Als deutscher Code-Knacker im Zweiten Weltkrieg

Erstmals hat sich ein Zeuge gemeldet, der am Knacken der US-Verschlüsselungsmaschine M-209 beteiligt gewesen war

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dass deutsche Dechiffrier-Spezialisten im Zweiten Weltkrieg Geheimcodes der Alliierten knackten, war selbst Experten bis vor einigen Jahren nicht bekannt. Verschiedene Quellen belegen jedoch, dass es den Deutschen seinerzeit beispielsweise gelungen ist, die US-Verschlüsselungsmaschine M-209 zu entschlüsseln. Der auf Kryptologie-Themen spezialisierte Telepolis-Mitarbeiter Klaus Schmeh hat nun erstmals einen Zeitzeugen aufgespürt, der an der Entzifferung von M-209-Nachrichten beteiligt war.

Eine der faszinierendsten Episoden der Technikgeschichte spielte sich im Zweiten Weltkrieg ab. Damals knackten britische Spezialisten auf dem Landgut Bletchley Park bei London unter strengster Geheimhaltung die berühmte deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma, wobei sie Tausende von Menschen und für die damalige Zeit hochmoderne Datenverarbeitungsmaschinen einsetzten.

Die Verschlüsselungsmaschine M-209 wurde im Zweiten Weltkrieg von der US-Armee eingesetzt. Die Deutschen schafften es, sie zu knacken.

Die Deutschen, so lautete bis vor wenigen Jahren die Lehrmeinung, unterschätzten im Gegensatz zu den Briten die Möglichkeiten der Dechiffrier-Kunst und konnten daher abgefangene Funksprüche der Kriegsgegner nicht entschlüsseln. Erst seit einigen Jahren ist bekannt, dass diese politisch korrekte Einschätzung völlig falsch ist. So berichtete beispielsweise der ehemalige Präsident des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Dr. Otto Leiberich, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die US-Verschlüsselungsmaschine M-209 knackten, was durchaus kein einfaches Unterfangen war.1 Weitere belegte Dechiffrier-Erfolge belegen, dass die deutschen Code-Knacker damals sogar zu den besten der Welt zählten.

Die Ausführungen von Otto Leiberich dienten auch dem Autor dieses Artikels als wichtige Informationsquelle, als er sein vor kurzem erschienenes Buch "Die Welt der geheimen Zeichen - Die faszinierende Geschichte der Verschlüsselung"2 verfasste. Ein Auszug dieses Buchs, der bei Telepolis vorab veröffentlicht wurde (Hitlers letzte Maschinen), führte zu einer kleinen Sensation: Beim Autor meldete sich ein 84-jährigen Mann aus Frankfurt, der berichtete, im Zweiten Weltkrieg am Knacken der besagten US-Verschlüsselungsmaschine M-209 beteiligt gewesen zu sein. Nachdem es bis dahin nur Berichte aus zweiter Hand über deutsche Entzifferer im Zweiten Weltkrieg gegeben hatte, war nun erstmals ein Augenzeugenbericht verfügbar, der zudem einige völlig neue Aspekte ans Licht brachte. Mit dem vorliegenden Artikel werden die Erinnerungen dieses Zeitzeugen erstmals veröffentlicht.

Von der Russlandfront zur Dechiffrier-Schule

Der Mann, der sich beim Autor meldete, heißt Reinold Weber und wurde 1920 in Österreich geboren. Sein Vater war ein Ingenieur, der sich in der Stahlbranche einen Namen gemacht hatte. Nachdem die Weltwirtschaftskrise Deutschland erfasst hatte, wanderte der Vater mit seinen beiden Kindern 1930 in die USA aus, um bei der A. O. Smith Corporation in Milwaukee (Bundesstaat Wisconsin) eine neue Stelle anzutreten. Die USA waren in den Dreißigern jedoch alles andere als ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten und so zog es die kleine Familie nach über einem Jahr Arbeitslosendasein des Vaters Ende 1936 zurück nach Deutschland, wo dieser eine Anstellung in Düsseldorf gefunden hatte.

Am 1. April 1941 - der Zweite Weltkrieg war längst im Gange - wurde Weber zur Wehrmacht eingezogen. Er nahm in einer Nachrichtenkompanie am Russlandfeldzug teil, hatte dabei jedoch Glück im Unglück: Seine ausgezeichneten Englischkenntnisse führten dazu, dass er im Dezember 1942 von der Russlandfront an die vergleichsweise ungefährliche Nachrichtendolmetscher-Schule in Meißen versetzt wurde, wo er als Dolmetscher ausgebildet werden sollte.

