In der Kirche und im Kino

Das SMS-Phänomen in den Philippinen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Manila, die Hauptstadt der Philippinen, nennt sich stolz "die SMS-Hauptstadt der Welt". In Studien wird geschätzt, dass im ganzen Land täglich 150 Millionen Text-Botschaften verschickt werden, was die Philippinen zum Land mit der höchsten Zahl von SMS-Nachrichten pro Kopf und pro Tag machen würde.

Wenn man den Statistiken nicht glauben will, genügt ein Spaziergang durch eine belebte Strasse oder eine Shopping Mall, um die Leidenschaft zu verspüren, mit der die Filipinos das betreiben, was im Land als "Texting" bezeichnet wird. Überall sieht man Leute, die ununterbrochen auf den Tasten ihrer Handys herumtippen, und das Piepsen eingehender Nachrichten ist zum Alltags-Geräusch geworden, das man an jeder Ecke hört.. Für Telefonate wird das Handy weit seltener eingesetzt. In einem Land, in dem Festnetzanschlüsse jahrezehnte lang unerschwinglich und schwierig zu bekommen waren, sind SMS-Nachrichten zu einem der wichtigsten Kommunikationsmittel geworden, und wer sich nicht daran beteiligt, schließt sich vom sozialen Leben aus.

Als Präsident Estrada 2002 nach Massenprotesten zurücktreten musste, wurde in den Medien der weit verbreitete Gebrauch von SMS-Botschaften bei der Koordination der Proteste hervorgehoben. Estrada selbst sprach nach seiner Entmachtung von einen "Coup d'text".

Ein Grund für die Beliebtheit des "Txt-ing" ist die hohe Zahl von "Overseas Foreign Workers" (also Arbeitsmigranten), deren Einkommen einen relevanten Teil der Bruttosozialprodukts der Philippinen ausmacht. Die philippinischen Hausmädchen in Singapur und die Fahrer im Mittleren Osten benutzen Textmessages, um mit ihrer Familie zuhause in Kontakt zu bleiben.

Der philippinische Soziologe Raul Pertierra hat das Texting in einer Studie untersucht, und stellt einige Ergebnisse im folgenden Interview vor. Sein Buch "Txt-ing Selves: Cellphones and Philippine modernity" (Manila: De La Salle University Press, 2002), ist auch im Internet veröffentlicht worden.

Wie erklären Sie sich den enormen Erfolg von SMS unter den Filipinos?

Raul Pertierra: Zunächst mal ist es ganz einfach billiger als normale Telefonate. Es gibt auch andere Vorteile, zum Beispiel, dass man kein ununterbrochenes, störungsfreies Signal haben muss Aber der Hauptgrund für die Beliebtheit in den Philippinen sind ganz klar die Kosten. Als Handys Anfang der 90er Jahre hier eingeführt wurden, war SMS noch ein Gratis-Dienst, weil man bei den Telefongesellschaften glaubte, dass das sowieso niemand benutzen würde. Als sie herausfanden, dass alle sich darauf stürzten, wollten sie damit natürlich Geld verdienen.

Sehr wichtig bei SMS ist die Natur der Message. Sowohl SMS-Nachrichten wie auch normale Telefonate mit dem Handy sind durch die Banalität der Botschaften charakterisiert. Das sind Sachen wie "Wo bist Du?", "Ich bin hier", "Wie geht es?" Aber diese Banalität hat ihre eigene Bedeutung. Wir haben für die Studie unsere Informanten gefragt: "Warum textet ihr?" Meist texten sie mit ihren Freunden und ihrer Familie. Es geht nicht darum, neue Netzwerke zu knüpfen. Die Netzwerke sind schon da, und das Texting dient dazu, es aufrecht zu erhalten.

Die Philippinen sind immer noch eine Dorfgesellschaft

Gibt es auch andere Typen von SMS-Nachrichten?

Raul Pertierra: Es gibt drei Arten von Textmessages, die für die Philippinen typisch sind. Erstens religiöse Botschaften wie zum Beispiel: "Good is always with you" und ähnliches. Dann gibt es abgeschriebene aufmunternde Botschaften. Es gibt tatsächlich Bücher oder Websites, von denen man solche Grüße kopieren kann. Und dann gibt es Sexwitze, die von zweideutig bis knallhart gehen. Interessanterweise schicken sogar Schüler solche Witze an ihre Eltern, obwohl sie ihnen solche Witze nie erzählen würden. Anscheinenden ist Texting eine andere Form der Kommunikation, in der man Dinge mitteilen kann, die man sich nie ins Gesicht sagen würde. Das hat uns sehr beeindruckt.

Texting ist diskreter als Telefonate. Ist das auch ein Grund, warum Texting hier so populär ist?

Raul Pertierra: Nein. Wir haben noch keine entwickelten Regeln für den Gebrauch von Handys in der Öffentlichkeit. Die Leute benutzen ihre Handys in der Kirche, im Kino, einfach überall. In den USA werden manche Leute sehr aggressiv, wenn man neben ihnen im Bus telefoniert. So etwas hat sich in den Philippinen noch nicht entwickelt, weil wir kein so differenziertes Sozialleben haben. Die Philippinen sind immer noch eine Dorfgesellschaft. Sogar Manila ist ein riesiges Dorf, auch wenn die Stadt 13 Millionen Einwohner hat. Die Leute benehmen sich in der Öffentlichkeit, als seien sie in einer kleinen Gruppe von Bekannten. Das kann manchmal ganz schön unhöflich wirken. Andererseits kann es passieren, dass einem Wildfremde im Bus etwas zu essen anbieten.

