Die Rückseite der Unabhängigkeitserklärung

Jon Turteltaubs "Vermächtnis der Tempelritter" und die verschwörerische Filmtheorie

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Filme erzählen nicht nur die Geschichten ihrer Figuren - sie erzählen immer auch von sich selbst, ihrer Herkunft und ihrer möglichen Bedeutung. Diese "zweite Erzählung" zu lesen, ist die Aufgabe des Filmkritikers. Im Gegensatz zum "Filmkritiker alter Schule" reicht es ihm nicht mehr, einen Film nur zu "bewerten", indem er ihn auf die Qualität seiner ästhetischen Kriterien reduziert. Denn viel zu verschieden sind Meinungen und Geschmäcker, als dass hier objektiv Konsens erzeugt werden könnte. Ein "gut" oder "schlecht" findet sich allein noch im Auge des einzelnen Betrachters. Diese Erkenntnis zu Grunde legend, bekommt die Filmkritik die Chance, den Film als ein Kommunikationsangebot aufzufassen. Der Filmkritiker - und er ist in dieser glücklichen Situation allein deshalb, weil er den Film eher als alle anderen sieht! - liefert eine erste Lesart und eröffnet damit eine Debatte, die (zumindest in einem Medium wie dem Internet, in dem der Dialog möglich und erlaubt ist) den Film als Gegenstand des Diskurses umkreist, Lektüren und Gegenlektüren einander gegenüberstellt.

Dieses neue Verständnis von Filmkritik geht auf zwei Denkrichtungen zurück: Postmodernismus und Dekonstruktivismus. Gemein ist ihnen, dass sie die "Autorität" des Schöpfers untergraben: Der Autor als Erzählinstanz (im Film oft fälschlicherweise allein mit dem Regisseur gleichgesetzt) verliert seine Deutungshoheit. Er wird reduziert auf einen Schnittpunkt, in dem kulturelle, ästhetischen, politische u. v. a. Diskurse zusammenlaufen, die er, sei's bewusst, sei's unbewusst, zu einer Erzählung, zu Bildern, zu Tönen, ... (hier zeigt sich: Film hat viele Autoren!) zusammenfügt. Das Lesen dieser Spuren ist die Aufgabe des "neuen Filmkritikers", der durch die Auswahl des Diskurses, auf den er sich konzentriert, seine ganz eigene Lesart des Films entwickelt. Er entwirft eine Theorie über den Film, die - träte man ihr von einem "intentionalistischen" Standpunkt gegenüber ("Was will uns der Regisseur mit seinem Film sagen?") - einer Verschwörungstheorie gleicht, denn sie fahndet nach (vom Autoren im Werk deponierten) Bedeutungen.

National/Treasure

Der über Jahrtausende angehäufte sagenumwobene Schatz der Tempelritter ist seit 200 Jahren spurlos verschwunden. Nun, spurlos nicht ganz, denn die Familie Gates hat zumindest einen Hinweis, wo die Suche nach dem Schatz beginnen könnte: den Namen "Charlotte". Benjamin Franklin Gates (Nicolas Cage) und sein Sidekick Riley Poole (Justin Bartha) finden einen Finanzier, Ian Howe (Sean Bean), der ihnen eine Arktis-Expedition zu einem dort im Eis verschollenen Schiff bezahlt. Es handelt sich um die "Charlotte", in deren Bauch Gates eine Meerschaumpfeife entdeckt, die sich als zweiter Hinweis entpuppt, und die Schatzsucher zurück in die USA führt: Auf der Rückseite der Unabhängigkeitserklärung soll eine "unsichtbare Karte" verborgen sein. Als Howe vorschlägt, das Dokument zu stehlen, ist Gates dagegen. Die beiden entzweien sich und jagen daraufhin getrennt nach dem Schatz der Templer.

Gates schafft es als erster in den Besitz der Unabhängigkeitserklärung zu gelangen. Nicht von seiner Seite weicht Dr. Abigail Chase (Diane Kruger), die für das Dokument verantwortlich ist, und es Gates wieder abnehmen will. Als sich Gates'Theorie über die geheimen Hinweise auf der Rückseite als wahr entpuppen, schließt sie sich ihm an. Quer durch die USA verfolgen Gates, Poole und Chase weitere Hinweise - und sie werden nicht nur vom über Leichen gehenden Ian, sondern auch vom FBI verfolgt. Am Ort, wo der Schatz schließlich verborgen sein soll - im Herzen von New York, unter der Wallstreet - treffen alle drei Interessengruppen aufeinander ...

Struktur/Analogie

"Auch die Akademiker haben ihre eigenen Arten von Verschwörungstheorien, oder etwas ganz Ähnliches. Die zwei führenden Schulen der Kunst- und Kulturkritik, bekannt als Dekonstruktivismus und Postmodernismus, suchen und finden auch meist tiefere Beweggründe in allen 'Denkmodellen' oder 'Geschichten' über die Situation des Menschen"1, schreibt der Konspirologie-Forscher Robert Anton Wilson im Vorwort seines "Lexikon[s] der Verschwörungstheorien". Der Gedanke, einer nach "verborgenen Wahrheiten" suchenden Filmtheorie verschränkt sich mit den nach verborgenen Gründen suchenden Verschwörungstheoretikern. Versuchen erstere, eine (verborgene) Struktur in der Erzählung des Kunstwerkes herauszuarbeiten und mit Beispielszenen zu belegen, so ist das Anliegen letzterer, eine (verborgene) Struktur der Wirklichkeit zu entdecken und ihre Hypothesen darüber mit Indizien zu belegen. Beiden gemein ist ebenso, dass sie "Spuren" verfolgen, die sie zur schließlichen "Bedeutung" führen.

