Elfriede Jelinek

Die literarische Nobelpreis-"Überraschung" 2004

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Die Entscheidung der Stockholmer Akademie, der österreichischen Schriftstellerin und Dramatikerin Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis 2004 zu verleihen, wird als eine "Sensation" von den Medien gewertet und vor allem in Deutschland begrüßt. Die Preisträgerin Elfriede Jelinek hat diese "Sensation" sogleich sprach- und gesellschaftskritisch gekontert und die Preisverleihung als "überraschende und große Ehre" bezeichnet. "Ich kann mich im Moment Menschen nicht aussetzen", sagte die Autorin und meinte weiter, sie betrachte den Nobelpreis nicht "als Blume im Knopfloch für Österreich" (siehe auch Sicher wäre es besser gewesen, gar nichts von sich preiszugeben. Ein Gespräch mit der die Öffentlichkeit und die Medien meidenden Schriftstellerin).

Damit versuchte sie sogleich einer pauschalen Ehrung als zehnte überhaupt mit dem Nobelpreis versehene Autorin zu entgehen. Gleichfalls sträubte sie sich gegen die Instrumentalisierung als kulturelle Repräsentantin Österreichs, denn nach der schiefen "Länderwertung" erhielt Jelinek den ersten "österreichischen" und "zwölften deutschsprachigen" Literaturnobelpreis. Als vehemente Kritikerin einer männlich-patriarchalischen Ordnung, der Verkopplung von sozialer Macht und sexuellen Unterdrückung, sowie als Bekämpferin eines immer noch von faschistischer Vergangenheit (Waldheim und Co.) und rechtsradikalen Strömungen (Haider und die FPÖ) beherrschten Österreichs bestehe kein Grund zur ungetrübten nationalen Freude.

Seit einer Woche waren - acht Jahre nach der polnischen Preisträgerin, der Lyrikerin Wislawa Szymborska (1996) - vor allem Autorinnen als aussichtsreiche Anwärter auf die Auszeichnung gehandelt worden, so die Chilenin Isabelle Allende, die Kanadierin Margaret Atwood und die US-Autorin Joyce Carol Oates sowie die in Berlin lebende Rumänien-Deutsche Herta Müller. Mit Elfriede Jelinek ist nun eine streitbare österreichische Autorin ausgezeichnet worden, deren schrilles literarisches Werk und entschiedene politische Haltung auch in der breiteren Öffentlichkeit als eine anspruchsvoll-provokante Position einer erneuerten Hochkultur im immer flach-zynischeren Medienzeitalter aufgenommen worden ist: Eine Position, die sich speist aus traditionsreicher intellektueller Kritik, klassischer sprachlich-musikalisch-erotischer Obsession und einem noch wie vor aktuellen theatralisch-feministischem Aktionismus, dessen Provokationen immer wieder für Aufsehen, Anstoß und Unterhaltung sorgen.

Die frischgebackene Literatur-Nobelpreisträgerin, die längst im deutschsprachigen Raum mit Literatur- und Theaterpreisen überhäuft wurde, weist ein weitgefächertes vitales Werk auf, das in Deutschland gut bekannt ist, so mit den Roman-Titeln: "Die Liebhaberinnen" (1975), "Die Ausgesperrten" (1980), "Die Klavierspielerin", (1983), "Lust" (1989), "Gier" (2000); mit "skandalumwitterten" Dramen wie "Burgtheater" (1983), "Wolken.Heim" (1988), "Raststätte" (1994) und "Bambiland" (2003), mit Übersetzungen wie "Die Enden der Parabel" von Thomas Pynchon, (1976) oder das Opernlibretto zu Olga Neuwirths Musiktheater "Lost Highway" (2003), einer musikalischen Transgression hinter David Lynchs gleichnamigen Film.

Der Konter: Kein Sieg Heil für dieses Österreich

Elfriede Jelinek hat in ihrem Haus in Wien in einem Interview sofort die Befürchtung geäußert, dass der Preis für sie "zu einer persönlichen Belastung" werden könnte. "Natürlich freue ich mich auch, da hat es keinen Sinn zu heucheln, aber ich verspüre eigentlich mehr Verzweiflung als Freude", sagte die österreichische Autorin nach Bekanntwerden der Auszeichnung in einem Gespräch mit der österreichischen Nachrichtenagentur APA in Wien.

In der für sie authentischen Geste der Kritik aus abwehrender Empfindsamkeit betonte Jelinek, sie eigne sich nicht dafür, "als Person an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Da fühle ich mich bedroht." Sie bekräftigte, dass sie den Preis am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobels, nicht persönlich in Stockholm entgegen nehmen wolle. "Ich möchte mich zurückziehen und habe auch die letzten Preise nicht persönlich entgegen genommen."

