne sich etwas zu Schulden habe kommen lassen.

Problematisch sei ferner, so Rechtsanwalt Leopold, dass die Videoüberwachung dem "rechtlich umstrittenen und dogmatisch völlig ungesicherten polizeilichen Aufgabenbereich der sogenannten Gefahrenvorsorge" zuzurechnen sei. Die Videoüberwachung ist ein Mittel präventiver Sicherheitspolitik, wie sie spätestens seit dem 11. September 2001 auf dem Vormarsch ist (Auf dem Weg in einen modernen Polizeistaat?).

Unter dem Eindruck von 9/11 und der Anthrax-Hysterie haben die US-amerikanischen Bürger massiv ihre freiheitlichen Rechte an den Sicherheitsapparat abgetreten (Überwachungsmonster USA). Auch in Europa dominiert die Einstellung, wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten. Nach den Bombenanschlägen auf spanische Züge im März wurden nicht nur in Deutschland (Bahnhöfe wie Flugplätze kontrollieren) und Österreich (Video-Überwachung in Österreich nach britischem Vorbild) und nicht nur von politischer Seite Forderungen nach einer Ausweitung der Videoüberwachung laut.

Der Journalist Hans Leyendecker plädierte am 17. April 2004 in der Süddeutschen Zeitung, der Rechtsstaat müsse angesichts der Erkenntnisse über den islamistischen Terrorismus "bis an seine Grenzen" gehen:

Der Kampf angeblich aufklärerischer Juristen in Deutschland gegen die Videoüberwachung auf Bahnhöfen und Abflughallen ist nicht irgendwie rührend, nicht einmal skurril: er ist fahrlässig.

Terroristen suchen aber bewusst Orte für ihre Anschläge aus, die im Fokus einer Kamera sind, da sie mit blutigen Bildern schockieren wollen. Selbstmordattentätern - auch wenn es mit Ausnahme der Türkei in Europa keine solche Anschläge gegeben hat - würde die Videoüberwachung freilich genau in die Hände spielen. Um ein Land vor Terroranschlägen wie in Madrid zu schützen, wäre eine flächendeckende Überwachung nötig, die laut Aussagen aller Parteien aber niemand will.

Schleichende Flächendeckung

Flächendeckende Videoüberwachung ist in der Hauptstadt der sich zentralisierenden Sicherheitsrepublik schleichend jedoch fast schon Realität geworden ist. Nils Leopold, der zum Thema Videoüberwachung promoviert hat, schrieb 2002 zur Ausbreitung des Videoüberwachungseinsatzes in Berlin:

Die Bundeshauptstadt (...) verfügt (...) bereits heute über einen unübersichtlichen Flickenteppich von durch unterschiedliche Akteure videoüberwachten Räumen: öffentliche Versammlungen werden (...) von den sog. Beweissicherungstrupps der Schutzpolizei videoüberwacht. (...) Die Verkehrsregelzentrale (...) betreibt 90 Kameras (...) Die Berliner Innenstadt etwa wird im Bereich Friedrichstraße/Unter den Linden nahezu umfassend videoüberwacht. (...) Zahlreiche privatisierte Einkaufs- und Vergnügungspassagenbereiche wie zum Beispiel das Sony Center am Potsdamer Platz werden diskret totalüberwacht. (...) Die ca. 10 qkm des Regierungsbezirks werden von einer gemeinsamen Leitstelle von BGS und Landespolizeikräften wohl nahezu umfassend videoüberwacht. (...) Die Bahnhöfe der Deutschen Bahn AG werden im Rahmen des sog. 3-S-Konzepts (Sauberkeit, Sicherheit, Service) heute umfassend überwacht. Der neu erbaute Ostbahnhof allein verfügt über 70 Kamera-Systeme, die auch den gesamten öffentlichen Bahnhofsvorbereich erfassen. (...) Zahlreiche Taxis machen heute wie selbstverständlich Aufnahmen der bei ihnen einsteigenden Fahrgäste. Auch die Humboldt-Universität ist mit 50 Kamerasystemen ausgerüstet.

In bestimmten Bereichen nähere sich auch Berlin in rasantem Tempo einer tendenziell flächendeckenden Überwachung, "wie sie vor kurzem noch für unmöglich gehalten wurde". Eine dieses Geschehen dokumentierende oder gar steuernde Instanz aber fehle komplett. Die Gefahr liege in der "Schaffung einer bleibenden und aufgrund von wachsenden Sachzwängen kaum noch zu beseitigenden technischen Überwachungsinfrastruktur."

Am anderen Ende der Welt, in Neuseeland, ist die Videoüberwachung mancherorts anscheinend schon so flächendeckend, dass den Datenschutzbehörden die Ressourcen ausgegangen seien, um die Entwicklung auch nur zu beobachten. Wenn man durch die Innenstadt spaziert, einkauft, sein Auto einlädt oder Bus fährt, der Große Bruder beobachte einen ständig.

Heutzutage muss man das Buch "1984" von George Orwell nicht einmal gelesen haben um zu wissen, worum es geht. Die Erkenntnis dieses Artikels ist, dass sich eine Infrastruktur zur flächendeckenden Videoüberwachung auch unbewusst und unbeabsichtigt etablieren kann, der sich ein Großer Bruder dann aber bemächtigen könnte.