Kein Sex und Spaß dabei

"Asexuelle": Menschen, die "es" nicht brauchen

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Die aktuelle Ausgabe des New Scientist stellt eine sexuelle Orientierung vor, die bisher öffentlich kaum wahrgenommen wurde: die Asexualität. Asexuelle beginnen sich zu organisieren und sie legen Wert auf die Feststellung, dass sie nicht krank sind, sondern einfach keine Lust auf Sex haben.

Sex steht immer wieder im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, eine ganze Industrie lebt hervorragend davon, dass Menschen bereit sind, viel Energie und Zeit aufzuwenden, um sexuelle Befriedigung zu bekommen. Für die meisten ist es deshalb unvorstellbar, dass unter uns Asexuelle leben, Leute ohne sexuelle Bedürfnisse. Das hat nichts mit Enthaltsamkeit zu tun, die in den USA zum politisch-religiösen Trend der Zeit gehört (No Sex!) oder dem Zölibat, das der Vatikan seinen Priestern vorschreibt ("Was er euch sagt, das tut!"), denn diese Formen stellen bewusste, mehr oder weniger freiwillige Entscheidungen dar, dem Sex zu entsagen und auf etwas zu verzichten.

Dagegen haben Asexuelle keine Lust, der sexuelle Kontakt zu anderen reizt sie nicht und bis vor kurzem hielten sie sich für seltene Einzelfälle. Jetzt organisieren sie sich im Internet und verlangen, dass ihre Bedürfnislosigkeit als sexuelle Orientierung anerkannt wird, gleichwertig neben Hetero-, Bi- und Homosexualität (vgl. No Sex!).

Coming Out

David Jay aus St. Louis ist bekennender Asexueller und Gründer des seit 2001 bestehenden Asexual Visibility and Education Network (AVEN), einer Internet-Plattform mit Forum, die es sich zum Ziel gesetzt hat, "den Dialog zwischen und über die schnell entstehende Gruppe von Individuen, die sich als asexuell definieren, ins Leben zu rufen." Inzwischen gibt es fast 1500 registrierte User aus aller Welt, die miteinander auf AVEN diskutieren.

Das Hauptproblem der Asexuellen ist, dass der Rest der Welt sie für krank oder behindert hält – dagegen beginnen sie sich zunehmend zur Wehr zu setzen. Elizabeth Abbott vom Trinity College der University of Toronto, Autorin des Buches A History of Celibacy) ist eine der wenigen Akademiker, die das Anliegen der asexuellen Gemeinde unterstützt. Nachdem ihr Buch 1999 erschien, bekam sie viele Briefe von Personen, die ihr erklärten, nie sexuelle Lust empfunden zu haben und sich dennoch sehr gut und nicht im mindesten defizitär zu fühlen. Die meisten Asexuellen verschwiegen das Fehlen sexueller Bedürfnisse lange, um nicht als abnorm betrachtet zu werden. "Sie müssen sich verstecken, weil wir in einer hochgradig sexualisierten Gesellschaft leben", meint Abbott,

Stellen Sie sich jemanden vor, der noch nicht mal Sex will und kein Problem damit hat, keinen zu bekommen. Das ist nicht wirklich jemand, mir dem diese Leute darüber reden können. Es müsste jemand sein, der bereit ist zu akzeptieren, dass Asexualität etwas Angeborenes ist, so wie blaue Augen.

Die Historikerin ist überzeugt davon, dass es eine beträchtliche Anzahl von Menschen gibt, die keinerlei sexuelle Bedürfnisse haben und dennoch völlig normal sind.