Jelinek sagte, es sei ihr bewusst, dass "wenn man den Preis als Frau bekommt, dann kriegt man ihn auch als Frau, und kann sich nicht uneingeschränkt freuen. Wenn Peter Handke, der den Preis viel mehr verdienen würde als ich, den Preis erhalten würde, dann bekommt er ihn eben nur als Peter Handke."

Auf die Frage, ob die Verleihung des Literaturnobelpreises, den sie als erste Österreicherin erhalte, auch Bedeutung für das Land habe, entgegnete sie: "Ich wünsche es mir nicht, dass es für das Land eine Bedeutung hat. Ich bin zu dieser Regierung auf völliger Distanz. Und ich bin mir nicht sicher, ob sich alle, die sich jetzt mit mir freuen, auch wirklich freuen."

Jelinek meinte, sie habe "böse Ahnungen", dass der Nobelpreis eine Belastung für sie bedeuten werde, "denn man wird zur öffentlichen Person. Wenn mir das zu viel wird, muss ich weggehen. Was ich aber nicht möchte, denn ich lebe gerne hier". Sie hoffe, dass sie "das damit verbundene Geld genießen (könne), denn damit kann man sorgenfrei leben". Das Preisgeld bemisst sich auf 1,1 Millionen Euro (10 Millionen Kronen).

Medialer Zorn oder politisch-poetisches Engagement?

Die Nachrichtenagenturen stilisierten das leidenschaftliche Engagement der Autorin zur Geste des ungezügelten "wilden Zorns" einer junggebliebenen trotzigen 57-Jährigen, so als ob die gesellschaftskritische und künstlerische Haltung des Protestes im totalen Medienzeitalter nur noch ein Relikt aus einer emotionaleren Vorzeit und kein aktuelles Anliegen in der Ära ultracooler Anpassung sei.

In Stockholm stellte der Komiteesprecher Per Wästberg die zornige und leidenschaftliche österreichische Autorin in Kontrast zum "lakonischen" Südafrikaner J.M. Coetzee, der den Preis im letzten Jahr erhielt. Wästberg verwies auf die persönliche Internetseite Jelineks in Wien: "Da blitzt es nur so von immer neuen Attacken auf alles Mögliche." Ihre Wut auf die Männerherrschaft sei vielleicht die stärkste Triebkraft, der sie in Romanen und Dramen "gleichermaßen musikalisch" Ausdruck verleihe. Jelinek habe den Preis "für den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen" erhalten, hieß es zur Begründung. Gelobt wurde ihre "sprachliche Leidenschaft".

"Ich kenne kaum jemanden, der das Patriarchat so wuchtig in Stücke hauen kann", meinte Wästberg anerkennend. Die Autorin möge ihre Personen ersichtlich nicht, schreibe "tiefschwarz" und sehe die österreichische Gesellschaft als vom Untergang gezeichnet. In der wütenden Kritik, der ausdrucksstarken Musikalität ihrer Sprache und ihrem politischen Protest wurde Jelineks Werk als preiswürdige Leistung ausgelobt und der Eindruck, einer bloßen "Quotenfrau"-Entscheidung entschieden zurückgewiesen. Die Stockholmer Nobilitierung von Jelineks intellektuell-künstlerischem Ansatz werde ähnliche Kontroversen auslösen, wie die Auszeichnung des ungarischen Imre Kertész, der in seiner hochreflexiven Migrantenliteratur dem Verfall der europäischen Hochkultur durch den Totalitarismus der Lager in West- und Osteuropa auf der Spur blieb.

Container statt Kanon

Unter den prominenten Stimmen, die sich zur Preisentscheidung äußerten, gehört unter anderem der Berliner Regisseur Christoph Schlingensief, der wiederholt mit Jellinek zusammenarbeitete, so bei seinem Wiener Containerprojekt "Ausländer raus" und zuletzt im Dezember 2003 bei der Uraufführung von Jelineks Stücks "Bambiland" am Wiener Burgtheater, nachdem die Autorin ihrem Bühnenwerk in Österreich nach zahlreichen Theaterskandalen eine längere Pause verordnet hatte. Schlingensief, der mit Jelinek die Strategie des theatralischen Schock-Intellektuellen quer zu den gähnend langweiligen Kultur- und Medienroutinen teilt, stellt heraus:

Ihre Texte sind keine Beruhigungstabletten. Jelinek will benutzt und nicht verehrt werden, dafür wird sie jetzt belohnt. (...) Das ist eine Belohnung dafür, dass sie sich die Freiheit nimmt, das Absurde im System zu attackieren, ohne sich als Märtyrerin zu sehen, sondern vielmehr als Katalysatorin. Ich sehe in ihrer Arbeit auch eine stete Aufforderung zur eigenen Autonomie, die für viele unerträglich ist.