An seinem neuen Einsatzort erschlich sich Weber schon bald die Teilnahme an einem Intelligenztest, der für den gerade einmal 22-jährigen Neuling noch gar nicht vorgesehen war. Mit derartigen Intelligenztests suchte die Wehrmacht damals nach Talenten, die man für das Entziffern von Verschlüsselungs-Codes der Kriegsgegner einsetzen konnte. Weber bestand als Drittbester und wurde daraufhin trotz seines noch jungen Alters im Januar 1943 nach Berlin geschickt, um eine sechsmonatige Ausbildung als Entzifferer anzutreten. Obwohl er beim Lösen der gestellten Aufgaben zu den Langsamsten gehörte und mehrfach kurz vor dem Rausschmiss stand, schloss er die Ausbildung im August 1943 schließlich erfolgreich ab.

Im darauffolgenden Monat wurde Weber zusammen mit zwei Kameraden, die wie er im Mannschaftsgrad standen, über Paris zur Dechiffrier-Einheit FNAST 5 nach Louveciennes bei Paris versetzt. Dort wurden abgefangene Nachrichten der Alliierten entschlüsselt. Als die drei jungen Soldaten an einem Samstag in Paris ankamen, beschlossen sie, sich erst am darauffolgenden Montag bei ihrer Dienststelle zu melden, um zuvor noch etwas von Paris zu sehen. Anschließend erklommen sie den Eiffelturm, schauten sich eine Truppenparade des französischen Regierungschefs Petain auf den Champs Elysees an und besuchten eine Revue am Place Pigalle.

Das verbummelte Wochenende in Paris kam den drei angehenden Dechiffrieren teuer zu stehen. Denn kaum waren sie bei ihrer neuen Dienststelle eingetroffen, wurden sie auch schon zum Kompanie-Chef zitiert. Dieser wertete das verspätete Eintreffen der Neulinge als unerlaubtes Entfernen von der Truppe und verdonnerte sie prompt zu einem dreitägigen "geschärften Arrest" im berüchtigten Zuchthaus Frains bei Paris.

Es kam sogar noch schlimmer. Wegen ihres Vergehens sollten die drei zu einer Einheit an der Kanalküste versetzt werden, wo die gefährlichste Aufgabe wartete, die es damals für Dechiffrierer gab: das Lauschen an feindlichen Telefonleitungen mit Hilfe einer Induktionsspule im Niemandsland an der Front. Schon in der Ausbildung hatten die angehenden Entzifferer Gedächtnisübungen absolvieren müssen, um sich bei einer solchen Aktion alle aufgenommenen Nachrichten merken zu können - für den Fall, dass sie ein solches Himmelfahrtskommando überhaupt überlebten.

Der TELWA-Code

Die beiden Kameraden Webers traf tatsächlich das Schicksal der Versetzung an die Front. Er hörte nie wieder von ihnen. Er selbst konnte sich jedoch durch sein Geschick beim Knacken feindlicher Codes aus seiner misslichen Lage retten. Um die Zeit bis zur geplanten Abschiebung zu überbrücken, übergab ihm sein vorgesetzter Unteroffizier alte, früher abgefangene US-Funksprüche, die im so genannten TELWA-Code verschlüsselt waren. Bis dahin hatte keiner der deutschen Dechiffrier-Experten diesen Code lösen können, und daher traute dies offensichtlich auch Weber niemand zu. So machte sich dieser ohne große Hoffnung an die Arbeit.

Die im TELWA-Code verschlüsselten Nachrichten bestanden aus Buchstaben in Fünfergruppen, wobei die Funksprüche immer mit der Buchstabenkombination TELWA anfingen - daher auch der Name. Obwohl die Deutschen derartige Nachrichten schon seit Ende der dreißiger Jahre abgehört hatten, standen in der Pariser Einheit nur etwa 1.000 Fünfergruppen zur Verfügung. Die bereits von seinen Kollegen geäußerte Vermutung, dass es sich beim TELWA-Code um einen Ersetzungs-Code handelte, bei dem jeweils fünf Buchstaben eine gleichbleibende Bedeutung hatten, konnte Weber bestätigen. Um eine Lösung zustande zu bringen, hatte er die Idee, die einzelnen Buchstaben der Fünfergruppen getrennt vertikal auf schmalen Streifen untereinander aufzuschreiben. Damit konnte er innerhalb jeder Gruppe die Reihen der Buchstaben untereinander verschieben.

