Geschichten aus dem orthografischen Märchenwald

7 Lügen über die Rechtschreibreform

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Seit Wochen wird wieder über die Rechtschreibreform diskutiert - und diese Diskussion treibt immer seltsamere Blüten. Denn nicht überall, wo das Etikett "Rechtschreibreform" drauf klebt, ist auch eine solche drin. Stattdessen werden Legenden aufgetischt und munter weiter verbreitet.

Wer sich mal ein wenig eingehender mit der angeblichen "Schlechtschreibreform" auseinandergesetzt hat, der reibt sich seit Tagen verwundert die Augen. Die BILD hat uns in dieser Woche erst 7 Wahrheiten über die Schlechtschreib-Reform aufgetischt. Kaum jemandem fällt noch etwas Positives zu dieser Reform ein; das wiederum fällt uns offenbar erst nach sechs Jahren ein. Oder auf. Dabei werden aber auch angebliche Fakten über die Rechtschreibreform verbreitet, die gar keine sind.

1. "Die Rechtschreibreform greift massiv in unsere schöne deutsche Sprache ein und verändert sie."

Es ist nun wahrlich nicht ehrenrührig, wenn jemand kein ausgeprägtes "metasprachliches Wissen" hat, wie das Sprachwissenschaftler nennen würden, also nicht allzu viel über seine Sprache weiß und auch nicht großartig darüber nachdenkt. Tatsache ist aber: Das Wort "Sprache" hat etwas mit "sprechen" zu tun, das leuchtet jedem ein. Mit der Rechtschreibreform ändert sich aber nicht unsere "Spreche", sondern nur unsere "Schreibe" - und die auch nur in einigen wenigen Fällen.

Nun mag man einwenden: "Aber die Schrift gehört doch auch zur Sprache!" Auch das ist zweifellos richtig. Jedoch macht die Schrift eben nicht die Sprache als Ganzes aus. Allenfalls ändert sich ein Teil der Sprache - ein kleiner noch dazu. Von einem massiven Eingriff zu sprechen, ist somit nur eines: maßlos übertrieben, reine Panikmache und unqualifiziert.

2. "Die Rechtschreibreform wird uns armen Bürgern einfach aufgezwungen, kein Mensch hat uns gefragt, ob wir so schreiben wollen."

Ja, wirklich gefragt worden dürften die wenigsten sein. Aber sind Sie jemals gefragt worden, ob Sie "daß" anstatt "dass" schreiben wollen? Sind Sie jemals gefragt worden, ob Sie nicht vielleicht doch lieber alles klein schreiben würden? Natürlich nicht. Trotzdem haben wir es akzeptiert, die einen mehr, die anderen weniger, viele haben es bis heute nicht kapiert.

Auch von einem "Aufzwingen" kann eigentlich keine Rede sein: Die Rechtschreibreform ist streng genommen nur für diejenigen verpflichtend, die auch für Verstöße dagegen zur Verantwortung gezogen werden können. Das sind in erster Linie Schüler, in einem weiteren Sinne noch Lehrer, und darüber hinaus nur Menschen, die mit dem Verfassen offizieller Mitteilungen in Schriftform betraut sind. Kurz gesagt: Die Rechtschreibreform betrifft zunächst nur Schüler, Beamte und Verwaltungsangestellte. Jeder andere kann die deutsche Sprache auch in griechischen Buchstaben schreiben oder in chinesischen Schriftzeichen, wenn er meint, dass seine Leser damit zurecht kommen. Die Rechtschreibung ist somit reine Konvention, an die man sich halten kann oder nicht.

Und ganz sicher ist: Wer weiterhin die alte Rechtschreibung verwendet, wird schlimmstenfalls als wenig modern wahrgenommen. In den meisten Fällen wahrscheinlich nicht einmal das. Nur Schüler haben ernsthafte Sanktionen zu befürchten, wenn sie sich nicht an die neuen Regeln halten. Wer nicht schreiben MUSS und wer auch nicht für die große Öffentlichkeit schreibt, kann sich entspannt zurücklehnen, denn die Rechtschreibreform beleidigt allenfalls sein Auge.

Nebenbei bemerkt: Sicherlich wäre eine Volksabstimmung eine feine Sache gewesen. Vor allem wären bei dieser Gelegenheit vielleicht auch mal die Vorteile der Reform kommuniziert worden. Betrachtet man sich aber die Gruppen, für die sie verpflichtend ist, dann erscheint ein solches Vorgehen fast schon unsinnig, schließlich müsste man dann nach der gleichen Logik die Schüler auch über Lehrplanänderungen und Schulreformen abstimmen lassen, Angestellte und Beamte müssten demzufolge auch befragt werden, ob sie beispielsweise einer Verlängerung ihrer Wochenarbeitszeit zustimmen würden.

