Das Stuttgarter Linkurteil: Eine Verschwörung dummer Juristen?

Wessen Opfer ist Alvar Freude?

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Im Netz wird in den Foren und Blogs das Urteil gegen Alvar Freude weit und breit kommentiert. Meist von Leuten, die nur die Meldung gelesen haben und im Gerichtssaal nicht anwesend waren.

Alvar Freude wurde zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 25 Euro, also 3000 Euro verurteilt, weil er im Rahmen einer Dokumentation zu den Internet-Sperrungsverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf genau die drei amerikanischen Websites verlinkte, die man in Nordrhein-Westfalen für Landeskinder sperren will. Mit 120 Tagessätzen wäre er auch rechtsgültig vorbestraft. Auf den ausländischen Websites finden sich Holocaustleugnung, Hakenkreuze und Gewaltverherrlichung; alles Tatbestände, auf die in Deutschland Strafe steht...falls, ja, falls nicht im Rahmen von staatsbürgerlicher Aufklärung, Berichterstattung über Zeitgeschichtliches oder im Rahmen eines Kunstwerks mit solchen Inhalten operiert wird. Dann sind sowohl "Verbreitung" als auch "Zugänglichmachung" legal.

Vor- und Nach-Urteile

Um es knapp zu sagen: Das Urteil ist kein Ausfluss mangelnder Netzkompetenz bei Staatsanwalt oder Richterin. Wer diese beiden hat agieren und argumentieren sehen, der hat durchaus gemerkt, dass sie wussten, was sie taten.

Warum sie es taten, steht auf einem anderen Blatt, dort muss – vor allem was die Richterin angeht - das Mutmaßen beginnen. Dass die Richterin etwas gegen den Angeklagten hatte, weil er gegen die Sperrungsverfügungen ist, liegt auch als Argument in der Luft. Mir scheint es falsch. Das Wort "Sperrungsverfügungen" brachte sie mehrfach so zum Lachen, dass sie minutenlang mit der Hand vor dem Mund da saß. Und mein Eindruck war nicht, dass sie über den Angeklagten lachte. Es war eher ein "Na ja, die sind ja auch ein Witz"-Lachen.

Themen vor Gericht

Dem Gericht war zunächst wichtig festzustellen, ob die behauptete Tatsache stimme, dass da Links auf die betreffenden Webseiten liegen und seit wann. Denn die Dauer und Unstrittigkeit der Tat sind maßgeblich für eine Bestrafung an sich und für das Strafmaß. Die Links standen zwar etwas kürzer im Netz, als es die Anklage zunächst behauptete, aber eben doch über längere Zeit. Alvar Freudes mündlichen Äußerungen dazu wurde problemlos Glauben geschenkt. Nicht günstig wirkte sich für ihn aus, dass die Links auch während der Verhandlung noch aktiv waren. Aber das war strategische Provokation und nicht Nachlässigkeit. Und die Provokation war "erfolgreich".

Als nächstes war das Umfeld abzuklären, in dem die Links standen. Alvar Freude äußerte sich ausführlich zu den Protesten gegen die Sperrungsverfügungen, zu seinen früheren Aktivitäten und auch zu seinen Kunstprojekten. Inwiefern aber genau die beanstandeten Seiten mit den Links eine Dokumentation oder eine Satire sind, das wurde nur im Nebensatz erwähnt. Denn es "war ja klar". Der Verteidigung schon, das Gericht hätte davon überzeugt werden müssen.

Dass Staatsanwalt und Richterin eben nicht wenig Ahnung vom Netz hatten, ließen diese durchblicken. Ihnen als Quittung dafür eine Kurzvorlesung mit Zitaten von Tim Berners-Lee und dem W3C über die inhaltlich neutrale Natur des Links zu halten, war wohl nicht gerade die geeignete Taktik, das Wohlwollen des Gerichts zu erreichen – das wusste die Verteidigung. Für das Gericht war allein relevant: Da hatte jemand einen Link gelegt, der zum Beispiel einem Jugendlichen einen Weg zu strafbaren Inhalten eröffnet. Und mit solchen Jugendlichen hatte wohl vor allem der Staatsanwalt in der Vergangenheit häufig zu tun. Dass Freude für die Inhalte auf fremden Servern nicht verantwortlich war, musste dem Gericht keiner erklären.