Durch farbige Kennzeichnungen und Vergleiche machte Weber eine interessante Entdeckung: Die einzelnen Buchstaben in einer Fünfergruppe waren voneinander abhängig. Ihm gelang es sogar, eine mathematische Formel zu erstellen, mit der sich diese Abhängigkeit, die vermutlich zur Entdeckung von Übertragungsfehlern diente, ausdrücken ließ. Die Bedeutung der jeweiligen Buchstabengruppe war damit jedoch natürlich noch nicht bekannt. Doch auch hier kam Weber voran: Durch die Untersuchung von Wiederholungen, beispielsweise am Anfang und am Ende von Funksprüchen, konnten er erste Fünf-Buchstaben-Kombinationen identifizieren.

Je mehr Weber herausfand, desto einfacher wurde es für ihn, weitere Buchstabengruppen ihrer Bedeutung zuzuordnen. So stand beispielsweise die Fünfergruppe RYKFI für eine öffnende Klammer, während UZUSP das Wort "signed" bedeutete. Nachdem Weber bereits nach einer Woche erste Nachrichtenfragmente entziffern konnte, gelang es ihm mit einigen dazu abgestellten Kollegen, nach und nach etwa 75 Prozent des TELWA-Codes zu knacken. Mit seiner mathematischen Formel und angefertigten Tabellen ließen sich sogar falsch abgehörte Buchstaben korrigieren.

Sein Erfolg bei der TELWA-Dechiffrierung bewahrte Weber vor dem Fronteinsatz. Außerdem brachte ihm seine Leistung großen Respekt bei den FNAST-Kollegen ein, die sich unter anderem aus Versicherungsmathematikern, Geschäftsleuten, Finanzexperten, Lehrern und Mathematik-Professoren rekrutierten. Weber war mit seinen 23 Jahren der Benjamin unter den meist 10 bis 15 Jahre älteren Kameraden. Im Gegensatz zu diesen empfand er sein Leben als Entzifferer fernab der Front als "Himmel auf Erden".

Diese unterschiedliche Wahrnehmung lag daran, dass viele der damaligen Dechiffrierer ursprünglich in Sondereinheiten gedient und im Rang eines Leutnants oder Majors gestanden hatten. Die hohen Dienstgrade hatten einige Privilegien mit sich gebracht. Solche Sondereinheiten waren jedoch für alliierte Spione vergleichsweise leicht auszumachen, weshalb sie nach Kriegsbeginn abgeschafft wurden. Die Entzifferer wurden daraufhin mit deutlich niedrigeren Dienstgraden versehen und zur Tarnung in andere Kompanien eingeschleust. So kam es, dass die FNAST-Dechiffrierer neben ihrer kriegswichtigen Analysearbeit zusätzlich in der Kompanie Kartoffeln schälen und Wache schieben mussten. Da sie trotzdem immer noch besser gestellt waren als die meisten ihrer Kameraden, denen sie natürlich nichts von ihren Spezialaufgaben verraten durften, hatten die Entzifferer obendrein unter zahlreichen Schikanen durch die Vorgesetzten zu leiden. Kein Wunder, dass die oftmals hochgebildeten und aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden Dechiffrierer nicht besonders glücklich über ihre Lage waren.

Reinold Weber ist heute 84 Jahre alt und lebt in Frankfurt. Über seine Arbeit als Dechiffrierer im Zweiten Weltkrieg hat er lange geschwiegen, da sein Wissen im Kalten Krieg sowohl für die USA als auch für die Sowjetunion hätte interessant sein können.