3. "Wir müssen künftig lauter idiotische Schreibweisen wie 'Delfin' (anstatt 'Delphin'), 'Fantasie' (anstatt 'Phantasie'), 'Krem' (anstatt 'Creme'), 'Krepp' (anstatt 'Crêpe') und 'Spagetti' (anstatt 'Spaghetti') schreiben."

Müssen wir das wirklich? Machen Sie einen Test: Tippen Sie doch einfach die zitierten Wörter in beiden Schreibweisen in ein beliebiges Textverarbeitungsprogramm ein und lassen Sie Ihren Computer - mit reformierter Rechtschreibung natürlich - korrigieren. Wie viele Fehler hat der Computer gefunden? Falls das Korrekturprogramm korrekt arbeitet und auf dem neuesten Stand ist, sollte dieses kleine Diktat null Fehler aufweisen.

Die neuen Schreibweisen, die vielen der oft zitierte Gräuel sind, sind einfach Varianten - beides ist jeweils richtig. Wir können diese Fremdwörter eindeutschen ("Delfin", "Fantasie", "Krem", "Krepp", "Spagetti"), wir können es aber auch bleiben lassen. Durch die Rechtschreibreform hat sich hier nichts grundlegend geändert. Das war schon immer so: Fremdwörter werden aus anderen Sprachen übernommen, und nach einer gewissen Zeit werden sie in einigen Fällen auch an unsere Rechtschreibung angepasst. Meistens existieren dann beide Varianten eine Zeit lang nebeneinander. Deswegen haben wir auch früher schon "Affäre", "Fitneß", "Foto", "Porträt" und "Telefon" geschrieben - oder eben "Affaire", "Fitness", "Photo" und "Telephon". Einige dieser Varianten gelten heute als hoffnungslos veraltet und waren das auch schon vor der Reform, andere wie "Fitness" erleben durch die geänderte ss-Regel eine Art Renaissance.

Es kann sein, dass uns unsere Kinder eines Tages auslachen, wenn wir "Delphin" und "Creme" schreiben - aber vorerst bewegen wir uns damit voll und ganz im Rahmen der neuen deutschen Rechtschreibung und können so weiter machen wie bisher. Übrigens: Die Schreibweise "Krem" ist nicht erst seit der Rechtschreibreform erlaubt, sondern existiert schon länger... Dass es verschiedene Varianten für ein Wort gibt, ist nicht neu. Neu sind nur bestimmte Varianten - ob sie sich letztendlich durchsetzen, entscheiden keine Kommissionen, keine Politiker, sondern nur diejenigen, die diese Varianten verwenden - oder eben nicht.

4. "Zusammengesetzte Substantive werden abgeschafft."

Es ist richtig: Man kann nach der Reform jetzt auch Substantive durch Bindestriche verbinden, wenn man das für sinnvoll hält. Nur gilt auch hier: Niemand muss von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen. Ich kann also "Bindestrichschreibung" schreiben, aber auch "Bindestrich-Schreibung", wenn ich das für sinnvoll halte.

Bei manchen Wortungetümen wie der "Donaudampfschifffahrtsgesellschaft" schaffen so ein paar Striche auch Übersicht und untergliedern das Wort, das macht es lesbarer: "Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft". Nach wie vor nicht erlaubt ist aber das Deppenleerzeichen - auch wenn es möglicherweise immer weiter um sich greift (Das Deppen-Leerzeichen).

5. "Vor allem Schriftsteller und Journalisten sind gegen die Reform - und die verstehen ja wohl etwas von Sprache."

Niemand will den Herren Grass, Reich-Ranicki, Aust, Diekmann und allen anderen, die sich in der Diskussion hervorgetan haben, ein gewisses Sprachverständnis absprechen. Aber: Auch für diese gilt: Wie sie schreiben, das ist eine Sache zwischen ihnen und ihren Verlagen und gelegentlich auch ein Stilmittel.

Es gibt genügend Schriftsteller, die nur in Kleinbuchstaben schreiben, die taz erschien am vergangenen Donnerstag ebenfalls komplett in gemäßigter Kleinschreibung. Keiner verbietet also irgendwelchen Medienhäusern, ihre ganz persönliche Orthografie zu entwickeln und umzusetzen. Mit anderen Worten: Hier melden sich lautstark Menschen zu Wort, die gar nicht betroffen sind, wie man in der zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission offenbar weiß, aber eben nicht annähernd so lautstark kommuniziert. Der neue Feldzug gegen die Reform ist damit nichts weiter als der letzte Feldzug zorniger alter Männer und junger Polemiker...

6. "Die Reform stiftet nur Verwirrung. Das sieht man jeden Tag in den Print- und Online-Medien, da wimmelt es nur noch so von Fehlern."

