"Ein totaler, grausamer Krieg"

Die Spirale des Terrors: Die russische Regierung versucht ganz nach dem Stil der US-Regierung, das Blutbad von Beslan innen- und außenpolitisch auszubeuten

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Wahrscheinlich bis zu 500 Menschen, darunter viele Kinder, sind bei der letzten Massengeiselnahme - eine Form des Terrors, der in Südrussland schon seit Jahren immer wieder und zuletzt im Theater in Moskau praktiziert wurde - gestorben, Hunderte von Menschen wurden verletzt. Fast alle also wurden zum Opfer der Geiselnehmer und der Sicherheitskräfte. Vieles an dem gesamten Vorgang, der in das grässliche Blutbad mündete, ist noch unbekannt und dürfte dies auch bleiben, wenn es nach der russischen Regierung geht (Berichterstattung ist "nationale Schande"). Die Terroristen haben demonstriert, dass ihnen Menschenleben - auch ihr eigenes - nichts wert ist, aber eben dies hat auch Präsident Putin nach dem Giftgaseinsatz (Das Gespenst aus der Flasche befreit?) noch einmal vorgeführt, wenn auf die missglückte, aber als Erfolg bezeichnete Erstürmung einzig die Ausrufung des Kriegs und die weitere Aufrüstung folgen sollen. Weitere Blutbäder sind in diesem zynischen Machtspiel von beiden Seiten vorprogrammiert.

Es gibt noch viele Ungereimtheiten und Spekulationen über den Ablauf des Geiseldramas. Dazu gehört auch die Identität der Terroristen. Obwohl es anfangs hieß, dass einige Terroristen entkommen seien, weswegen die Stadt und die Landesgrenzen abgesperrt wurden, wurde auch gesagt, dass alle Terroristen tot seien. Die Rede ist aber auch davon, dass drei Terroristen gefangen genommen worden seien. Aber so ist die Informationslage in Russland, in dem seit Putin wieder die Regierung möglichst die Medien zu kontrollieren sucht, vor allem was die Berichterstattung über Tschetschenien und Ereignisse wie die Geiselnahme betrifft.

Einige der Terroristen, angeblich 10, seien Ausländer, arabische Menschen. Das soll für den internationalen Terrorismus sprechen. Aber ebenso wie bereits in Afghanistan Muslims aus vielen Ländern - und mit Unterstützung der USA - gegen die Russen als Besetzer kämpften, sind Tschetschenien, Inguschetien oder Ossetien mittlerweile nur Länder einer Region unter vielen, in denen Muslims gegen Besetzer kämpfen und sich im Kampf immer stärker den Fundamentalismus als Legitimation und Einheit sowie dem Terrorismus als Mittel in den asymmetrischen Konflikten mit überlegenen Mächten aneigneten.

Was immer auch die Terroristen erreichen wollten, sie haben es wieder einmal geschafft, eine besonders spektakuläre und blutige Tat zu verwirklichen, die den Maßstab des Vorstellbaren weiter nach oben setzt. Es war die tödlichste Geiselnahme, die es je gegeben hat. Der seit Afghanistan, dem Irak und dem Nahen Osten insgesamt ein wenig aus der Medienöffentlichkeit herausgefallene Krisenherd wurde so wieder in die internationalen Medien und die globale Aufmerksamkeit katapultiert. Denkbar sind in der Logik der Überbietung zur Aufmerksamkeitsbeschaffung immer brutalere Anschläge, aber das Erzielen von Aufmerksamkeit alleine bringt die Erfüllung der möglicherweise verfolgten politischen Ziele nicht notwendig mit sich, sondern kann, wie im Fall von Beslan, auch bei Anhängern der Forderung nach Unabhängigkeit Tschetscheniens Abscheu hervorrufen.

Aber Terrorgruppen lösen sich, wenn die Kämpfe lange genug gehen, von jeder konkreten politischen Verantwortung ab und handeln nur noch nach der Logik des eigenen Überlebens oder Erfolgs. Das lässt sich am besten im palästinensisch-israelischen Konflikt, aber auch in Tschetschenien selbst sehen. In beiden Fällen wächst mit der Zahl und dem Ausmaß der Terroranschläge auch die Härte der Vergeltungsmaßnahmen oder umgekehrt: Ist ein gewisser Punkt überschritten, so scheint ein Ausweg aus der Spirale immer unmöglicher zu werden. Ein Problem dabei ist nicht zuletzt die Konkurrenz der Terrorgruppen untereinander, die auch zur Aufschaukelung der Anschlagspläne beitragen und schließlich im reinen Terror münden kann.