Trotz aller Geheimhaltung, die auch zwischen den Abteilungen seiner Dechiffriereinheit praktiziert wurde, erfuhr Weber, dass es FNAST-Außenstellen außer bei Paris auch in Oslo, Warschau, Saloniki und Tunis gab. Nicht wissen konnte er dagegen, dass die FNAST nur eine von sieben deutschen Einrichtungen war, die im Zweiten Weltkrieg Codes der Kriegsgegner knackte. Einen Nachrichtenaustausch gab es lediglich per Kurier mit dem Oberkommando des Heeres (OKH) in Berlin. Zu den wenigen Informationen, die Weber dennoch erreichten, gehörte, dass einige Kollegen aus der FNAST-Einheit in Tunis beim Rückzug des Afrika-Korps unter General Rommel in Gefangenschaft gerieten. Offensichtlich waren die Alliierten derart über die deutschen Entschlüsselungserfolge beeindruckt, dass sie daraufhin einige ihrer Verschlüsselungsverfahren umstellten. Nach diesem Vorfall verfügte das OKH in Berlin mit Strafandrohung, dass Dechiffrier-Experten mindestens 50 Kilometer Abstand von der Front halten mussten.

Ende 1943 wurde Weber von Paris nach Euskirchen bei Köln versetzt, um dort Entzifferer aus Marine, Heer und Luftwaffe für die weitere Entschlüsselung des TELWA-Codes auszubilden. Die Schikanen durch Vorgesetzte, die nichts diesen Arbeiten wussten, hielten auch dort an. So wurde es Weber beispielsweise verboten, eine Postkarte auf Englisch zu schreiben und seinen Lieblingssport Baseball zu betreiben.

Da die deutschen Horchkompanien mit speziellen Empfängern Morsesignale aus der ganzen Welt abfangen konnten, gab es für die Dechiffrierer reichlich Material zu verarbeiten. Etwa 20 Prozent der entschlüsselten Nachrichten hatten taktische Bedeutung und wurden daher weitergeleitet. Dazu gehörten auch die meisten entschlüsselten TELWA Funksprüche. Wie sich herausstellte, enthielten die Funksprüche vor allem Personaldaten wie Ausbildungsstand, Registriernummer oder Dienststelle von US-Soldaten. Diese Informationen waren zwar nicht kriegsentscheidend, lieferten den Deutschen jedoch interessante Informationen, wenn ein Name aus den Funksprüchen mit dem eines amerikanischen Kriegsgefangenen übereinstimmte.

Die Dechiffrierung der M-209

Im April 1944 ging es für Weber wieder zurück zur FNAST 5, die sich inzwischen von Louveciennes ins nahe gelegene St. Germain umquartiert hatte. Er bemerkte, dass er inzwischen ein recht angesehener Dechiffrierer geworden war und dass in seiner Einheit auch Funksprüche geknackt wurden, die von den Alliierten mit Hilfe eines Verschlüsselungsgeräts erzeugt worden waren. Man bezeichnete diese auch als Maschinenschlüssel. Weber schaffte es, in den Kreis derer aufgenommen zu werden, die sich mit der Entzifferung von Maschinenschlüsseln befassten.

Bei der besagten Verschlüsselungsmaschine handelte es sich um die beim US-Militär weit verbreitete M-209, deren Funktionsprinzip einige Jahre zuvor von dem schwedischen Unternehmer und Erfinder Boris Hagelin entwickelt worden war. Amerikanische Soldaten nannten die M-209 meist einfach "Hag". Boris Hagelin, der später die heute noch existierende Firma Crypto AG in der Schweiz gründete, hatte die erste Maschine dieser Baureihe - sie trug den Namen C-36 - im Jahr 1936 an das französische Militär verkauft. Kurz nach Kriegsbeginn fand er in den US-Streitkräften einen weiteren Großabnehmer, der die Funktionsweise des Geräts leicht abänderte und es anschließend M-209 taufte. Die Produktion fand in Lizenz in den USA statt. Insgesamt 140.000 Exemplare der M-209 wurden während des Kriegs hergestellt, wodurch diese die meistgebaute unter den öffentlich bekannten Verschlüsselungsmaschinen wurde.

Die M-209 im Einsatz. Insgesamt wurden etwa 140.000 Exemplare dieses Typs gebaut, wodurch es ein entsprechend hohes Aufkommen an damit verschlüsselten Funksprüchen gab.

Die Funktionsweise der M-209 war den deutschen Dechiffrierern damals schon bekannt, da die Wehrmacht während der Badoglio-Revolte in Italien einige Exemplare erbeutet hatte. Um einen Funkspruch entschlüsseln zu können, benötigten die Code-Knacker jedoch die jeweilige Einstellung der Maschine (den Schlüssel), die nicht ohne Weiteres zu ermitteln war, da es immerhin 101.405.950 unterschiedliche Kombinationen gab. Ein Teil des Schlüssels (dieser wurde durch auf einen Stangenkorb steckbare Reiter eingegeben) wurde meist einen ganzen Tag lang beibehalten, während sich der restliche Teil mit jedem Funkspruch änderte.