Michael Naumann, Ex-Rowohlt-Verleger, früherer Kulturstaatsminister und derzeit "Zeit"-Herausgeber, fand eine ironische Antiklimax:

Erstens: sehr überrascht, zweitens: sehr verdient und drittens: für die Österreicher ein schwerer Schock - sie werden jetzt anfangen, sie zu lesen.

Dagegen sah Literaturkritikerpapst und Altmedien-Kulturersatz-Kanon-Regie-Star Marcel Reich-Ranicki sich einmal mehr nur in der Lage, der intellektuell-ästhetischen Doppelstrategie der Jelinek ganz beschränkten Applaus zu zollen:

Meine Bewunderung für ihr Werk hält sich in Grenzen. Meine Sympathie für ihren Mut, ihre Radikalität, ihre Entschlossenheit und ihre Wut ist enorm. (...) Jelinek ist eine äußerst extreme und radikale Schriftstellerin.

Ungeteilt war die Freude bei Jelineks Lektor vom Berlin Verlag, Delf Schmidt, der im Oktober 2000 zusammen mit Jelinek vom Rowohlt Verlag zum Berlin Verlag wechselte:

Das ist eine fantastische Entscheidung und eine Riesenüberraschung. Ich bin sicher, dass sie von der Nachricht genauso überwältigt ist wie ich.

Der Reichtum des Jelinekschen Stils, die unendlich nuancierte, dabei elementar sprudelnde, aufgischtende Litanei der in die Machtverhältnisse und Ohnmachtsstrukturen verbissenen Rollen-Sprach-Muster, die wie Figurenfallen über die Leser, Schauspieler und das Publikums gefräßig einherfallen, umfasst ein weites Spektrum von konsequent weiterverarbeiteten Positionen: Karl Kraus journalistische Sprachkritik an der Phrase des Aktuellen, Benjamins katastrophische Geschichtsphilosphie, Freuds Analyse der Sprache als Matrix der Traumssymbolik, Ingeborg Bachmanns lyrisch ausgerichteter Sprachneuschöpfung jenseits ihrer anfänglichen nachpositivistischen Sprachskepsis im Geiste Wittgensteins und Heideggers, Thomas Bernhards wuchtige Inszenierung der absurden menschlichen Existenz sind nur einige unter vielen anderen literarischen Bezugspunkten.

Wenn man in der tief herzroten Internet-Seite in ihrem literarischen und essayistischen Photoalbum blättert und in den virtuellen Schreibtisch-Schubladen zwischen Bambi und Floppy den Jelinek-Effekt wieder einzuatmen beginnt, dann scheint eine weitere vernachlässigte Größe des deutschsprachigen Geisteslebens unverzichtbar auf: Heinrich Heine, der Heine, der es wagte den gravitätischen Stil der Klassik und der Romantik vom Himmel des Idealismus und aus dem Mief des Deutschpatriotismus auf den Boden eines journalistisch getönten subjektiv-spöttischen Realismus im europäischen Stil zu holen, um den Phrasen der Politik und der Kunst zugleich den Kampf anzusagen.

So kehrt Heine als politischer Erzähler und Widersacher eines deutschen Winter-Märchens über die Jelinek nach Österreich ein, an jenen Ort, aus dem einmal der Alptraum des Dritten Reiches über München nach Berlin kroch und von dort in preußischen Knobelbechern in die ganze Welt einmarschierte, um auch das intellektuelle Paris zu belagern, in das sich Heinrich Heine im Vorfeld der ersten gescheiterten Revolution der Deutschen begeben hatte, um freie Großstadtluft außerhalb des klein- und großdeutschen Kleinstaaten-Friedhofes zu atmen:

"und so schreie und tobe ich und schmeiß mich um die Erd, aus der ich vorhin grad meinen Großvater gezerrt habe, um ihn den Leuten vors Gesicht zu halten. Aber das Loch von seinem Grab ist noch da, und nur ich selbst falle hinein. Und immer wird ein Anklagen daraus und wirft mir, wie frisch geschaufelte Erde, einen Ertrag ins Gesicht, so wie heute, dessen ich mich eigentlich schämen müßte, denn aus einer Klage darf erst Gewinn ziehen, der vor einem Gericht bestanden hat. Ich bestehe immer nur darauf, recht zu haben. Großvater! Er muß zurückschauen, darf sich in seinem Grab nicht endlich ausruhen. So wie meine Tante Lotte immer zurückschauen muß, wie froh bin ich, sie lebt heute noch, und sie schaut und sie schaut, sie wird kein Engel der Geschichte dadurch, daß sie zurückschaut und ihr Gesicht verhüllt vor dem, was sie sieht, sie muß schauen und zurückschauen, aber sie ist in Auschwitz, und sie schaut und schaut, und was sieht sie? Sie sieht auf den Verbrennungsöfen ihren Namen geschrieben.

