Die Mär vom Standortwettbewerb

Eigentlich ist's ein alter Hut: Unternehmen konkurrieren, Volkswirtschaften treiben Außenhandel

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Es gibt keinen wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Deutschland und osteuropäischen Ländern, Deutschland und asiatischen Ländern oder Deutschland und den USA. Punkt.

Das Standardbeispiel dafür, wie Außenhandel funktioniert, ist inzwischen 187 Jahre alt und stammt aus David Ricardos Werk mit dem wenig peppigen Titel "Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und Besteuerung".

Ricardo stellt zwei Länder gegenüber: Großbritannien - damals das fortschrittlichste Industrieland der Welt - und Portugal - damals ein agrarisches Entwicklungsland. Und er betrachtet zwei Produkte: Tuch und Wein. Nach Ricardos Annahmen kann Portugal beide Produkte billiger herstellen.

Dass Ricardo den Preis der Produkte durch den erforderlichen Arbeitsaufwand in Mannjahren misst, ist dabei übrigens unerheblich. Jede andere Maßeinheit täte es genauso. Treiben die Länder keinen Handel, kann Großbritannien mit seiner verfügbaren Arbeitsmenge von 220 Mannjahren 100 Tonnen Wein und 100 Tonnen Tuch herstellen. Das billigere Portugal braucht für dieselben Mengen nur 170 Mannjahre.

Findige britische Händler könnten nun auf die Idee kommen, die billigeren Portugiesen dazu zu überreden, auch Tuch für die Briten zu produzieren. Natürlich verlangen die Portugiesen dafür eine Gegenleistung, nämlich britischen Wein. (Der Weinkenner wird schon bei der Vorstellung daran ahnen, dass die Idee der britischen Händler in einem Desaster enden wird.) Die Portugiesen produzieren dann mit allen ihnen zur Verfügung stehenden 170 Männern Tuch und schaffen so 170/90*100 Tonnen = 189 Tonnen Tuch. 89 Tonnen haben sie also für die Briten übrig. Aber sie haben natürlich keinen Anlass ihren Weinkonsum einzuschränken und verlangen von den Briten auf jeden Fall die Lieferung von 100 Tonnen Wein. Die Briten schaffen aber mit ihren 220 Mann nur 183 Tonnen in der Weinproduktion, haben also nur 83 Tonnen übrig. Der Handel funktioniert nicht.

Anders sieht es aus, wenn die Briten von den Portugiesen Wein kaufen. Wenn die Portugiesen alle ihre Leute in den Weinbergen einsetzen, können sie fast 213 Tonnen Wein herstellen und damit den Bedarf beider Nationen locker decken. Umgekehrt können die Briten 220 Tonnen Tuch herstellen, wenn sie sich ganz auf diesen Wirtschaftszweig spezialisieren. Durch den Außenhandel lässt sich der Wohlstand steigern und bei gleichwertigen Handelspartnern kann man auch davon ausgehen, dass dieser Handelsgewinn einigermaßen gerecht in Verhandlungen verteilt wird.

Fazit: Es konkurrieren zwar britische Weinproduzenten mit portugiesischen, und es konkurrieren genauso britische Tuchfabrikanten mit portugiesischen. Diese Konkurrenz führt zum vollständigen Verschwinden der unterlegenen Branche. Es konkurriert aber nicht die britische Volkswirtschaft als Ganzes mit der portugiesischen, sondern sie treiben Handel zum beidseitigen Gewinn.

Auch die einzelnen Branchen konkurrieren nicht auf der Basis ihrer absoluten Lohn- oder Produktionskosten. In Ricardos Beispiel verschwinden die britischen Weinproduzenten, weil sie im Vergleich zu den britischen Tuchproduzenten teurer sind, während die Weinproduzenten in Portugal im Vergleich zu den dortigen Tuchproduzenten billiger sind. Dies ist gemeint mit dem viel zitierten komparativen Kostenvorteil.

