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Bildung als Selbstbetrug: Gegen die wohlfeilen Urteile im schulpolitischen Diskurs

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Neulich, als Otmar Hitzfeld vor der kniffligen Frage stand, ob er das Angebot des DFB annehmen und Chefcoach der in der Vorrunde schmählich gescheiterten deutschen Elite-Kicker werden soll, soll er beim gemeinsamen Abendessen und nach langer Diskussion zu seinem Biografen und väterlichen Freund, dem Pfarrer Josef Hochstrasser, gesagt haben: Ihn reize zwar die Aufgabe und ehre auch das große Vertrauen, das die DFB-Oberen in ihn setzten, aber auch er könne schließlich aus "Löwenzähnen keine Rosen" zaubern (Rosen aus Löwenzahn).

Dieses Urteil über die Qualität der deutschen Teamspieler aus dem Mund des erfolgreichsten Fußballlehrers der letzten Jahre war nicht nur hart und ehrlich, es verwunderte auch in seiner Offenheit und Härte und verleitete mich zum Nachdenken. Als ich diese Geschichte las, kam mir sogleich die Aussage eines ergrauten Seminarlehrers in den Sinn, der vor über einem Vierteljahrhundert manchen hoffnungsvollen Lehrernachwuchs, der gerade heftig über die mangelnden Kenntnisse und Fähigkeiten der ihm anvertrauten Zöglinge klagte, mit den Worten tröstete, er solle sich nicht zu sehr darüber grämen, schließlich könne man aus Ackergäulen auch keine Rennpferde machen.

Obzwar etliche Meister, Professoren und Schullehrer an der Werkbank, im Hörsaal oder im Klassenzimmer ähnliche Erfahrungen machen wie Hitzfeld auf dem Fußballfeld, werden derlei harsche Töne über die Qualitäten des Nachwuchses öffentlich überhaupt nicht gern gehört. Weder bei Kommentatoren, Leitartiklern und so genannten "Fachleuten" in den Medien, noch bei Gutmenschen und (und vor allem) bei Pädagogen und ihren Dienstherren. Dort wie hier gelten derlei Wertungen, Vergleiche oder Zuordnungen als moralisch bedenklich, zynisch oder gar als besonders Menschen verachtend.

Pädagogischer Optimismus, also die Vorstellung, allen alles beibringen zu können, ist hier zu Lande längst allgemeiner Konsens und in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben worden. Von kognitiven Grenzen, die die Natur (trotz kultureller Bedingtheiten oder sozialer Befindlichkeiten) den intellektuellen und/oder handwerklichen Vermögen des Humanums gesetzt hat, spricht man lieber nicht oder nur (siehe oben) beim Abendessen oder hinter vorgehaltener Hand. Im öffentlichen Raum gilt dagegen die Devise: Nicht ist, was nicht sein darf. Und dieses Sprechverbot hat Gründe.

Bildungswut

Spätestens seit dem "Sputnik-Schock" und der Gründung des Deutschen Bildungsrates Mitte der 1950er und 1960er Jahre; und spätesten seit der Suche nach "neuen Begabungsreserven" in Arbeiterschichten und Arbeitermilieus, die Wolfgang Roths folgenreichem Diktum, dass "Begabung begaben" zu heißen habe, vorausging, ist das reformpädagogische Genre (oder Gerede?) massentauglich geworden. Nach und nach hat es die wichtigsten Köpfe der Nation infiziert, Journalisten, Politiker, Psychologen usw.

Um das allgemeine Bildungsniveau zu heben, die Lebenschancen junger Menschen und deren soziale Lebenswelten zu verbessern und Schüler, Auszubildende und Studenten für die Herausforderungen von morgen fit zu machen, müsste man ihnen nur genügend Lernzeit einräumen (Ganztagsschule, Rund-um-die-Uhr-Betreuung), soziale Ungleichheiten und Widerstände beseitigen (Herkunft, Milieu, Restricted Codes ...) und für kognitiv anregende Lernumwelten (offene Klassenzimmer, Projektarbeit ...) sorgen. Würde der Staat ferner noch geeignete Lehr- und Lernmittel (Bücher, Geräte, Medien) bereitstellen, die Unterrichtsorganisation (Schulen, Lehrpläne) spürbar verbessern und letztendlich auch noch gut qualifiziertes und hoch motiviertes Personal (Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter) zur Verfügung stellen, die wie andere 24-7 Junkies sich Tag und Nacht den Kopf über das Fortkommen ihrer Zöglinge zerbrechen, würden über kurz oder lang auch die entsprechenden Begabungen wie Pilze aus dem Boden schießen.

Evaluationswut

Von solchem allzu platten Rousseauismus ist man über die Jahre jedoch abgekommen. TIMSS und PISA haben gezeigt, dass weder mit Summerhill-Pädagogik und Laissez-faire, mit Kinderladen-Romantik und Kuschelrock, noch mit Rahmenrichtlinien und Gesamtschulen (in den rot regierten Ländern) oder Zentralprüfungen und Dreigliedrigkeit (in den schwarz regierten Ländern) das Bildungsniveau des Nachwuchses merklich gehoben und Manager und Nobelpreisträger am Fließband produziert werden können.