Als Weber zu den M-209-Dechiffrierern stieß, wussten diese bereits, wie sie schon bei Kenntnis einiger Teilinformationen über den Schlüssel (relative Einstellung) die jeweilige Nachricht entschlüsseln konnten. Konnten sie noch mehr über den Schlüssel herausfinden (absolute Einstellung), dann war es sogar möglich, alle Nachrichten mit gleicher Reiter-Konstellation - und damit meist alle Funksprüche eines gesamten Tages - ohne größere Mühe zu entschlüsseln.

Mit etwa 80 weiteren, speziell geschulten Entzifferern bemühte sich Weber zunächst, die relative Einstellung der Maschinenschlüssel zu knacken. Dies gelang teilweise mehrmals pro Woche, manchmal aber auch nur einmal in 14 Tagen. Nur eine kleine Gruppe von fünf bis sechs Personen kümmerte sich währenddessen um die Lösung der absoluten Einstellung. Da Weber sich schon während seiner Berufsausbildung an der Fachhochschule und später im Beruf besonders für Mathematik interessiert hatte, wollte er unbedingt in diesen engeren Kreis von Mathematikern gelangen, was ihm nach einigem Bemühen auch gelang

Im Team, das die absolute Einstellung knacken sollte, waren außer Weber ein Grazer Mathematik-Professor, ein Physiker und ein Versicherungsmathematiker aktiv. Über seine Aufgabe berichtet Weber: "Es war eine schweißtreibende Arbeit, wo höhere Mathematik mit Vektorenanteilen mit Richtungswerten alleine nicht ausreichten, sodass wir noch Farbelemente als weitere Ebene hinzunehmen mussten". Es gelang ihm, das verwendete Dechiffrier-Verfahren zu vereinfachen, wobei er eine Schwachstelle der M-209 ausnutzte. Diese bestand darin, dass die Maschine nur das Verschlüsseln von Buchstaben vorsah, weshalb Zahlen immer in Wörtern ausgedrückt werden mussten. Da sehr viele Zahlen in den meist 1.000 bis 4.000 Buchstaben langen Nachrichten vorkamen, konnten die Entzifferer gezielt danach suchen und im Erfolgsfall nach einer bestimmten mathematischen Formel aus der relativen die absolute Einstellung berechnen.

Die von Weber und seinen Kollegen entschlüsselten M-209-Nachrichten enthielten teilweise brisante Informationen. So fanden die Dechiffrierer immer wieder Hinweise auf bevorstehende Bombardierungen deutscher Städte, die meist etwa sechs bis acht Wochen vor der Durchführung in Funksprüchen angekündigt wurden. Welche Gegenmaßnahmen das deutsche Militär mit Hilfe dieser Informationen traf, erfuhr Weber jedoch nie. Dennoch waren diese offenkundig bedeutenden Ankündigungen für ihn und seine Kameraden Ansporn genug, die schwierige Entzifferungsarbeit mit entsprechender Motivation anzugehen, obwohl sie von ihren Vorgesetzten in der Kompanie nach wie vor nach Kräften schikaniert wurden.

Die Dechiffrier-Maschine

Im April 1944, etwa zwei Monate vor der Invasion der Alliierten in der Normandie, kam Weber auf die Idee, eine Maschine zu bauen, die einen Teil der mühsamen Entzifferungs-Berechnungen automatisieren sollte. Diese Maschine sollte zum einen aus vier mit Schlitzen versehenen Bakelitwalzen bestehen, in die gestanzte Blechschablonen eingesteckt werden konnten, um damit die relative Einstellung nachzubilden. Zum anderen war eine Relais-Schaltung mit einer darüber befindlichen Platte vorgesehen, auf der mit Buchstaben gekennzeichnete Taschenlampenbirnen eingesteckt werden konnten. Die mehrfach schaltbaren Relais sollten untereinander und mit den elektrischen Birnen innerhalb eines Kastens verlötet werden.