Senkung des Stundenlohns rettet langfristig nicht die Arbeitsplätze

Ricardos Beispiel geht von einer Tauschwirtschaft Ware gegen Ware aus. Natürlich war auch schon zu seiner Zeit die Tauschwirtschaft seit Jahrhunderten passee. Berücksichtigt man die Geldströme, ändert sich allerdings nichts an seinen Argumenten. Wenn Siemens Handys, die in Ungarn produziert wurden, in Deutschland verkauft, dann klingelt es in der Firmenkasse - und wenn man genau hinhört, dann bemerkt man, dass es Euros klingelt. Diese Euros kann Siemens nicht in Ungarn ausgeben, denn dort ist der Forint die Landeswährung, sondern nur in der Euro-Zone. Natürlich kann Siemens auch die Euros in Forint eintauschen, um seine ungarischen Arbeiter zu bezahlen, dann hat aber nur jemand Anderes das Problem, die Euros im EU-Binnenmarkt loszuwerden. Er wird keine Handys dafür kaufen, denn die sind ja in Ungarn im Vergleich billiger und werden importiert, aber er wird vielleicht Maschinen kaufen, die für die Handyproduktion benötigt werden, und sie nach Ungarn ausführen.

Also: Das Geld bleibt zwangsläufig - von wenigen Ausnahmen abgesehen - innerhalb einer Währungszone und nur innerhalb dieser besteht Wettbewerb darum, wer es bekommt. Das Fortbestehen eines deutsches Handywerks hängt hauptsächlich davon ab, ob es z. B. gegenüber deutschen Autowerken komparative Kostenvorteile im Außenhandel nutzen kann.

So mag die Senkung des Stundenlohns in den Siemenswerken in Bocholt und Kamp-Lintfort die Arbeitsplätze dort erhalten, aber nur um den Preis, dass bald anderswo und in anderen Branchen Arbeitsplätze gefährdet werden. Dass dies nun gerade nicht in den baden-württembergischen Mercedeswerken geschieht, dafür hat dort der jüngste Hausabschluss durch Lohnkürzungen gesorgt. Man kann den augenblicklichen Run auf größtmögliche Lohnsenkungen auch so erklären.

Im Übrigen: Spätestens mit der Einführung des Euros wurde der Branchenwettbewerb sehr wohl ausgedehnt und spielt sich nun innerhalb der Euro-Zone ab. Aber wer glaubt, dass sich der "Standort Deutschland" gegenüber Frankreich oder Italien durch Lohnsenkungen profilieren kann, denkt zu kurzfristig. Von allen möglichen Quellen, aus denen sich Wettbewerbsvorteile speisen lassen, ist nun gerade die, die Löhne der Beschäftigen zu kürzen, eine Strategie, die sich relativ einfach und ohne großes Know-how imitieren lässt.

Währung als heilige Kuh

Dass Hobby-Ökonomen wie Wolfgang Clement oder Gerhard Schröder die Mär vom globalen Standortwettbewerb trotz allem gerne verbreiten, verwundert nicht. Es ist für sie das bequemste, die Schuld an der hohen Arbeitslosigkeit in ihrem Land bei polnischen oder ungarischen Billigarbeitern abzuladen.

Was bewegt aber studierte Volkswirt wie z. B. den Leiter des Münchener ifo-Instituts Hans-Werner Sinn in dieselbe Kerbe zu schlagen? Nun, in seinem Artikel für die Neue Züricher Zeitung führt er immerhin ein Argument ein, dass Ricardo noch nicht kannte: Der freie Kapitalfluss heutzutage über den ganzen Globus hinweg müsse letztlich dazu führen, dass sich die Arbeitskosten weltweit immer weiter angleichen. Und wo Restriktionen dies verhindern - und dies ist nach Sinn in Deutschland der Fall -, müsse dies mit Arbeitslosigkeit bezahlt werden.

Was der Professor an der Münchener Ludwig-Maximilian-Universität dabei allerdings vergisst: Die Arbeitskosten werden nicht nur durch den Lohnsatz in heimischer Währung bestimmt, sondern genauso durch den Wechselkurs. Theoretisch lässt sich jedes beliebig hohe inländische Lohnniveau durch eine Abwertung der Währung ausgleichen, so dass die Waren international absetzbar bleiben. Dies ist im Übrigen einer der zentralen Punkte Paul Krugmans. Seit 1994 kämpft dieser amerikanische Wirtschaftsprofessor gegen die gefährliche Besessenheit von der Wettbewerbsfähigkeit.

