Die Stimmen, die wirklich zählen, sind noch nicht abgegeben

Am 13. Dezember stimmen die Wahlmänner in den USA ab

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In Ohio wird eine Neuauszählung mit der Begründung abgelehnt, die erste Auszählung sei noch gar nicht fertig. Bürgerrechtler wie Jesse Jackson sind außer sich, denn "Ohio bestimmt den Ausgang der Präsidentschaftswahlen, aber der Bundesstaat hat die Stimmen noch gar nicht fertiggezählt." Was Jackson nicht weiß: Die Wahlen für die Präsidentschaft in den USA haben noch gar nicht stattgefunden. Rechtskräftig wird die Wiederwahl von Bush erst am 13. Dezember, wenn die Wahlmänner (electors) ihre Stimmen abgegeben. Die Volksabstimmung am 2. November diente nämlich nur dazu, ein Stimmungsbild zu formen, denn die Wahlmänner sind nicht verpflichtet, so abzustimmen wie die Wähler, die sie eigentlich vertreten. Und die Experten sind sich sicher: Obwohl der Vorsprung von Bush in Ohio 17.000 Stimmen weniger beträgt, als ursprünglich geschätzt, wird es vor dem 13. Dezember wahrscheinlich keine Neuauszählung geben.

Am 13. Dezember 2004 fällt der Hammer: Der Präsident der USA wird gewählt. Noch ist also gar nichts entschieden. 2000 blickten alle auf das Verfassungsgericht der USA, dem vorgeworfen wurde, es habe die Wahlen anstelle der Bevölkerung entschieden. Nichts dergleichen ist jedoch passiert. Das Gericht hat vielmehr für Ruhe gesorgt und eine neue Auszählung gestoppt. Aber erst das "Wahlmännergremium" (Electoral College) hat den Ausgang entschieden. Fragt sich nur: im Namen der Bevölkerung oder anstelle von dieser?

Warum wurde das Wahlmännergremium überhaupt erst geschaffen?

Als die USA gegründet wurden, gab es neben dem demokratischen Gedankengut auch die Furcht vor dem Pöbel. Schließlich hat man gesehen, was die französische Demokratie angestellt hat. Manche Experten argumentieren deshalb, das Wahlmännergremium sei ein undemokratisches Instrument, das dazu geschaffen wurde, die Interessen der Eliten zu schützen.

Andere halten dagegen, das Wahlmännergremium sei nur ein Versuch gewesen, den Ablauf der Wahlen einfach zu gestalten. Man stelle sich nur vor, wie man Wahlen um 1800 in einem Gebiet von Hamburg bis Gibraltar durchführen sollte. Auch hatten sich die politischen Parteien damals noch nicht so fest gebildet und das Gremium sollte für größere Einheitlichkeit landesweit sorgen. Außerdem hatte man damals den einzelnen Bundesstaaten viel Gewicht zugesprochen, damit sich die kleinen Bundesstaaten überhaupt beteiligen. Und wenn ein Bundesstaat seine Stimmen bündeln kann, hat er dadurch mehr Einfluss, als wenn er lediglich eine kleine Differenz zwischen den Kandidaten mit in den Topf wirft.

Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Man sieht ähnliche Tendenzen heute in der EU: Während Deutschland 29 Stimmen im EU-Rat besitzt, hat Luxemburg 4. Auf eine deutsche Stimme kommen 2,8 Millionen Bundesbürger; auf eine Stimme aus Luxemburg 100.000 Bürger. Anders geht es anscheinend nicht: Die kleinen Staaten würden neben den großen untergehen und der Union deshalb gar nicht erst beitreten.

Auch in den USA sind die "kleinen" Staaten leicht überrepräsentiert, was gerade für diese Wahlen interessant ist, denn Bush hat das Land nicht wirklich in blaue und rote Staaten, in Küsten und Mitte geteilt, wie oft behauptet wird, sondern in städtisch und ländlich. Wer das schafft und die ländlichen Stimmen für sich verbuchen kann, hat gute Karten, denn die ländliche Bevölkerung ist tendenziell überrepräsentiert.