Die abwesend Anwesenden

Was sagt es über den Nationalcharakter der Filipinos, dass das Texting so beliebt geworden ist?

Raul Pertierra: Was am Texting und an Mobiltelefonen interessant ist, ist der Zusammenhang zwischen dem Verhalten von Filipinos und zum Beispiel von Finnen. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Kulturen, aber wenn es um Mobiltelefone geht, verhalten sie sich sehr ähnlich. Die Technologie leistet also ganz klar einem bestimmten Verhalten Vorschub.

Sadie Plant argumentiert allerdings in ihrer Studie On the Mobile, dass es sehr wohl lokalisierte Arten gibt, mit dem Mobiltelefon umzugehen, und dass sich das "Handy-Verhalten" in Ländern wie Japan und Saudi-Arabien, Finnland und Malaysia fundamental unterscheidet ...

Raul Pertierra: Naja, es gibt Unterschiede beim Texting, die klassenabhängig sind. Wohlstand lässt auch eine andere Nutzung des Handys zu. Wer es sich leisten kann, führt lieber richtige Telefonate.

Handys scheinen eine wichtige Rolle bei der Globalisierung zu spielen. Was für eine Rolle hat das beim Erfolg des Textings in den Philippinen?

Raul Pertierra: Aus den Philippinen kommen die meisten Matrosen auf der ganzen Welt. Vor zehn Jahren gab es hier darum auch die meisten Satellitentelefone, damit die Leute mit ihrer Familie zuhause in Kontakt bleiben könnten. Inzwischen ist die Zahl der philippinischen Hausangestellten zum Beispiel in Hongkong auf über 180.000 gestiegen. Wir beobachten, dass das Mobiltelefon dazu benutzt wird, um Beziehungen zu ihrem Dorf aufrecht zu erhalten, was wir die "absent present" nennen. Das bedeutet, dass Leute, die abwesend sind, immer noch eine wichtige Rolle in ihrem Dorf spielen. Es gibt zum Beispiel Mütter, die in Saudi-Arabien arbeiten, aber über das Handy Alltagsentscheidungen bei sich zuhause treffen - zum Beispiel ob der älteste Sohn ein neues Paar Schuhe bekommt oder der jüngste ein neues Hemd.

Und wie überprüfen sie, dass ihre Anweisungen auch ausgeführt werden?

Raul Pertierra: Wir machen ethnographische Feldarbeit in den Dörfern, darum kennen wir die Nachrichten, die eingehen, und wissen, ob sie in die Tat umgesetzt werden. Sehr oft sendet die Frau ihr Geld nicht an ihren Mann, sondern an ihre Mutter. Und die Mutter gibt dem Ehemann ein Taschengeld und verwendet den Rest für die Familie. Die Frauen haben so eine recht gute Kontrolle über das Haushaltsgeld. Neuerdings kann man hier auch Geld per SMS versenden. Wir haben das noch nicht im Feld beobachtet, aber das würde der Ehefrau noch mehr Kontrolle geben.

Texting ist eine Fortsetzung der oralen Kultur

Es ist in der letzten Zeit diskutiert worden, ob der Gebrauch von Abkürzungen auch Einfluss auf die Alltagssprache haben könnte. Viele Lehrer befürchten einen negativen Einfluss auf das Englisch. Was denken Sie darüber?

Raul Pertierra: Mich interessiert vor allem der Gebrauch von Sprache. Die meisten Filipinos sprechen zwei oder drei Sprachen und kümmern sich nicht besonders um grammatikalische Feinheiten. Wenn ein Filipino in Tagalog spricht, lässt er oft ein paar englische Worte in den Satz einfließen. Unsere Sprache ist also sowieso schon ein Hybrid. Das Medium ermuntert zu Intimität und Saloppheit, und dazu gehören auch bestimmte grammatikalische Strukturen.

Die Kultur der Filipinos ist sehr stark oral geprägt. Oral heißt, dass man mit einem direkten Gegenüber spricht. Das Interessante am Texting ist freilich, dass es über große Entfernungen stattfindet. In seinem Übergang von einer oralen zu einer schriftlichen Kultur hat der Westen diese Obsession mit Grammatik entwickelt, aber das gilt eigentlich nur für die Schriftsprache. In den Philippinen hat das geschriebene Wort nicht diesen Status. Es ist in diesem Sinne eine Analphabeten-Kultur. Und interessanterweise gibt es jetzt das Texting, das zwar strukturell oral ist, aber nur durch Schreiben stattfinden kann.

Sehen Sie ökonomische Auswirkungen des Textings?

Raul Pertierra: Die Mobiltelefonfirmen Smart und Globe verdienen im Augenblick unglaubliche Summen. Das ist der einzige Bereich unserer Volkswirtschaft, in dem sich etwas bewegt. Aber ansonsten sehe ich erst mal keine ökonomischen Konsequenzen. Andererseits habe ich gerade erfahren, dass die Leute in den Dörfern sich jetzt per SMS die Preise für Schweinefleisch oder Hühnereier mitteilen. Aber es ist immer noch eine Sache, sich über die Preise zu informieren, und eine andere, aus dieser Information auch wirklich Kapital zu schlagen.