Webers Vorgesetzte stuften diese Idee als sinnvoll ein und schickten ihn zum OKH nach Berlin, wo sich verschiedene Spezialisten seine Vorstellungen anhörten. Auch diese fällten ein positives Urteil und ließen Weber anschließend bei der Firma Hollerith, die später in IBM aufging, vorsprechen, da diese in der Lage schien, eine solche Maschine zu bauen. Weber durfte jedoch den genauen Zweck des geplanten Geräts nicht verraten, was sicherlich dazu beitrug, dass die Mitarbeiter von Hollerith die reichlich unmotivierte Aussage machten, der Bau einer solchen Maschine dauere etwa zwei Jahre. Enttäuscht kehrte Weber nach St. Germain zurück.

Dort wurde es so langsam brenzlig, denn die Alliierten rückten in Richtung Paris vor. Als vermeldet wurde, dass die Invasoren die Stadt Chartres - etwa 130 Kilometer vor Paris - erreicht hatten, erhielten die Mitglieder der Dechiffrier-Einheit den Befehl, ihre Unterkunft aufzugeben und sich auf eigene Faust nach Graach an der Mosel durchzuschlagen. Weber tat sich daraufhin mit einem Kollegen, einem Wäschefabrikanten aus Chemnitz, zusammen, um gemeinsam den nicht ungefährlichen Weg in Angriff zu nehmen. In einem alten französischen Militärfahrzeug mit einen Küchen- LKW inklusive Anhänger im Schlepptau bewältigten sie die Strecke in 60 Stunden ohne Schlaf. Auch die meisten anderen Dechiffrierer schafften es nach Graach. Von dort ging es geordnet nach Krofdorf am Gleiberg bei Gießen, wo in einer ehemaligen Zigarrenfabrik an der Hauptstraße die neue Arbeitsstätte eingerichtet wurde. Die Horchposten stellten ihre Geräte auf dem Turm am Gleiberg auf. Nach etwa einer Woche war der Dienstbetrieb wieder hergestellt. Ihre Wohnstätten fanden die Dechiffrierer bei einigen Bewohnern des Dorfs.

Weber konnte sich nun wieder um seine Dechiffrier-Arbeit kümmern, wobei ihm die Idee einer Entzifferungs-Maschine nicht aus dem Kopf ging. In Krofdorf gab es ein feinmechanisches Unternehmen namens Dönges, in dem es neben verschiedenen Bearbeitungsgeräten auch Vorräte an Silberstahl und Messing gab. Weber sah eine Chance, damit seine Maschine zu realisieren. Sein Vorgesetzter war einverstanden und erlaubte ihm, zusammen mit seinem Kollegen an drei Tagen pro Woche das gewünschte Entzifferungs-Gerät zu bauen. Obwohl beide mit der Verarbeitung von Metall keine Erfahrung hatten, gelang es ihnen in mühevoller Arbeit, die vier Walzen mit je 26 Schlitzen sowie gestanzte Blechplatten herzustellen. Außerdem mussten scheinbar endlos viele Kabelverbindungen verlötet werden.. Die erforderlichen Relais, die je von einer bis zu 256 Verbindungen aufbauen können mussten, konnten die beiden Dechiffrierer aus der Umgebung von Düsseldorf und Dresden beschaffen. So schufen sie schließlich eine Maschine, die aus zwei Kästen bestand: einem in der Größe eines Schreibtisches, der die Relais und die vier Drehwalzen enthielt, sowie einem weiteren Kasten mit 80, 80 und 40 cm Kantenlänge. Letzterer Kasten enthielt 26 mal 16 Birnenfassungen, mit denen sich mit Hilfe von Birnen die Buchstaben der relativen Einstellung nachbilden ließen.

Ende August war es nach zahllosen Überstunden schließlich geschafft. Die Maschine war funktionsbereit. Aus heutiger Sicht schrieben Weber und sein Kollege damit ein interessantes Stück Technikgeschichte, denn ihre Konstruktion hatte mit ihrer Binärlogik bereits viele Gemeinsamkeiten mit einem Computer. Dabei war der Computer zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erfunden, wenn man von der ebenfalls zur Dechiffrierung entwickelten britischen Maschine Colossus absieht, die etwa zur gleichen Zeit entstand.