Viele offene Fragen

Welche Ziele die Terrorgruppe, die nicht zuletzt nach der Massengeiselnahme im Moskauer Theater (Der Mediencoup im Theater), damit rechnen musste, von den russischen Sonderkommandos vernichtet zu werden, tatsächlich hatte, ist bislang auch nicht wirklich bekannt geworden. Die russischen Sicherheitskräfte sagen, es wurden von den Terroristen keine klaren Forderungen gestellt, andererseits heißt es, es wäre von ihnen die Unabhängigkeit Tschetscheniens, der Rückzug der russischen Armee oder auch die Freilassung von gefangenen Terroristen in Inguschetien gefordert worden. Angeblich haben die Terroristen ein Videoband mit ihren Forderungen dem ehemaligen Präsidenten von Inguschetien, Ruslan Aushev, mit der Bitte übergeben, dieses an Putin weiter zu leiten. Bislang ist aber über dieses Band nichts weiter bekannt geworden. Angeblich sollen die Geiselnehmer selbst in der Schule gefolmt haben, möglicherweise für den Zweck, ein Propaganda-Video über den blutigen "Erfolg" herzustellen.

Unklar ist weiterhin, wie die Schießerei begonnen hatte, die mit der Erstürmung und dem Blutbad endete. Die offizielle Version ist noch immer, dass die russischen Sicherheitskräfte keinen Angriff geplant und ihn dann spontan begonnen hätten, nachdem Terroristen auf flüchtende Geiseln geschossen hätten. Der Angriff mag vorzeitig ausgelöst worden sein, möglicherweise durch eine zufällige Detonation, wie es auch heißt, aber man kann davon ausgehen, dass es auf jeden Fall Pläne gegeben haben wird, die Schule zu stürmen und damit ebenfalls das Leben der vielen Geiseln zu riskieren. Die Regierung hatte versucht, deren Zahl gegenüber der Öffentlichkeit möglichst lange möglichst klein zu halten.

Wie in der russischen Online-Zeitung Gazeta.ru vermutet wird, hatten die Sicherheitskräfte spätestens für den vierten Tag einen Angriff vorbereitet, weil dann auch das Überleben der Geiseln ohne Essen und Trinken gefährdet wäre. Dafür würde sprechen, dass die Geheimdiensteinheit Alpha, die auch das Moskauer Theater mit zahlreichen Opfern durch den Einsatz von Giftgas erstürmt hatte, direkt neben der Schule stationiert gewesen und auch als erste in die Schule eingedrungen sei. Und ob es überhaupt ernsthafte Verhandlungen mit den Terroristen gegeben hat, wird auch bezweifelt.

Die scharfe Reaktion der russischen Regierung auf den holländischen Außenminister Bernard Bot, dem derzeitigen Vorsitzenden der EU-Außenminister, könnte ebenfalls vermuten lassen, dass die russische Regierung Einzelheiten über das Fiasko im Verborgenen halten will, wie sie dies auch zuletzt, wenn auch mit wenig Erfolg, beim Fiasko im Moskauer Theater versucht hat. Bot hatte die russische Regierung gebeten, genauer über den Hergang der Geiselnahme zu informieren, "um besser helfen zu können, den Terrorismus in jeder Form überall auf der Welt bekämpfen zu können". Das russische Außenministerium teilte daraufhin mit, es sei "bestürzt und empört" über die Anfrage. Die "unangemessenen Kommentare" des niederländischen Ministers seien "gelinde gesagt abscheulich" und zu einem großen Teil beleidigend.

Das Blutbad dient als Bestätigung der falschen Politik

Putin scheint jedenfalls weiterhin entschlossen zu sein, die Geiselnahme und deren schreckliches Ende politisch für eine Verschärfung seiner Politik der Stärke auszuschlachten (Person als Politik). Dabei bedient er sich, wie er dies auch schon zuvor gemacht hat, einer ähnlichen Argumentation wie US-Präsident Bush nach dem 11.9. (Russland will seinen Kampf gegen den Terrorismus im Stil von Bush ausweiten). Kein Wort verliert Putin über den Hintergrund der Anschläge, die sich in der letzten Zeit trotz seiner weitgehend unveränderten Tschetschenienpolitik vermehrt haben, dafür spricht er von einem nebulösen "Angriff auf unser Land" durch einen ebenso im Nebulösen bleibenden internationalen Terrorismus, gegen den alle Russen zusammen stehen müssen.

Wir sind nicht mit individuellen Akten der Einschüchterung oder isolierten Terrorangriffen konfrontieret, sondern mit einer direkten Invasion Russlands durch den internationalen Terror. Es ist totaler, grausamer Krieg, der immer mehr Leben von unseren Mitbürgern fordert.