Ob es wirklich von Fehlern wimmelt, wäre zu prüfen. Nicht an jedem Fehler ist gleich die Rechtschreibreform schuld. Schuld ist daran beispielsweise auch die Medienkrise, die in vielen Verlagen zur Abschaffung der Schlusskorrektur geführt hat.

Vier Augen sehen mehr als zwei - und wenn der Redakteur, der vor der Veröffentlichung noch einmal über ein Manuskript gelesen hat, eingespart wurde und sein Kollege sowieso schon die doppelte Arbeit macht, dann schleichen sich mehr Fehler ein. Außerdem richtet man sich bei der Reformierung der Texte auch meistens nur nach dem Computer. Dass der manchen Text "verschlimmbessert", wenn man ihn nur lässt, das weiß jeder, der mal eine Rechtschreibkorrektur in Aktion erlebt hat.

7. "Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen ist gegen die Rechtschreibreform."

Laut Forsa bzw. BILD vom 28.7.2004 sind es aktuell 55 Prozent, die zur alten Rechtschreibung zurückkehren wollen. Seltsam ist aber, dass das gleiche Meinungsforschungsinstitut in einer Umfrage für RTL laut STERN vom 7.8.2004 zu dem Schluss kommt, 75 Prozent seien für eine Rückkehr zu den alten Regeln. Das macht einen Zuwachs von 20 Prozentpunkten bei den Reformgegnern innerhalb von zehn Tagen. Ein Schelm, wer da an wüste Meinungsmache denkt...

Außerdem geht aus diesen Umfrage-Meldungen nicht hervor, welche Alternativen die Befragten angeben konnten. Wenn jemand die Rechtschreibreform in der geltenden Form ablehnt, heißt das ja noch lange nicht, dass er/sie einer Rückkehr zu den alten Regeln uneingeschränkt zustimmen würde. Darüber sagen die Zahlen auch nichts darüber, was sich diese 55 bzw. 75 Prozent unter alter Rechtschreibung vorstellen. Um sie als seriöses Argument gelten zu lassen, müsste man bei derlei Statistiken beispielsweise wissen, wie intensiv sich die Interviewten mit dem Reformwerk überhaupt befasst haben, auf gut Deutsch: Wissen die Befragten, wovon sie reden?

Eines aber zeigen diese Umfragen ebenfalls sehr deutlich: Die Jüngeren (unter 30) lehnen die Reform entschieden weniger überwältigend ab, als die Schlagzeilen es vermuten lassen. Nach den Meldungen vom 28. Juli stimmen sie der neuen Rechtschreibung sogar überwiegend zu. Mit anderen Worten: Es ist ein Problem der älteren Mitbürger, die - wie schon geschildert - zum größten Teil überhaupt nie in die Situation kommen werden, sich ernsthaft nach irgendwelchen Orthografieregeln richten zu müssen.

Echte Studien zur Akzeptanz der Reform, die diesen Namen auch verdienen, scheinen nicht zu existieren - zumindest keine, von denen der Deutsche Lehrerverband wüsste, wie dessen Vorsitzender Josef Kraus erst kürzlich dem Deutschlandfunk berichtete.

Eines ist klar: Für alle, die sich bei ihren orthografischen Versuchen nach dem "amtlichen Regelwerk" richten müssen (Schüler, Lehrer, Verwaltung, etc.) führt an der Rechtschreibreform erst einmal kein Weg vorbei. Wenn aber durch eine Einzelaktion einiger weniger Verlagshäuser auf einmal die ganze Reform auf der Kippe steht, dann hätten diese Medienkonzerne ihre Reformverweigerungsmacht auch als Reformmodifizierungsmacht einsetzen und die schlimmsten Auswüchse verhindern können. Sprache ist schließlich lebendig - und wenn keiner eine unsinnige Variante verwendet oder alle eine idiotische Neuerung boykottieren, dann wird diese auch schnell wieder aus den Wörterbüchern verschwinden.

Anstatt also eine Rückkehr zur alten Rechtschreibung (mit all ihren Schwächen und Ungereimtheiten) großspurig anzukündigen - und nach einer satten Woche immer noch nicht umzusetzen, siehe BILD, SPIEGEL und SZ - hätte man sich auch einfach auf eine Art "gemäßigte Reform" einigen können. Dazu wären keine jahrelangen Beratungen in zwischenstaatlichen Kommissionen nötig - schließlich ist die "alte" Rechtschreibung schon über 100 Jahre alt -, geändert hat sich durch den alltäglichen Schriftgebrauch in all diesen Jahren vieles, auch ohne langwierige Verhandlungen. Also warum gleich das Kind mit dem Bad ausschütten?