Die Konsequenz aus diesem Desaster ist eine schier nicht enden wollende Evaluationswut. Durch ständige Qualitätskontrollen und Leistungsvergleichstests will man Bildungsstandards in den hiesigen Lehr- und Lernanstalten messen und überprüfen; mit der Verkürzung der Schulzeit, der Ausdehnung des Schulalltags und der Autonomisierung des Schulwesens will man die Lernzeiten erhöhen und die Verweildauer an den Schulen senken; und mit dem Angleichen, Vernetzen und Entrümpeln von Lernplänen, der Straffung der Lehrerausbildung und der Einführung neuer Lehr- und Lernformen will man das Bildungsangebot effektiver gestalten.

Der Verdacht drängt sich auf, dass damit eher die Bürokratie aufgebläht, als dass das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem in neue, unbekannte Leistungshöhen geführt wird. Und in der Tat ergießt sich seit PISA, während Schulverlage Schulbücher auf "PISA-Wissen" trimmen, eine Flut von Verordnungen und Anweisungen, Empfehlungen und Verpflichtungen über Lehrer, Schulleiter und Professoren, die dem Freiraum, den man Lehrern wie Schülern gewähren will, Hohn sprechen.

Erziehungswut

Darüber hinaus will man sowohl in den Behörden als auch in der öffentlichen Meinung erkannt haben, dass mit Spaß und mit gutem Zureden allein, Kinder und Jugendliche nicht zu mehr Anstrengung, Wertorientierung und Leistungsbereitschaft zu bewegen sind. Um Talente zu fördern und Führungspersonal zu rekrutieren, die Deutschlands Bedarf an Wissen, Ideen und Patenten decken, braucht es neben neuer Unterrichts- und Lernformen, vernetzter Lehrpläne und der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen eben auch starke Hände: Pädagogen etwa, die "Mut zur Erziehung" zeigen, Erwachsene, die Kindern auch mal die Grenzen ihres Tuns aufzeigen, Lehrer, die ihren Zöglingen wieder Werte vermitteln, die sie selbst Tag für Tag im Unterricht vorleben.

Dass plötzlich "Kopfnoten" und "Benimm-Unterricht" fröhliche Urstände feiern, über die Einführung von Schuluniformen ernsthaft und ausführlichst diskutiert wird (auch im Feuilleton) und ausgerechnet das öffentlich-rechtliche Fernsehen Serien annonciert ("Die harte Schule"), in denen der heutigen Schülergeneration gezeigt wird, wie früheren Generationen Mores gelehrt wurde (Lehrer mit Hang zum Drill gesucht), verwundert daher nicht. "Die Sendung ist etwas Ur-Öffentlich-Rechtliches, sie bildet und unterhält", sagt denn auch Susanne Krummacher, die verantwortliche Redakteurin vom ZDF: "Wir leisten damit einen Beitrag zur aktuellen Bildungsdiskussion."

Niveausenkung

Ob jedoch mit rigideren Erziehungsstilen, offenen Unterrichtsformen, Dezentrierung der Schulaufsicht, vernetztem Denken, ständigen Lern-, Leistungs- und Vergleichstests usw., die Leistung des Bildungswesens insgesamt gehoben, die erhofften Talente gefunden, gefördert und gebildet und Spitzenkräfte dadurch geformt werden können, steht in den Sternen. Nirgendwo klaffen Anspruch und Wirklichkeit, also zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, so weit auseinander wie in der Bildung. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt dies.

Längst ist man nämlich gezwungen, von Jahr zu Jahr das schulische Anspruchs- und Bildungsniveau zu senken. Da ein hoher und ständig weiter wachsender Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen kaum noch fähig ist, Texte richtig zu lesen, einen vernünftigen deutschen Satz zu formulieren oder komplexere Aufgaben selbstständig zu lösen, OECD-Studien und Elternschaft aber die Mehrung von höheren Abschlüssen für junge Leute oder ihre Schützlinge (Abitur, Mittlerer Bildungsabschluss) anmahnen oder verlangen, ist man seitens der Kultusbehörden dazu übergegangen, a) die Zugänge an die höheren Schulen teilweise oder ganz dem Elternwillen freizugeben, und b) die Forderungen an den jeweiligen Anstalten drastisch zurückzufahren.

Lehrer, die an Gymnasien, Realschulen oder Hauptschulen unterrichten, sagen übereinstimmend, dass sie Aufgaben und Tests, die sie noch vor Jahren ihren Schülern abverlangt haben, heute in ihren Klassen nicht mehr halten können. Der Klassenschnitt würde in Bereiche abdriften, die kein Rektor der Welt absegnen würde. Beispielsweise ist über ein Drittel der versammelten Schülerschaft nicht in der Lage, den Lehr- und Lernzielen, die der jeweilige Schultyp ihrer Kundschaft abverlangt, zu genügen, geschweige denn zu folgen. Viele davon können sich nur mit Nachhilfeunterricht "über Wasser halten".