Verhandlungen oder eine Veränderung der Politik schließt Putin offenbar aus, der die "territoriale Integrität" über alles setzt. Man habe "keine andere Möglichkeit", als den Terrorismus zu bekämpfen, würde man nachgeben, dann käme es auch in anderen Regionen zu ähnlichen "blutigen Konflikten" und würde Russland Gefahr laufen zu zerfallen, was allerdings nicht mehr so ganz zum internationalen Terrorismus als Gegner passt. Allerdings hat sich der Konflikt bereits durch die Politik Putins erweitert. War er zuvor vornehmlich auf Tschetschenien beschränkt, so hat er nun neben Inguschetien auch Nordossetien erfasst.

Als einzige Schwäche seiner Politik legt Putin aus, dass man nicht genügend auf die Komplexität der Prozesse nach dem Zerfall der Sowjetunion vorbereitet gewesen sei und zuviel "Schwäche" gezeigt habe (was angesichts der von der russischen Armee unter Putin verursachten Verwüstungen in Tschetschenien und den vielen Toten geradezu als zynisch erscheint). Und die einzige Folgerung, die Putin aus der behaupteten "Schwäche" zieht, ist die weitere Aufrüstung.

Er fordert eine "Mobilmachung" der Gesellschaft, die zu einer größeren nationale Einheit führen soll, und vor allem eine Stärkung und bessere Koordinierung der Sicherheitskräfte in ganz Russland, insbesondere aber im Kaukasus. Das heißt, Putin will dort weiterhin nur eine militärische Lösung sowie die Aufrechterhaltung einer dem Kreml hörigen Regierung mit ihrem korrupten System der Macht anstreben. Zudem muss Putin ebenso wie die Terroristen stets in seinem Krieg gegen diese auf die Angst der Bevölkerung setzen. Mit dem Terrorismus radikalisieren sich auch die Regierungen, die Gewalt und militärisches Vorgehen als den einzigen Weg zur Bekämpfung der Terroristen verstehen. Wie die Welt dadurch keineswegs sicherer, sondern immer gefährlicher wird, hat zuletzt der ebenso wie der "internationale Terrorismus" ausufernde Krieg der US-Regierung gegen diesen demonstriert.

Verhandlungen auch mit den gemäßigten Unabhängigkeitsbewegungen scheint weiterhin ausgeschlossen zu sein, wie der russische Außenministerium nach Interfax mitteilte:

Ein Moment der Wahrheit ist eingetreten. Doppelte Maßstäbe sind inakzeptabel. Es ist unmoralisch, Terroristen in "gute" und "böse" aufzuteilen. Weder die Ausführenden der Terroranschläge noch ihre direkten oder indirekten Ideengeber und Unterstützer dürfen mehr dem entgehen, zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Die Terroristen werden als "Banditen" bezeichnet, die Geiselnahme zeige, dass sie "wilde Tiere" seien, "für die nichts heilig ist". Terroristen untergraben die Fundamente der Zivilisation mit ihren Taten. Russland reihe sich daher in die Länder ein, die "entschlossen und kompromisslos" gegen den internationalen Terrorismus kämpfen - "auf der Grundlage der Verteidigung der Menschenrechte, der Freiheit und des Rechts auf das Leben". Aber glaubwürdig würde die russische Regierung nur dann sein, wenn sie selbst strikt auf die Einhaltung der Menschenrechte etwa in Tschetschenien achten würde. Die praktizierte doppelte Moral ist aber neben dem nur militärischen Vorgehen eine der Hauptquellen des Terrorismus, aus denen er immer wieder entstehen wird.

Der russische Menschenrechtler Oleg Orlov weist darauf hin, dass die Zahl der in Tschetschenien während der letzten Jahre Verschwundenen so hoch ist wie in den schlimmsten Zeiten der stalinistischen Säuberungsaktionen. Auf 10.000 Bürger kämen in Tschetschenien 43 verschwundene Menschen, unter Stalin waren es 1937 bis 1938 44. Seitdem die Strategie nicht mehr verfolgt wird, ganze Dörfer zu umstellen (zachistki), alle Häuser zu durchsuchen und Menschen festzunehmen und zu schlagen oder zu foltern, sei die Entführung zur primären Taktik geworden: "Menschen kommen in gepanzerten Fahrzeugen ohne Nummernschilder und nehmen Menschen wie zu Stalins Zeiten mit."

Meist würden die Mitgeschleppten ohne Spur verschwinden. Manche würden krank oder gefoltert wieder gegen ein Lösegeld an ihre Familien zurück gegeben. Manche würden in geheimen Lagern der russischen Sicherheitskräfte festgehalten. Die Menschen fühlen sich, so Orlov, in Tschetschenien nicht vom russischen Rechtssystem geschützt:

Manche sind wütend. Andere beginnen, mit den Terroristen zu sympathisieren. wieder andere verlieren jeden Bezugsrahmen und beginnen, ihnen zu helfen. Es gibt eine Menge an beleidigten, gedemütigten und verzweifelten Menschen.