Anthony Bogaert von der kanadischen Brock University analysierte eine englische Studie von 1994, in deren Verlauf 18.000 Briten nach ihren sexuellen Praktiken befragt worden waren. Die Ergebnisse publizierte er in der August-Ausgabe des Journal of Sex Research. Ein Prozent der Befragten hatte damals die Option "Ich habe mich noch nie von jemandem sexuell angezogen gefühlt" als für sie zutreffend angekreuzt. Eine andere Studie aus den USA von 1994, "The social organization of sexuality: sexual practices in the United States" fragte zwar nicht gezielt nach Asexualität, zeigte aber auf, dass 13 Prozent der 3500 Befragten nach ihren Angaben seit einem Jahr keinen Sex hatten und zwei Prozent überhaupt nie in ihrem Leben. Wie viele davon z.B. aus gesundheitlichen Gründen keine sexuellen Kontakte haben konnten, bleibt unklar.

Asexuelle wollen keinen Sex, es reizt sie nichts daran, das ist der entscheidende Punkt. Die 40jährige Schriftstellerin Angela ist so veranlagt und erklärt:

Ich hatte während meines gesamten Lebens nie irgendein Interesse an Sex. Es ist wie Algebra. Ich verstehe das Konzept, habe aber kein Interesse daran.

Definition von Asexualität

Es gibt noch keine offizielle oder wissenschaftliche Definition von Asexualität, aber im Grunde bedeutet der Begriff, dass ein Mensch kein Bedürfnis nach sexueller Interaktion mit einer anderen Person hat. Die Kurzdefinition der Official Asexual Society in den Niederlanden lautet: "Born without Sexual feelings."

AVEN unterscheidet in vier verschiedene Grundtypen von Asexuellen:

A) Personen, die einen sexuellen Trieb verspüren, sich aber sexuell nicht von anderen angezogen fühlen. Diese Leute haben eine Art biochemisches Bewusstsein von Sex, praktizieren vielleicht Masturbation, würden aber nie mit jemandem schlafen.

B) Personen, die sich von anderen angezogen fühlen, aber keinen Sexualtrieb verspüren. Sie haben tiefe emotionale Verbindungen zu anderen, sie lieben jemanden – aber ohne jedes Bedürfnis, Sexualität mit ihrem oder ihrer Geliebten zu haben. Das heißt nicht, dass es in ihren Partnerschaften nicht Zärtlichkeit und Körperlichkeit gibt, nur keinen Sex.

C) Personen, die sowohl sexuellen Triebe verspüren als auch die emotionale Anziehungskraft anderer Personen. Sie masturbieren im Zweifelsfall und lieben jemanden. Aber Sex und Liebe sind für sie etwas völlig verschiedenes, das nicht zusammengeht.

D) Personen, die weder einen sexuellen Trieb verspüren noch die emotionale Anziehungskraft anderer Personen. Das heißt nicht, dass diese Leute keinen engen und emotionalen Freundschaften leben, aber der besondere Reiz der Liebe fehlt.

Gesellschaftliche Anerkennung

Wie groß die Anzahl von Asexuellen in der Gesellschaft wirklich ist, lässt sich bisher nur ahnen. Untersuchungen von Säugetieren haben gezeigt, dass asexuelles Verhalten in der Tierwelt nichts Ungewöhnliches ist. Nicht nur bei Blattläusen ist asexuelle Fortpflanzung zudem eine erfolgreiche evolutionäre Strategie (Ist Sex eine gute Idee?).

Aber egal wie viele Menschen tatsächlich asexuell veranlagt sind, sie verlangen jetzt laut und deutlich gesellschaftliche Anerkennung. Sie wollen sich nicht mehr verstecken und gleichberechtigt soll Asexualität als vierte sexuelle Orientierung neben Hetereo-, Bi- und Homosexualität akzeptiert werden. Sie drucken T-Shirts auf denen "A-pride" oder "A-sexy" steht oder Sprüche wie "Asexuality: It’s not just for amoebas anymore”.

Nach dem Vorbild der Schwulenbewegung wollen die Asexuellen sich organisieren und vielleicht werden schon bald die ersten A-Pride-Paraden durch die Städte ziehen.