Natürlich hat auch eine Abwertung der Währung unerwünschte Folgen: Die Importe werden teurer und man kann sich weniger von ihnen leisten. Die Last verteilt sich aber auf mehr oder weniger alle und trifft nicht nur die Arbeitnehmer einzelner Branchen. Sie ist damit sozial ausgewogener und gegenüber einer Lohnkürzung zu bevorzugen. Doch hier scheint in Deutschland ein Denkverbot zu bestehen, gerade und insbesondere auch unter Ökonomen. Die Währung, auch wenn sie nicht mehr D-Mark heißt, sondern Euro, ist die letzte heilige Kuh.

Wettbewerb kann nur in einem Binnenmarkt stattfinden

Über die Wechselkurse wird glücklicherweise nicht in Wirtschaftsinstituten entschieden, sondern auf den Devisenmärkten. Betrachten wir einmal die Wechselkurse unserer "gefährlichen" Konkurrenten aus Ostmitteleuropa.

Die Kurse von polnischem Zloty und tschechischer Krone schwanken völlig frei, der ungarische Forint wird von der Budapester Zentralbank innerhalb einer Bandbreite von +/-15% um einen Mittelkurs stabilisiert. Dabei kommt es jedoch regelmäßig zu einer Anpassungen des Mittelkurses, so dass auch der Forint fast frei schwanken kann. Wenn die Eurostaaten nun zu viel aus den Beitrittsländern importieren, bekommen die Unternehmen aus diesen Staaten Euros, die sie in ihre heimischen Währungen umtauschen müssen, um ihre Arbeiter zu bezahlen. Das Angebot an Euros und die Nachfrage nach Zloty, Krone und Forint wird dann zu einer Aufwertung dieser Währungen führen.

Tatsächlich aber fiel der Forint gegenüber dem Euro kontinuierlich in den 90er Jahren und ist nun die letzten 5 Jahre über relativ stabil. Ähnlich sieht es beim polnischen Zloty aus, von 1998 bis in die 1. Hälfte 2002 war der Zloty bei allen Schwankungen relativ stabil, fällt aber seitdem wieder tendenziell. Lediglich die tschechische Krone hatte von Mitte '97 bis Mitte 2002 eine Aufwärtsbewegung zu verzeichnen. Insgesamt liegt ihr Wechselkurs heute kaum über dem Niveau von vor 10 Jahren. Alle langfristigen Währungscharts lassen sich übrigens auch für Herrn Sinn leicht im Internet recherchieren.

Genauso signalisieren die Terms of Trade keine Verschlechterung der deutschen Stellung im Außenhandel. Nach einem Tiefststand im Jahr 2001 sind sie nun wieder auf einem ähnlich hohen Niveau wie 1999 - mit weiter steigender Tendenz (siehe HWWA, dort Seite 2). Die Terms of Trade geben das Verhältnis von Ausfuhrpreisen zu Einfuhrpreisen wieder, also wie viel die Deutschen für ihre Exporte an ausländischen Waren einkaufen können. Je höher die Terms of Trade, desto attraktiver sind deutsche Produkte im Ausland.

Kurz und gut: Die Behauptung, die deutsche Wirtschaft würde durch Importe aus Wirtschaftszwergnationen wie Ungarn, Polen oder anderen ostmitteleuropäischen Staaten bedroht, ist abwegig. Das Gerede vom globalen Wettbewerb ist zum größten Teil eine Mär. Wettbewerb kann nur innerhalb eines Binnenmarktes stattfinden, dort allerdings auch zwischen Handy- und Autoproduzenten um komparative Kostenvorteile im Außenhandel. Die Einflüsse des Außenhandels ließen sich darüber hinaus sozial verträglich über flexible Wechselkurse abfedern.