Think Tanks sollen Stimmung schaffen und lassen die Grenze zwischen PR und Journalismus verschwimmen

Millionenschwere PR-Kampagnen beeinflussen nach einer Studie mit teils fragwürdigen Strategien die öffentliche Meinung in Deutschland zugunsten neoliberaler Reformen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die D-Mark, das Wunder von Bern, das Wirtschaftswunder - wer bringt diese Schlagwörter nicht unmittelbar mit Westdeutschland der fünfziger Jahre und wirtschaftlichem Wohlstand in Verbindung? "Emotionale Orientierungsmarken" nennt Rudolf Speth solche Begriffe. Der Politologe von der Freien Universität Berlin beschreibt in einer neuen Studie, wie Großunternehmen und Wirtschaftsverbände schon damals mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit die Akzeptanz für das Konzept der "Sozialen Marktwirtschaft" zu erhöhen versuchten. In den ersten Jahren der Bundesrepublik waren es freilich noch einige wenige Unternehmen, die auf Initiative des Bundes Katholischer Unternehmer die PR-Initiative "Die Waage" gründeten. Fünfzig Jahre später arbeiten in Deutschland Dutzende solcher PR-Kampagnen. Meist geschieht dies von der Öffentlichkeit unbemerkt. Auf ihre Namen kommt es den Bewerbern neoliberaler Ideen nicht an. Was zählt, ist allein der angestrebte Meinungswandel.

Angesichts der zunehmenden sozialen Auseinandersetzungen ist der Meinungswandel aus Sicht der Reformer auch notwendig. So rief der Arbeitgeberverband Gesamtmetall im Jahr 2000 die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSW) ins Leben. Zehn Millionen Euro lässt sich der Verband das Projekt oder den Think Tank bis zum Jahr 2010 kosten. Ziel ist es, ein wirtschafts- und unternehmerfreundliches Klima in der Bevölkerung zu schaffen. Anders ausgedrückt gehe es darum, wie Speth schreibt, "den Bürgern die Staatsgläubigkeit auszutreiben".

Die INSM bereite das klimatische Fundament, damit die Unternehmer anschließend ihre Interessen besser durchsetzen könnten. Neben koordinierter Medienarbeit nutzt die INSM dafür ein breites Netz von prominenten Fürsprechern. Die Namen reichen von den Grünen-Bundestagsabgeordneten Oswald Metzger und Christine Scheel über die Thüringische CDU-Wissenschaftsministerin Dagmar Schipanski bis zu dem Unternehmensberater Roland Berger.

Nach Angaben des Leipziger Journalismus-Professors Michael Haller stehen in Deutschland 30.000 Politik- und Wirtschaftsjournalisten 15.000 bis 18.000 PR-Leute gegenüber. In den USA hat sich das Verhältnis schon zugunsten der PR-Branche umgekehrt. Dort beruhen mittlerweile mindestens 40 Prozent der Informationen in einer Tageszeitung nicht mehr auf eigener Recherche, sondern gehen zurück auf mediengerecht aufbereitete Informationen, auf Erklärungen, Pressemeldungen und Anzeigen von Anbietern, die Eigeninteressen mit diesem Material verfolgen. Die Produkte der INSM diffundieren auf diese Weise langsam in die seriösen Medien, Slogans, Sichtweisen und Vergleichsrechnungen werden übernommen, weil sie mediengerecht und zur Hand sind. - Aus der Studie: "Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft"

Neben dem im Mai 2003 gegründeten "Bürgerkonvent" (Die anonymen Anpacker) ist die INSM die einflussreichste, finanzstärkste und bestorganisierte Initiative. Und doch gibt es eine Vielzahl weiterer neoliberaler Werbekampagnen unter Namen wie "Deutschland packt's an", "Berlinpolis", "Aufbruch jetzt!", "Stiftung liberales Netzwerk", "Projekt Neue Wege" oder "Reforminitiative". Das besondere Merkmal der INSM aber sind die enormen Finanzmittel und die professionelle Unterstützung der internationalen PR-Agentur Scholz & Friends. In sechswöchigen Abständen lancieren die Meinungsmacher Anzeigen zu aktuellen Politdebatten in überregionalen Tageszeitungen und anderen Medien. Auch Talkshows wie "Christiansen" oder "Illner" werden von dem INSM-Partner mit Gästen versorgt. Doch gerade die Schnittstelle zwischen Public Relation und Journalismus ist fragwürdig.

So werden Beiträge der prominenten INSM-"Botschafter" und Kuratoren regelmäßig in Printmedien platziert. Im Gespräch mit Speth erklärte der Grüne Reformbefürworter Oswald Metzger das Procedere:

Die Fragen mich an, ob ich Interesse hätte, bei einer Kampagne gegen die Kohlesubvention oder beim Agrarthema etwas zu machen. (...) Dann sage ich okay, das Thema liegt mir besonders, da kenne ich mich aus, da will ich mich positionieren. Und dann kommt es zu einer Abstimmung.

Aus der Studie: "Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft"

Medienethisch ein problematisches Vorgehen, denn die Grenzen zwischen Lobbyarbeit und Journalismus verwischen sich. Für den Evangelischen Nachrichtendienst recherchierte Volker Lilienthal bereits im vergangenen Jahr ein besonders krasses Beispiel solcher Grenzverstöße. So kaufte die INSW für 66.000 Euro die Videorechte an einem politisch eindeutigen Dreiteiler des Filmautors- und Produzenten Günther Ederer über "Märchen" der Sozialpolitik auf. Über das Sponsoring der INSW konnten die Filme überhaupt erst produziert werden, um sie schließlich über den Hessischen Rundfunk in der ARD zu platzieren. Für einen lächerlichen Betrag erreichten die der INSM opportunen Nachrichten auf diese Weise ein potenzielles Millionenpublikum.

Auch im Internet geht die Initiative koordiniert von dem Scholz & Friends-Subunternehmen Aperto AG in die Offensive. Sogar mit dem Format "MTV Select" wurde inzwischen eine Zusammenarbeit etabliert: In jeder Sendung findet ein Job-Date statt, bei dem Jugendliche beraten werden. Was da im Mantel des "social campaigning" daherkommt, ist eine jederzeit nutzbare Plattform, der jungen Zielgruppe die politischen Inhalte der INSM einzutrichtern. Von MTV wird die Kampagne mit 600 TV-Spots beworben. Ähnliche Kooperationen gibt bestehen inzwischen mit dem Stadtmagazin Prinz, dem Radiosender big FM, NTV, impulse, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Welt oder dem Handelsblatt.

Einen vergleichbaren Etikettenschwindel wie bei der MTV-Kooperation macht sich die zweitgrößte neoliberale Werbekampagne "Bürgerkonvent" zu eigen. Mit sechs Millionen Euro (von bislang nicht bekannten Finanziers) ausgestattet betreibt der "Bürgerkonvent" laut Speth "eine aggressive Anti-Parteien-Rhetorik und verfolgt das Ziel, die Politiker unter Druck zu setzen."

Dabei, so erklärte der Politologe im Gespräch mit Telepolis, "werden Begriffe und Inszenierungen von sozialen Bewegungen imitiert". Der Bürgerkonvent bezeichne sich etwa als Nichtregierungsorganisation und betone in Selbstdarstellungen seinen Bewegungscharakter. Während die INSM auf zentral gesteuerte PR-Kampagnen setzt, will der Bürgerkonvent kraft seiner über 2.000 Mitglieder auf diese Weise Druck "von unten" erzeugen. Bisher wenig erfolgreich. Wahrscheinlich fehlen noch ein paar Millionen Euro Finanzmittel.