Aber zurück zum Wahlmännergremium: Im Jahr 1888 (23 Jahre nach dem Bürgerkrieg) bekam bekanntlich der Republikaner Harrison die Mehrheit der Wahnmännerstimmen, obwohl er die Mehrheit der Stimmen vom Volk nicht bekommen hat. Manche fanden, das Gremium habe damals genauso gehandelt, wie dies von den Gründungsvätern beabsichtigt gewesen sei, denn der Demokrat Cleveland hatte zwar große Mehrheiten in den Südstaaten errungen, aber Harrison hatte viele knappe Mehrheiten im Rest des Landes erreichen können. Anders ausgedrückt: Das Electoral College schützte das Land davor, dass eine starke, aber regional konzentrierte Mehrheit das Land reagieren konnte.

Was die Wahlmänner trotz aller praktischen Überlegungen, die es einmal gegeben haben mag, undemokratisch macht, ist die Tatsache, dass sie nicht an das Wahlergebnis gebunden sind. Sie können wählen, wie sie wollen. Und das ist in den letzten 50 Jahren immer wieder geschehen.

Warum sind die Wahlmänner nicht an das Wahlergebnis gebunden?

In 48 Bundesstaaten gilt das "winner takes all"-Prinzip. Maine und Nebraska haben die Möglichkeit einer Teilung eingeräumt. Maine z.B. hat 4 Stimmen. Wenn unterschiedliche Kandidaten die zwei "districts" gewinnen, dann bekommt jeder eine Stimme für seinen Bezirk, und wer die meisten Stimmen im ganzen Staat bekommen hat, kriegt die anderen zwei. Es ist also möglich, dass die Wahlmänner in Maine 3:1 abstimmen müssen, aber eine solche Teilung ist de facto nie passiert, auch nicht in Nebraska.

Dennoch kann jeder Wahlmann faktisch wählen, wie er will - sogar für einen Kandidaten, der gar nicht zur Wahl angetreten ist und deshalb gar keine Stimmen vom Volk bekommen hat. Alles schon vorgekommen. Zwar haben 28 Bundesstaaten Gesetze, die das "abtrünnige Wählen" der Wahlmänner verbieten, aber es ist fraglich, ob die Strafen legal sind, denn die Wahlmänner könnte man als Bundesbeauftragte verstehen, d.h. sie unterstehen dem Bund, nicht dem einzelnen Staat. Und auf Bundesebene gibt es kein Verbot für "abtrünniges Wählen".

Eine Webseite der US-Regierung formuliert die Sachlage klar:

Under the Federal system adopted in the U.S. Constitution, the nation-wide popular vote has no legal significance.

Wieso hat man das zugelassen, als das Wahlmännergremium ins Leben gerufen wurde? Nun, einerseits sicherlich aus Inkompetenz und Schlampigkeit: Diese Lücke wurde nicht von den Gegnern dieser Politik erkannt und bekämpft. (Ähnlich ging es in Deutschland neulich zu, als Sachsen im Bundesrat nicht einheitlich abstimmte; eine offensichtliche Lücke im Procedere war einfach lange übersehen worden.) Andererseits scheinen zumindest die Gegner der Demokratie unter den Gründungsvätern der USA dem Gremium eine gewisse Schutzfunktion vor allzu viel Demokratie zugesprochen zu haben. So schrieb Alexander Hamilton, Hauptautor der Federalist Papers, über das Gremium, dass es wohl besser sei, wenn die Bürger eine kleine Gruppe von Personen aus den großen Massen wählen, die in der Lage sei, die relevanten Informationen zu kennen, und den nötigen Verstand besitzt, um herauszubekommen, wer Präsident werden solle:

A small number of persons, selected by their fellow-citizens from the general mass, will be most likely to possess the information and discernment requisite to such complicated investigations.

Die Amerikaner wählen ihren Präsidenten als gar nicht direkt, sondern sie wählen die Menschen, die wiederum den Präsidenten für sie wählen sollen. Was auf den ersten Blick wie das deutsche System erscheinen mag, weist zwei große Unterschiede auf: Erstens ist es nicht der Kongress, der den Ausgang der Wahlen bestimmt, sondern ein extra für die Wahlen geschaffenes Gremium, das nur diese Funktion wahrnimmt. Die Gründungsväter wollten nämlich eine klare Teilung zwischen der Exekutive und der Legislative; sie wollten einen Präsidenten und keinen Premier. Der zweite Unterschied zum deutschen System besteht eben darin, dass die Wahlmänner abstimmen können, wie sie wollen, egal wie das Mandat der wahlberechtigten Bürger lautet. So schrieb James Madison 1823:

Obwohl sie lediglich die Stimme ihrer Wähler sind, kann es den Wahlmännern absichtlich [sic!] manchmal gestattet sein, ihr eigenes Urteil zu bilden, das von weiteren Informationen geleitet wird.