Die Strategie der Verteidigung war: "Freude hat etwas getan, was sein gutes Recht und sogar Bürgerpflicht ist. Und selbst wenn es nicht OK, war, war es nicht ganz so schlimm." Und das sahen Staatsanwalt und Richterin eben grundlegend anders, denn für beide hatte die Meinungs- und Kunstfreiheit hinter dem Schutz der Jugend vor Propaganda und Gewaltverherrlichung zurückzustehen. Zur Stützung der Meinungsfreiheit aber hat die Verteidigung kaum Argumente gebracht.

Kunst oder freie Meinung?

Alvar Freudes Status in der Netzkunst-Welt und in der politischen Debatte waren zwar in den Schriftsätzen erwähnt, vor Gericht wurden sie aber wesentlich nebensächlicher diskutiert als die Frage, ob denn der Verfassungsschutz die Lauck-Seite gefährlich findet oder nicht. Phasenweise erreichte die Diskussion ein Niveau eines "Nein" – "Doch" – "Nein" – "Doch". Genau auf den politischen und den künstlerischen Aspekt sollte man, unter Hinzuziehen passender und glaubwürdiger Zeugen, in einer eventuellen Berufung Wert legen. Selbst ein wenig netzerfahrener Germanist kann auseinanderfummeln, was an FreedomFone satirisch ist. Ein Politikwissenschaftler oder ein Journalismusexperte könnte problemlos erläutern, dass in der odem.org-Dokumentation nicht "einfach so gelinkt" wird, sondern dass die Links, was das Gericht eben bezweifelte, in einem aufklärerischen Kontext stehen.

Ich hatte am Wochenende Gelegenheit, mit einem jungen deutsch-jüdischen Journalisten über den Fall zu reden und hab ihn gefragt: "Was ist deine Meinung, solche Links verbieten oder zulassen?" Er war klar für "zulassen": Nur was sichtbar sei, könne mit Argumenten bekämpft werden. Das ist der Buchstabe des Gesetzes und das ist offenbar auch die Meinung derer, die das Gericht als Opfer der "Verhetzung" annimmt, aber eben nur annimmt.

Ziel beider Parteien: ein höchstrichterliches Urteil

Der Staatsanwalt wäre nach eigener Aussage ohnehin in Berufung oder Revision gegangen, so dass es unerheblich gewesen wäre, dass das Gericht bei Vorliegen klarer Begründungen für die gesetzliche Ausnahmeregelung wahrscheinlich auch freigesprochen hätte. Staatsanwalt Milionis kündigte am Rande des Prozesses an, Freudes Rechner zu beschlagnahmen, wenn dieser die Links nicht entfernt. Davon wäre eventuell auch der betreffende Webserver betroffen. Doch Freude hat die Links inzwischen auf eine Erklärungsseite umgeleitet.

Von einer Verschwörung zur Diffamierung Freudes als Nazi auszugehen ist grundlos: Der Staatsanwalt versuchte nur sehr kurz Freude mit einem "Lauck wünscht Ihnen viel Glück" in die rechte Ecke zu sortieren und merkte, dass er da nicht weiterkommt. Auch Andeutungen, dass es sich bei manchen der über die Links erreichbaren Dokumente um Kinderpornografie handle, unterblieben schnell.

Wenn die Richterin nicht die richtigen Fragen stellt, dann muss eben der Verteidiger dafür sorgen, dass Entlastendes thematisiert wird. Staatsanwalt Apostolos Milionis war eher daran interessiert, zuzuspitzen. Obwohl er wusste – und am Rande des Prozesses auch sagte – dass er keinen Nazi vor sich habe, sah er in dem Fall die Gelegenheit, eine höchstrichterliche Entscheidung zu provozieren. Und ein solches Urteil wünschen sich ja nicht nur die Justizbehörden.

Warum die, was Netztypisches und Sperrungsverfügungen angeht, durchaus kompetent wirkende Richterin auf stur schaltet und weder Dokumentationscharakter noch Kunststruktur sehen wollte, bleibt der Mutmaßung überlassen: Hat sie nicht genügend Argumente gehört oder wollte sie es dem nachfolgenden Richter nicht unnötig schwer machen, indem sie entlastende Aspekte anerkennend vermerkt, ihre Bedeutung aber zurückweist?

Von Seiten der Verteidigung genügte eben es nicht zu sagen "Wie soll man denn mit einem Link Hunderte von Seiten zugänglich machen?" Da wäre es eventuell angebracht, Webseitenausdrucke gar nicht als Beweismittel anzuerkennen, sondern darauf zu bestehen, sich das ja nicht besonders schwer zugängliche "Corpus delicti" im Web live einmal anzuschauen. Dann würden auch Dokumentation und Kunst sichtbarer als auf totem Papier.