Mitte September konnte Weber erstmals die Stärke seines Computer-Vorläufers unter Beweis stellen: Während eines Nachtdiensts ermittelte er mit seiner Maschine - ohne die Unterstützung seiner Kollegen - eine absolute Einstellung innerhalb von etwa sieben Stunden. Ohne Maschinenhilfe wäre ein Dreierteam mindestens eine Woche damit beschäftigt gewesen. Der entschlüsselte Funkspruch enthielt zahlreiche Details über einen geplanten Bombenangriff der Alliierten, der in etwa sechs Wochen stattfinden sollte, und war damit von höchster Brisanz. Welche Informationen die anderen Nachrichten dieses Tages enthielten, die mit der absoluten Einstellung nun ebenfalls zu entschlüsseln waren, erfuhr Weber nicht.

Das Ende der Dechiffrier-Einheit

Anfang 1945, als sich die US-Armee Krofdorf näherte, erhielt die Dechiffriereinheit erneut den Befehl zum Umquartieren. Nun ging es in das 600 Kilometer entfernte Bad Reichenhall in Bayern, wohin sich die Entzifferer ein weiteres Mal auf eigene Faust durchschlagen mussten. Während einige Kameraden nun desertierten, was natürlich bei Todesstrafe verboten war, entschloss sich Weber, den Fußmarsch nach Bad Reichenhall zusammen mit seinem Vorgesetzten, einem Versicherungsmathematiker aus München, in Angriff zu nehmen. Trotz eines gültigen Marschbefehls war dies ein gefährliches Unterfangen, denn in den letzten Kriegsmonaten wurden viele Soldaten, die sich nicht bei ihrer Truppe aufhielten, von anderen Einheiten zwangsverpflichtet oder gar von der SS als vermeintliche Deserteure erschossen.

Die beiden Dechiffrierer schlugen sich bis München durch, wo der Versicherungsmathematiker schließlich ebenfalls desertierte und zu seiner dort lebenden Familie zurückkehrte. So ereichte Weber nach einem 27-tägigen Marsch schließlich alleine Bad Reichenhall. Doch dort verhielt er sich einen Moment lang unvorsichtig und wurde prompt von einer SS-Einheit verhaftet, die ihn in eine Kaserne nach Salzburg brachte. Zum Glück ergab eine Überprüfung seiner Personalien, dass Weber in einer legalen Mission unterwegs war und es daher keinen Grund gab, ihn weiter festzuhalten. Da die FNAST 5 inzwischen in Salzburg untergekommen war, konnte Weber noch am gleichen Tag zu seiner Einheit zurück, wo sich bereits etwa 30 Kollegen eingefunden hatten. Die etwa 180 Nachrichtenhelferinnen, die ebenfalls zur Einheit gehörten, verblieben währenddessen in der Jägerkaserne in Bad Reichenhall.

Zu Webers großer Überraschung hatte auch seine Dechiffrier-Maschine den Weg nach Salzburg gefunden. Es fehlte jedoch die notwendige Funktechnik, um alliierte Funksprüche abzufangen, und so erwies sich das Gerät nun als nutzlos. Sein Vorgesetzter befahl daher, die Maschine zu vernichten. Mit Pickel, Beil, Hammer und Stahlsäge verschrottete Weber daraufhin das Gerät, dessen Konstruktion ihn mehrere Monate lang beschäftigt hatte. Damit verschwand ein historisch äußerst interessanter Computer-Vorläufer wieder von der Bildfläche. Bis heute wird dieses Gerät in keiner Literaturquelle zur Computer-Geschichte erwähnt.

Im März 1945 gab die Dechiffrier-Einheit schließlich ihre Stellung in Salzburg auf, woraufhin sich Weber in die Berge absetzte. Dort verbrachte er einige Zeit bei einer Bauernfamilie. Ein falscher amerikanischer Entlassungsschein bewahrte ihn vor der Gefangenschaft, die für ihn hätte gefährlich werden können. Denn hätte ein Kriegsgegner herausbekommen, dass er als Dechiffrierer für Maschinenschlüssel aktiv gewesen war, wäre er möglicherweise zu Zwangsdiensten in die USA verpflichtet oder gar in die Sowjetunion verschleppt worden. Seine Kenntnisse hätten im Kalten Krieg vor allem für den sowjetischen Geheimdienst ausgesprochen interessant sein können. Ihre Vergangenheit als Entzifferer behielten offensichtlich auch alle anderen Mitglieder der FNAST-Einheiten für sich, und so gab es bis zur Veröffentlichung dieses Artikels in der gesamten Literatur zur Verschlüsselungsgeschichte keinen einzigen Augenzeugenbericht darüber.