Die Wähler machen den Wahlmännern gewissermaßen unverbindliche Vorschläge. Mehr nicht.

Eine kleine Reise durch die Annalen des Wahlmännergremiums

Kaum war das Gremium gegründet, ging alles schon chaotisch zu. Ironischerweise war 1908 ausgerechnet James Madison, der Verfechter des Gremiums, das erste Opfer: 6 Wahlmänner aus New York verweigerten ihm die Stimme und stimmten für einen Mann namens Clinton. Madison gewann trotzdem, weshalb der Vorgang nicht weiter Beachtung fand.

1820 war es dann wieder so weit, und nun beginnt man zu ahnen, was für ein Gentleman's Club das Gremium war: James Monroe erhielt alle Stimmen, denn keine andere Partei hatte einen Kandidaten ins Rennen geschickt. Nur ein Witzbold aus New Hampshire tat der Großen Nation den Gefallen und stimmte für John Quincy Adams, damit nur George Washington als einziger Präsident mit einer 100%-Mehrheit in die Geschichte eingehen würde. Übrigens: Die drei "not voting"-Wahlmänner waren zwischen dem Tag der popular vote und dem der electoral vote verstorben.

Warum sollte man Wahlen überhaupt durchführen, wenn es nur einen Kandidaten gibt? Das haben sich die Amerikaner damals auch gedacht, und so gab es 1824 nicht überall Wahlen. Das Wahlmännergremium war sich dann aber plötzlich nicht einig ohne einen eindeutigen Auftrag vom Volk und wählte vier Kandidaten aus der einen verbliebenen Partei. Keiner bekam eine Mehrheit, und so müsste das Abgeordnetenhaus entscheiden. Nun gewann John Quincy Adams. Und Sie haben gedacht, 2000 wäre wild gewesen...

Apropos Gegenkandidaten: Die New York Times berichtet, dass 2004 in vielen Bundesstaaten nur ein Kandidat für ein Amt angetreten ist. Das ist so für 75 Prozent der Sitze im Senat von Arkansas, 73 Prozent in Florida, 70 Prozent in South Carolina, 62 Prozent in New Mexico, usw. Insgesamt wurden lediglich 7 Amtsinhaber im Abgeordnetenhaus (440 Sitze insgesamt) abgewählt, denn man zieht die Linien für die Wahlbezirke so, dass Amtsinhaber "sicher" sind (Gerrymandering - Wahlbezirke mit Tentakeln). Laut der New York Times waren 4 der 7 geschlagenen Amtsinhaber Demokraten aus Texas, die auf diese Weise "herausschnitten" wurden (gerrymandering).

Man kehrte nach 1824 zur alten Politik zurück, denn ganz ohne Auftrag vom Volk lief es nicht gut. Außerdem war das mit der einen Partei auf Dauer zu langweilig, und so stritten sich die Democrat-Republicans erfolgreich auseinander: Es entstanden die Democrats und die Whigs. Letztere erwiesen sich 1836 als recht erfinderische Verfechter der Demokratie: Sie wussten, dass die Wahlmänner frei nach Schnauze wählen können und schickten deshalb unterschiedliche Kandidaten in verschiedenen Bundesstaaten ins Rennen - immer der geeignetste Kandidat für die jeweilige Region. Am Ende sollten die Wahlmänner von den Whigs jedoch einheitlich abstimmen. Die Rechnung ging jedoch nicht auf: Der Demokrat Van Buren gewann eine Mehrheit und der listige Versuch ist seitdem nicht wiederholt worden. Aber immerhin war damit bewiesen, dass die Amerikaner eigentlich nicht informiert genug waren, um zu wählen, denn viele hätten gar nicht mitbekommen, dass eine Partei mehrere Kandidaten stellt - damals gab es David Letterman und Jay Leno noch nicht; heute wäre also eine solche Unternehmung zum Scheitern verurteilt.