Statt Eignungstests für alle wiedereinzuführen und dadurch den Zugang zu den höheren Schulen besser zu steuern, lässt man sie erst dorthin, um nach Jahren dann doch festzustellen, dass sie für diesen Schultyp gänzlich ungeeignet sind. Die Folge ist meist ein blindwütiger und mehrjähriger Schultourismus, der Schüler vom Gymnasium über Internate und private Schulen oder über Realschule und dann doch vielleicht wieder Fachoberschule wieder zurück in die Hauptschule führt. Viele Eltern stoßen sich daran aber nicht. Selbstverständlich nehmen sie immer die höchsten Hürden für ihre Sprösslinge in Angriff, ob sie intellektuell dafür geeignet sind oder nicht.

Leistungsunwillen

Die Gründe für diese hohe Abbrecherquote trotz ständiger Niveausenkung sind vielfältig. Sie sind ein Problem und Phänomen "satter Gesellschaften" und dürften daher in allen OECD-Staaten ziemlich ähnlich gelagert sein. Neben genetisch bedingten, intellektuell limitierten Fähigkeiten und Fertigkeiten beim Nachwuchs, der aber wider besseren Wissens an die höheren Schulen drängen, sorgen vor allem Schweine-TV und Mode-Schnickschnack, zerrüttete Familienverhältnisse und neue Freizeit- und Eventkultur, Zuzug von Migranten mit mangelnden Sprachkenntnissen und der Clash of Civilization dafür, dass eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen zu "mönchischen Lebensformen" mit Freizeitausgleich, wie sie etwa private Internatsschulen anbieten und womit beispielsweise die gymnasiale Stufe nach wie vor kalkuliert, kaum noch fähig sind. Für sie bilden Spaß und Konsum, Sex und Mode den Mittelpunkt ihres Lebens.

Ohne ein hohes Maß an Selbstdisziplin, Askese und Demut, ohne Ausdauer, Zähigkeit und Ernsthaftigkeit im Üben und Aneignen von Lernstoff, und ohne verantwortliche Eltern und Erzieher, die ihre Zöglinge dazu anhalten, sind die neuen Zidanes und Hawkings, Luhmanns und Wiedekings, die Deutschland Hände ringend sucht und braucht, aber nicht zu finden.

Bewahrdiskurs

Unterfüttert wird das alles von einem bewahrpädagogischen Diskurs, der weniger die Talent- und Elitenförderung und die Auslese und Zuteilung von Individuen vor Augen hat als vielmehr Chancengleichheit, sozialen Ausgleich und Menschenbildung. Ihm wird meist von einer Psychologen-Fraktion gehuldigt, die ständig vor den seelischen Folgen allzu hoher Leistungsforderungen warnt.

Nicht nur, dass sie am liebsten Kinder und Jugendliche vor schlechten Noten und allzu gestrengen Erziehern "schützen" und die Notengebung gänzlich abschaffen möchten, damit die seelische Entwicklung und freie Entfaltung des Individuums davon nicht gestört werden. Überall entdecken sie auch neue Ursachen für mangelnden Lern- und Leistungswillen, Dyskalkulien und Hyperaktivität, Lese-Rechtschreibversagen und andere Verhaltenauffälligkeiten, die Misserfolge oder Lernunlust erklären oder rechtfertigen. Mittlerweile dürfte jeder dritte oder vierte Schüler mit einem solchen Vermerk in den Schulakten geführt werden.

Und weil dies so ist, dadurch das Notenbild "geschönt" werden kann, schrecken besonders findige oder "bildungshungrige" Eltern längst nicht mehr davor zurück, ihrem lern- oder leistungsschwachen Kind durch die Ausstellung eines amtsärztliches Zeugnisses über Legasthenie oder andere "Krankheiten" den Übertritt an eine weiterführende Schule doch noch zu ermöglichen. Ärzte und Psychologen, die das bestätigen, findet man überall.

Jüngstes Beispiel für diesen bewahrpädagogischen Geist ist die leidige Debatte um die "Ganztagsschule", wo bei den Leuten gar die abwegige Hoffnung geweckt wird, das bestehende Unterrichtswesen führe zum Bildungserfolg, wenn man die Schüler nur lange und pausenlos genug in seinen Genuss kommen ließe.

Wäre dem so, dann müssten Franzosen, Engländer und Amerikaner bildungsmäßig erheblich besser dastehen als die Deutschen. Genau das ist aber nicht der Fall, weswegen sich die Ganztagsschule nach ihrer Einführung in ein paar Jahren als großer Rohrkrepierer präsentieren wird. Wieder wird man viele Milliarden in den Sand gesetzt haben und Pädagogen und Wissenschaftler, die dieses Mem verbreitet haben, ungeschoren davon kommen. Längst wäre es angebracht, dass auch in diesem Genre Haftungsklauseln eingeführt würden, die Erziehern mehr Bodenhaftung gäben und sie vor allzu hochfliegenden Träumen bewahrten.