Mit einigen seiner Kollegen blieb Weber bis zu deren Tod in Kontakt. Fast alle haben nach dem Krieg in der Wirtschaft Karriere gemacht. Weber selbst ist auch im Alter von 84 Jahren heute noch in Frankfurt beruflich aktiv. Im Jahr 2000 schrieb er seine Erinnerungen an seine Zeit als Dechiffrierer auf, jedoch nur, um sie seinen Kindern und Enkeln zugänglich zu machen. Erst die Telepolis-Veröffentlichung eines Kapitels aus dem besagten Buch "Die Welt der geheimen Zeichen - Die faszinierende Geschichte der Verschlüsselung" (Hitlers letzte Maschinen) brachte Weber dazu, sein bisheriges Schweigen zu beenden. Er gab seine Niederschrift aus dem Jahre 2000 an den Autor des Buchs weiter, der daraufhin diesen Artikel verfasste.

Zweifellos ist mit dem Bericht Webers ein spannendes Stück Technikgeschichte für die Nachwelt erhalten worden, denn vieles aus den Erinnerungen Webers war Verschlüsselungs-Historikern bisher nicht bekannt. So taucht beispielsweise der TELWA-Code in der einschlägigen Literatur genauso wenig auf wie die Maschine zum Knacken von M-209-Nachrichten. Auch die Tatsache, dass mit der M-209 Informationen über Bombenangriffe einige Wochen vor deren Durchführung verschlüsselt wurden, war bisher nicht bekannt, denn für solche strategischen Funksprüche verwendeten die Amerikaner normalerweise ein anderes Gerät (die SIGABA).

Obwohl Reinold Weber über interessante Erlebnisse berichten kann, ist er weit davon entfernt, das Geschehene zu verklären. Im Gegenteil: In seinen Lebenserinnerungen, die er für seine Kinder und Enkel verfasst hat, schreibt der ehemalige Entzifferungs-Experte: "Warum ich das in kurzen Abschnitten für Euch niederschreibe? Weil ihr einmal darüber nachdenken und vergleichen solltet, in welch himmlischer und sorgenfreier Geborgenheit ihr aufwachsen durftet."

Von Klaus Schmeh ist vor kurzem erschienen: Die Welt der geheimen Zeichen. Die faszinierende Geschichte der Verschlüsselung. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. C. Paar. Verlag W3L. 368 Seiten mit 64 Fotos, davon 10 Farbfotos. 29,90 Euro.

Klaus Schmeh arbeitet als Produktmanager für Verschlüsselungslösungen bei der cv cryptovision in Gelsenkirchen. Im Nebenberuf schreibt er über Bücher und Artikel über das Thema Kryptologie (Lehre der Verschlüsselung).

Gewinnspiel: Wer löst fünf Krypto-Rätsel?

1) Eine Klasse von Dechiffriermethoden heißt:

a) Flächenfluss-Angriffe
b) Seitenkanal-Attacken
c) Kantenbach-Analysen
d) Eckenstrom-Penetrationen

2) Welches Zitat eines bekannten Dichters ist im folgenden Text verschlüsselt:

Yn it sedy, Bog gnifi Wdn agnig nah.

3) Wie hieß der Erfinder der Enigma?

a) Arthur Tonius
b) Arthur Steinius
c) Arthur Scherbius

4) Welche für Kryptologen wichtige Besonderheit hat folgender Abschnitt (Tipp: führen Sie eine Häufigkeitsanalyse durch):

Was ist das? Das Kind ist's. Das Kind traut sich, doch du traust dich nicht. Glaubt ihr mir nicht, dann bin ich Haus, Hof, Tisch und Stuhl los. Was ich tat, tat ich mit Kraft und Anstand. Ich trug mutig Most zum Fass, doch Milch hatt' ich nicht.

5) Eine US-Verschlüsselungsmaschine hieß:

a) KABA
b) ALIBABA
c) SIGABA
d) STRABA
e) HELABA

Unter den richtigen Einsendungen der fünf Krypto-Rätsel verlost W3L jeden Monat bis Ende 2004 Bücher und e-learning-Kurse aus dem W3L-Verlagsprogramm (Der Rechtsweg ist ausgeschlossen). Die Lösung bitte senden an GeheimeZeichen@W3L.de.