Konsequenterweise ging weniger Jahre später aus der Whig-Partei die sogenannte "American Know Nothing"-Partei hervor. Diese zielte darauf ab, das Unwissen der Amerikaner zu nutzen, indem die Mitglieder quasi als Geheimbund (auch Verschwörung genannt) agierten, d.h. sie gaben sich als Demokraten oder Republikaner aus, waren aber in Wirklichkeit keine, oder sie sagten nur, wenn man sie nach ihrer Parteiangehörigkeit fragte: "I don't know nothin'". 1856 gewann ein Know-Nothing sogar die Wahlmännerstimmen vom Bundesstaat Maryland. Böse Zungen behaupten, die Know-Nothings würden das Land heute noch regieren...

Nun springen wir direkt zu 1876. Dazwischen liegt der Bürgerkrieg, aber mit dem Wahlmännerkolleg passierte wenig. Das Land hatte in der Zwischenzeit echte Probleme damit, eine Einheit zu bleiben. Und zu seinem 100. Jubiläum gönnte sich das Land einen echten Skandal: In den Bundesstaaten Florida, Louisiana und South Carolina wurden offenbar republikanische Wähler mit Gewalt bedroht, und auch sonst sprach man von Wahlbetrug. Dies waren auch zufällig die Bundesstaaten, in denen Truppen seit dem Ende des Bürgerkriegs (1865) noch stationiert waren. Laut den von den Gouverneuren dieser Bundesstaaten gelieferten Zahlen für den Wahlausgang hatte nämlich der Republikaner gewonnen, laut den Zahlen von den jeweiligen Senaten der Bundesstaaten der Demokrat.

Die Demokraten im US-Senat drohten den Ausgang der Wahlen per Filibuster zu blockieren, falls das Kolleg den Republikaner wählen sollte. Ein vorwiegend republikanisches Gremium wurde ins Leben gerufen, um den Wahlausgang zu entscheiden, und der Republikaner - wen wundert es? - trug den Sieg davon. Aber die Südstaaten hatten sich dafür ein Ende der für sie demütigenden "reconstruction" (die Südstaaten wurden sozusagen "entrebelliert") ausbedungen.

Nach der "reconstruction" (die Südstaaten wurden sozusagen "entrebelliert") blieb alles sehr, sehr konstant: Der Süden wählte demokratisch (states' rights, damit man sich zumindest nicht alles vom Norden gefallen lassen musste), der Norden republikanisch (Betonung auf "federal government", also Einheit - damals hat sich der heutige Singular zuungunsten des Plurals von "United States" eingebürgert, um den Amerikanern die Unteilbarkeit ihres Landes klarzumachen: "the United States is [nicht: are] God's own country"). Der demokratische Block im Bibelgürtel blieb von 1880 bis 1948 bestehen, und als er nach 68 Jahren endlich auseinander ging, kam das Gremium wieder ins Rampenlicht.

1948 wählte ein Wahlmann aus Tennessee für den "Dixiecrat" (Dixie ist der Spitzname der Südstaaten) Strom Thurmond. Es war eine Rebellion und hatte nichts mehr mit dem alten Gentleman's Club zu tun. Rund 70 Jahre lang hatten die Demokraten den Süden in der Hand, aber nach 13 Jahren Roosevelt war die Partei zu links-liberal für den Süden geworden. Die Demokraten setzten sich immer mehr für die Rechte der Schwarzen ein. Sie sollten bald die Rassenintegration durchsetzen. Das war nichts mehr für die Südstaaten. Strom Thurmond dagegen war ein echter Demokrat im alten Stil des 19. Jahrhunderts - einer, der wusste, dass man die Union zwar nicht verlassen, aber seine Nische durchaus darin finden kann, indem man ständig auf das Recht der Bundesstaaten verwies, eigene Gesetze zu bestimmen. Der Bund sollte so schwach wie möglich sein.

Man beginnt hier ein wichtiges Mysterium der US-Kultur und Politik zu begreifen. Wie jedes Schulkind in den USA weiß, hat der erste republikanische Präsident - Abraham Lincoln - die Sklaven befreit. Aber es ging ihm nicht um die Sklaven; er wollte die Union retten, und die auf Sklaverei basierte Landwirtschaft des Südens war mit dem industriellen Kapitalismus des Nordens nicht vereinbar (ganz abgesehen von der Haltung der Sklavenhalter). So schrieb er 1862 (mitten im Bürgerkrieg), dass es ihm zweitrangig sei, ob die Sklaverei abgeschafft wird:

If there be those who would not save the Union unless they could at the same time destroy slavery, I do not agree with them. My paramount object in this struggle is to save the Union, and is not either to save or to destroy slavery. If I could save the Union without freeing any slave I would do it, and if I could save it by freeing all the slaves I would do it; and if I could save it by freeing some and leaving others alone I would also do that. What I do about slavery, and the colored race, I do because I believe it helps to save the Union; and what I forbear, I forbear because I do not believe it would help to save the Union.