In der Geschichte, vor allem der der Weimarer Republik, wo sich alles entschieden hat, sind Heines Spuren Fußnoten geblieben. Und als die Weichen endgültig gestellt wurden, als die Stiefel aufbrachen, und die wußten, auch ohne daß ihnen jemand etwas im Tiefschnee vorgespurt hätte, wohin es geht, da haben sie sich verloren. Sind sie später wieder sichtbar geworden, seine Spuren? Werden sie werden noch sichtbar werden? Vielleicht war es immer schon zu spät für die Abdrücke, die Heine in unsren deutschsprachigen Ländern hinterlassen hat. Vielleicht weil danach eine ganze Menschenflut wie Wasser in sie hineingeronnen und sie zumindest vorübergehend unsichtbar gemacht hat, nachdem so viele durch sie hindurchgetrampelt oder hindurchgetrieben worden waren? Wo war die Tradition Heines, als wir sie gebraucht hätten?

Hochmusikalischer Sound zwischen Anklage und Selbstanklage

Das ist der Sound der Jelinek, die ein Zeichen setzt, indem sie Privates und Politisches vermischt, Individuelles und Typisches verkeilt, Persönliches und Allgemeines vermengt, das Perfekte zerkratzt, das Reine verunreint, immer wieder die Grenzüberschreitung der Bilder und Argumente wagt und so den zivilen Einspruch, das Zolasche "J'accuse" mit der reflexiven Selbstanklage als Opfer-Täterin im System der kollaborierenden Selbstunterdrückung verbindet: zur Kommunikation der zivilen Affekte mit den undomestizierten Gefühlen, zum poetischen Klistier des Unartigen im Arsch der Haderer-Normalität, als Tränengas in der langen Nase der männlichen Pfauen-Poesie, als Amalgan der vorpolitischen Empfindlichkeiten und der politischen Affekte, im Kampf gegen die neue Verschleierung der Symbole im Dienst von neubetonierten Todesstreifen, die keiner mehr so recht erkennt. Jelinek wendet sich gegen die Intoleranz nach allen Seiten, auch gegen den möglichen Ernstfall eines "islamistischen Faschismus", dem sie wie "jedem Faschismus entgegentreten würde".

Warum soll ich nicht auch meine Werte militant vertreten dürfen? Redefreiheit, die Gleichheit der Geschlechter, die Trennung von Religion und Staat. Es ist, als wären diese Tausenden Opfer in New York Tiere gewesen, die als Stellvertreter-Opfer willkürlich und blind ausersehen wurden von wenigen, für wenige, die sich über alle anderen gestellt haben, im Namen der Reinheit ihrer Religion. Nicht für Palästina, nicht für die entrechteten Massen der Dritten Welt, sondern für eine wahnsinnige Reinheit, der letztlich nur sie selbst entsprechen können, indem sie sich opfern. Am saubersten wird, was nicht mehr existiert (der Sauberkeitswahn in des Attentäters Atta Testament!). Das Los hat getroffen.

Was aber die Musik betrifft, so wird in der Hommage der studierten Musikerin an ihren Orgellehrer deutlich, dass sich hier der innerste Quell der Autorin befindet, der "bodenlose Boden" einer rein sprachlich-motivisch-musikalischen Dynamik, die im zeitlichen Verlauf und in der kompositorischen Verstrebung der Motive, Themen und Stimmen einen flüchtigen und fragilen Halt findet, der in der sensiblen Gestaltung der musikalischen Zeit besteht:

Er (Leopold Marksteiner) hat damals jedenfalls seiner Schülerin einen Ort angeboten, an dem die Welt zwar auch nicht langsamer war, an dem man ihr aber etwas entgegensetzen konnte: eine Hörbarkeit des Zeitablaufs. Das, was Musik ist. Ich meine nicht das gurgelnde Verschwinden von Zeit im Abfluß des Radios, des Plattenspielers, später des CD-players, sondern Zeit, die man, in ihrem Verlauf, hören konnte und gleichzeitig selber steuerte, Zeit, die man, in ihrem Ablauf, sorgfältig gliedern mußte, damit man sie nicht verlor (...).