Abschreckung nutzt sich ab

Die Klagewellen der Musikindustrie laufen ins Leere

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Die internationale Musikindustrie hat derzeit zwei besonders schmerzhafte Tiefschläge zu verkraften. Erstens nimmt die Zahl der Tauschbörsennutzer trotz der vor allem in den USA nicht abebben wollenden Klagewellen wieder zu. Und zweitens kursieren derzeit zwei wichtige Umsatzbringer schon vor ihrer offiziellen Veröffentlichung im Netz.

Sowohl die neue Eminem-CD "Encore" als auch das nagelneue U2-Album "How to Dismantle an Atomic Bomb" sind bereits über die einschlägigen Tauschbörsen zu haben. Musiker, Management und Plattenfirmen planen jetzt, die Veröffentlichung der beiden äußerst umsatzträchtigen Werke vorzuziehen.

Die Marketingmaschine wird angeworfen

Bevor umsatzträchtige Bands ein neues Album auf den Markt werfen, wird eine groß angelegte Marketingkampagne gestartet. Musik ist eben ein Produkt, das massiv beworben werden will, soll es sich massiv verkaufen. Plattenfirma und Künstler wollen sicherstellen, dass auch der allerletzte Musikfan erfährt, wie "sensationell gut" das neue Album der XYZ-Band ist, sowie wann, wie und wo er das "geniale" Album käuflich erwerben kann.

Es werden Anzeigen in Musikzeitschriften geschaltet, die Band-Webseite bekommt ein Update, Pressetermine werden anberaumt, Interviewtermine sind verfügbar, und die Band tourt durch die wichtigsten einschlägigen Fernsehsendungen, um ihre neue CD zu promoten. Im Falle der neuesten CD der irischen Altherren-Erfolgsrocker von U2 wurde diese nicht gerade billige PR-Kampagne noch um einige Umdrehungen höher als sonst üblich geschraubt.

U2 und Apple bewerben sich gegenseitig

Plattenfirma Interscope, U2-Management und Computerfirma Apple hatten hinter zunächst fest verschlossenen Türen eine enge Zusammenarbeit vereinbart, um die Produkte "Neues U2-Album" sowie "Ipod" und "Itunes Music Store" wechselseitig zu bewerben.

Wie in solchen Fällen üblich, sickerten bald die ersten Gerüchte durch. Apple und U2 waren darüber vermutlich keineswegs unglücklich. Denn solche Gerüchte bedeuten schließlich eine kostenlose Extraportion Werbung.

Anschließend kam der erste offizielle Paukenschlag: Die neue U2-Single erschien exklusiv zunächst nur in Apples Online-Musikladen, während die Band gleichzeitig in einem Werbeclip für sich selbst und Apples Ipod die Werbetrommel rührte. Die strategische Zusammenarbeit zwischen Apple und U2 war damit allerdings noch nicht beendet. In einer groß angekündigten Apple-Promotion-Veranstaltung wurde der neue U2-Ipod vorgestellt, auf dem das neueste U2-Album gleich vorinstalliert wird – Kostenpunkt 349 US-Dollar, Liefertermin Ende November, denn das offizielle Veröffentlichungsdatum der neuen U2-CD war in Europa auf den 22.11., in den USA auf den 23.11. gelegt worden.

Tauschbörsenveröffentlichung bringt PR-Plan durcheinander

Es hätte das perfekt getimte Promotions-Szenario werden können, wenn das neue U2-Album nicht schon vorher über die einschlägigen Musiktauschbörsen zu bekommen gewesen wäre. Woher die Kopie des unveröffentlichten Materials stammt, ist ungeklärt. Im Sommer dieses Jahres waren der Band Aufnahmebänder einer frühen, unvollständigen Version der neuen CD gestohlen worden. Ob es sich jedoch bei den nun kursierenden Titeln tatsächlich um diese unfertigen Musikstücke handelt, darf bezweifelt werden. Insidern zufolge klingen die Aufnahmen perfekt und überhaupt nicht fragmentarisch.

Ob Plattenfirma und Bandmanagement den offiziellen Veröffentlichungstermin kurzfristig vorziehen werden, steht noch nicht fest. Was jedoch feststeht ist, dass die Tauschbörsenveröffentlichung des neuen Albums den sorgfältig choreografierten Apple-U2-Promotion-Zeitplan gehörig durcheinander gewirbelt hat.

Eminem veröffentlicht vorzeitig

Ein ähnliches Klagelied kann derzeit auch Rap-Großverdiener Eminem anstimmen. Seine neue CD "Encore" ist in voller Länge und bester MP3-Qualität ebenfalls bereits seit ein paar Tagen über die einschlägigen Tauschbörsen erhältlich. Geffen Records, Eminems Plattenfirma, reagierte prompt. Der eigentlich für den 16. November angesetzte Release-Termin des neuen Rap-Werkes wird um vier Tage vorgezogen. Wer sich von Eminem musikalisch beglücken lassen und dafür in die Tasche greifen möchte, kann die neue CD bereits am 12. November kaufen.

Wieder mehr Tauschbörsennutzer

Vor diesem Hintergrund wirken die Beteuerungen der Musikindustrie, man habe mit der Strategie "Abschreckung durch Klagen" bereits durchschlagende Erfolge erzielt, reichlich überzogen. Musik- und Tauschbörsenfans lassen sich offenbar doch nicht so schnell ins Boxhorn jagen, wie die Musikindustrie in ihren Statements glauben machen will.

Das belegen im Übrigen auch die neuesten Analysen des US-amerikanischen P2P-Marktbeobachters IT Innovations & Concepts (ITIC). Danach hat die Zahl der Tauschbörsennutzer im Monat Oktober um 3,37 Prozent zugenommen. Nur die Musiktauschbörse Kazaa, deren Nutzer zunächst besonders von der juristischen Verfolgung betroffen waren, verzeichnete im selben Monat einen Nutzerrückgang von 13 Prozent.

Die tendenzielle Zunahme der Nutzerzahlen wird auch vom US-Marktforschungsunternehmen Big Champagne bestätigt. Den Zahlen dieser Firma zufolge sollen im Oktober dieses Jahres 5,7 Millionen US-Amerikaner Peer-to-peer-Tauschbörsen genutzt haben. Eric Garland, Chef der Firma Big Champagne, führt den Anstieg der Nutzerzahlen erstens darauf zurück, dass an den US-Universitäten das neue Semester begonnen hat. Zweitens meint er, dass die weltweiten juristischen Kampagnen der Musikindustrie ihre abschreckende Wirkung verloren hätten.

Nachrichtenwert nutzt sich ab

Die abschreckende Wirkung der Klagewellen wurde in erster Linie durch eine entsprechende Berichterstattung in den Medien erreicht. Doch der Nachrichtenwert periodisch wiederkehrender Klagewellen nutzt sich in einer auf Neuigkeiten und spektakuläre Topmeldungen versessenen Medienwelt recht schnell ab. Während die ersten Klagen sowohl in den USA als auch in Europa noch von einem großen Mediengetöse begleitet worden waren, werden die neuesten Massenklagen in den Redaktionen nur noch unter business as usual abgebucht. Aus der einstigen Topmeldung ist längst eine nur noch einspaltige Kurzmeldung irgendwo im Zeitungsunterhaltungs- oder Sammelsuriumsteil ("Vermischtes", "Aus aller Welt") geworden. Wirksame Abschreckung braucht ein anderes Umfeld.