Lincolns General William Sherman versprach den Sklaven blühende Landschaften ("40 acres and a mule"), vergaß aber einen Solidaritätszuschlag einzuführen. Die Republikaner wollten den Schwarzen schon immer gleiche Chancen und gleiche Rechte geben. Anders ausgedrückt: Man wollte sie genauso wie die Immigranten ausbeuten. Dass ein Sklave ohne weitere Förderung nicht über Nacht zum mündigen Bürger wird, geschweige denn zum selbstständigen Geschäftsmann - das war den Republikanern viel zu tiefschürfend.

Und die Demokraten? Ich habe 22 Jahre in den Südstaaten gelebt. Es gibt dort ein Sprichwort: "Der Norden liebt die Rasse und hasst das Individuum; der Süden hasst die Rasse und liebt das Individuum." Was meint man damit? Nun, während der Sklaverei argumentierten viele weiße Südstaatler, man könne die Schwarzen nicht einfach so befreien, sie seien nicht in der Lage für sich selbst zu sorgen. Man würde gut für sie auf der Plantage sorgen. Solche Ausreden triefen von Häme, aber zumindest der erste Halbsatz stimmt: Der Norden tat nichts für die Schwarzen, nachdem er sie bereit hat. Die "Liebe" zu den Schwarzen war eine abstrakte, die nicht in die Tat umgesetzt wurde.

Aber ein bisschen von dieser Liebe zum Individuum blühte langsam bei den Demokraten auf. Das schmeckte einigen Südstaatlern nicht und sie kehrten ihrer Partei den Rücken - zunächst, indem sie versuchten, eine dritte Partei zu gründen, und in letzter Zeit durch den Schulterschluss mit den Republikanern.

Und so wählte der Süden 1948 eine dritte Partei, die Dixiecrats, und stimmte damit gewissermaßen für das Land, das knapp 90 Jahre zuvor den Bürgerkrieg verloren hat. Die Dixiecrats verloren die Wahlen, aber ein Wahlmann hatte gegen die Wähler und das Procedere in Tennessee gestimmt. Und wieder blieb diese Rebellion - man spricht von "untreuen Wahlmännern" (unfaithful electors) - ohne weitere Wirkung auf das Wahlergebnis.

1952 blieb es im Gremium ruhig, aber 1956 war es wieder so weit: Ein Wahlmann aus Alabama stimmte nicht für den Demokraten, sondern aus Protest für einen Richter aus seiner Heimatstadt. Seine Untreue hatte keine weitere Auswirkung auf das Ergebnis.

1960 wird es dann richtig wild. Zum ersten Mal seit 1836 wollten Politiker, diesmal in den Südstaaten, einen Trick ausnutzen: Die Wahlmänner können "unpledged" sein, d.h. sie müssen nicht konform mit einer Parteilinie wählen. Man sagte dann, es gebe neben Demokraten und Republikanern eine "unabhängige" Partei. Diese bekam sogar in Mississippi die meisten Stimmen, und die 8 Wahlmänner gingen an einen Harry F. Byrd, der sich für die Rassentrennung einsetzte. Dazu bekam er einige Stimmen von abtrünnigen Wahlmännern aus Alabama und sogar einen von einem Republikaner aus Oklahoma. Die Bürgerrechtsbewegung hatte sich in Bewegung gesetzt und es knarrte im amerikanischen Gebälk.

Der liberale Demokrat Kennedy aus Neuengland wurde dann 1963 in Dallas/Texas ermordet. Der Vizepräsident aus Texas, Lyndon B. Johnson, wurde Präsident. Gott sei Dank, werden Sie nun denken, jetzt sind die Südstaatler ruhig, denn einer von ihnen sitzt im Weißen Haus! Aber nein, die Südstaaten hatten bereits die Seiten gewechselt. Seitdem haben sie nur einmal einheitlich für einen demokratischen Präsidenten gestimmt, und zwar 1976 für einen wiedergetauften Christen aus Georgia: Jimmy Carter.

1964 machte der Süden die Abkehr von den Demokraten klar und stimmte für einen Republikaner aus Arizona, während der Rest des Landes (außer Arizona) demokratisch wählte. Goldwater war zwar nicht für die Rassentrennung, aber dann doch gegen Gesetze aus Washington, die in das Mandat der Bundesstaaten eingreifen. Und der Bund versuchte damals, die Rassentrennung im Süden aufzuheben - eine klare Mandatsüberschreitung. Goldwater verlor, aber sein politisches Vermächtnis übernahm später Ronald Reagan.

1968 boten weder Republikaner noch Demokraten einen für den Süden akzeptablen Kandidaten, und so gingen die Südstaatler wieder fremd. Sie wählten den alten Gouverneur von Alabama, George Wallace, der 1962 bei seinem Amtsantritt als Gouverneur erklärt hatte:

Segregation now, segregation tomorrow, and segregation forever.

Im Wahlmännergremium gab es nicht nur schon wieder einen unfaithful elector - diesmal in North Carolina (die Stimme ging natürlich an Wallace) -, sondern zum ersten Mal befasste sich der Kongress mit dem Vorfall. Und da man beschloss, die abtrünnige Stimme anzunehmen, gilt dies als Präzedenzfall. Damit dürfte besiegelt sein, dass die Wahlmänner nicht an die Anweisungen aus dem Volk gebunden sind.

Auch 1972 gab es einen Abtrünnigen, aber diesmal nicht im Süden, denn Nixon hatte das ganze Land bis auf Massachusetts und Washington D.C. gewonnen. Nein, diesmal wollte ein Republikaner aus Kentucky der neugegründete Libertarian Party unter die Arme greifen. So bekam ein Mann namens Hospers eine elector-Stimme, obwohl er nur 3.676 Stimmen vom Volk bekommen hatte.

1976 kam es noch besser: Ein Mann namens Ronald Reagan, der gar nicht zur Wahl angetreten war und auch gar keine Stimmen vom Volk bekommen hatte, erhielt eine elector-Stimme aus Washington State. Der abtrünnige republikanische Wahlmann wollte damit gegen die Abtreibungsrechtler im Lande protestiere, und der republikanische Kandidat hatte eh verloren.

Unter Reagan war dann alles wieder ruhig im Gremium, bis eine Wahlfrau 1988 erfuhr, dass sie frei nach Schnauze wählen durfte. Aus Protest gegen diese Freiheit tauschte sie den Präsidenten für den Vizepräsidenten ein, um das Problem bekannt zu machen.

Man sieht also, dass der Tumult im Gremium gar nicht bekannt ist, auch nicht unter potentiellen Wahlmännern (und -frauen), auch wenn der Tumult seit 1948 mit einer ziemlichen Regelmäßigkeit wiederkehrt. Die Amerikaner glauben einfach, sie würden den Präsidenten wählen, und solange die Abtrünnigen den Ausgang der Wahlen nicht beeinflussen, ändert sich nichts.

Oder wussten Sie, dass 2000 die Wahlfrau Barbara Lett-Simmons aus dem District of Columbia einen leeren Wahlzettel abgab, anstatt für Gore zu wählen, um dagegen zu protestieren, dass die Bürger der Hauptstadt im Senat nicht vertreten sind? Natürlich nicht, alle waren mit dem Wahl-Skandal beschäftigt...

Und was lernen wir daraus?

Wahrscheinlich wird am ersten Montag nach dem zweiten Mittwoch im Dezember alles im Electoral College glatt gehen. Vermutlich wird ein Wahlmann nur abtrünnig, wenn es nichts am Ausgang der Wahlen ändert. Aber das Gremium ist ein Pulverfass - und es könnte jederzeit explodieren. Neben der Möglichkeit, dass einige Wahlmänner sich absprechen, um gezielt anders abzustimmen, könnte es auch vorkommen, dass zufällig mehrere Wahlmänner gleichzeitig abtrünnig werden. Und wenn sie den Ausgang der Wahlen ändern, wird die ganze Welt wissen, dass die Amerikaner noch nie einen Präsidenten direkt gewählt haben.

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