In "Das Vermächtnis der Tempelritter" (der im Original bezeichnenderweise "National Treasure" heißt), sucht der Konspirologe Benjamin Franklin Gates nach einem sagenhaften Schatz. Ihm geht es - das betont er - im Gegensatz zu seinem Widersacher Ian Howe jedoch nicht darum, sich am Schatz zu bereichern, sondern diesen zu "heben", damit er der Nation nicht länger vorenthalten werde. Hinter diesem Wunsch steht nicht nur das Phantasma seiner eigenen Familie, die diesen Schatz schon seit Generationen sucht, sondern auch das Phantasma der Nation "USA". Auch diese sucht einen Schatz, den Schatz, den sie als "Land der Einwanderer" nirgends finden kann: einen Gründungsmythos.

Auf der Suche nach diesem Gründungsmythos halfen den USA von jeher die Medien: In den "Eroberung des Westens"-Stoffen der Romane - und ab dem 20. Jahrhundert vor allem im Film - sollte dieser Mythos konstruiert und fixiert werden. Dass das nicht funktioniert, nicht funktionieren kann, liegt am Wesen des Mythos selbst: Er existiert im zeitlichen wie kulturellen Sinne "vor" jeder Geschichtsschreibung: Es ist auf seine Abwesenheit angewiesen; ihn niederzuschreiben hieße, ihn als "anwesenden Sinn" zu präsentieren. Der Mythos lebt jedoch von dem, was der "Erfinder" der Dekonstruktion, Jacques Derrida, das "Verschwinden der Spur" nennt: "Die Spur ist die Selbstlöschung, die Auslöschung ihrer eigenen Präsenz; sie wird durch Drohung oder die Angst ihres unwiderruflichen Verschwindens, des Verschwindens seines Verschwindens konstituiert."2. Indem der Mythos "präsentiert" wird (und auch das Filmbild ist eine Schrift), wird der Mythos in das, was Derrida eine "Metaphysik der Präsenz" nennt, überführt und verliert damit seinen mythischen Charakter, der allein durch seine Abwesenheit gewährleistet werden kann.

Also leistet auch "Das Vermächtnis der Tempelritter" der Suche nach dem Gründungsmythos einen Bärendienst, versucht dies durch einen Trick jedoch wettzumachen: Indem der Film etliche Indizien für eine "große Verschwörung" offenbart (und das sind nicht nur die überall verstreuten Freimaurer-Symbole) und mit einem scheinbar unendlichen Gewirr an Hinweisen, die es zu deuten gilt, aufwartet, verbirgt er die "Bedeutung" der Suche immer aufs Neue (Gates selbst spricht mehrfach davon, dass er einzig auf der Suche nach "Meaning" ist) und versammelt stattdessen Hinweise und Fährten, die nur denjenigen, der sie zu lesen imstande ist, ans Ziel führen: dazu zählen vor allem die Reliquien der Nation: Die Freiheitsglocke, das Lincoln Memorial und vor allem die Unabhängigkeitserklärung. Dass letztere eine zentrale Rolle einnimmt, liegt an ihrem deklarativen, in Schrift verfassten, Charakter: Ihr Text ist Stellvertreter für das Demokratie- und Freiheitsverständnis der gesamten Nation. Doch das Dokument hat - im Film wie in der Realität - eine metaphorische Vorder- und Rückseite. Ist es im Film eine legendäre Karte, die sich auf der Rückseite des Papiers befindet, so ist es in der Realität das Prinzip, das "zwischen den Zeilen" zu lesen ist, nämlich, dass - wie der Begründungsmythos - auch das Demokratie- und Unabhängigkeitsverständnis der USA nicht "aus sich selbst heraus" sinnvoll sind, sondern aus der Existenz eines Textes. Als der Text (im Film) gestohlen wird, steht also viel auf dem Spiel, und das FBI setzt alles daran, ihn wiederzubekommen.

Verschwörung/Theorie

"[J]ede Stimme, die versucht oder vorgibt", schreibt Robert Anton Wilson, "die Wahrheit zu sagen, gerät sofort unter Verdacht, ein weiterer Verführer oder Manipulator zu sein, dessen 'Seemannsgarn' so kritisch zu betrachten sei, wie ein Postmodernist es mit der Unabhängigkeitserklärung [...] tun würde."3 So ist es auch in "Das Vermächtnis der Tempelritter". Jeder verdächtigt jeden, falsche Informationen zu streuen oder richtige Informationen zu sammeln und sie nicht preiszugeben. Die Jagd nach dem Schatz wird zwischen den beiden Widersachern Gates und Howe immer mehr zu einem Kampf um Wahrheit. Howe, der nicht über das konspirative Verständnis der Wirklichkeit verfügt, das Gates dabei hilft, die Zeichen richtig zu lesen, sammelt die Informationen mit Gewalt - kann sich aber nie ihrer Richtigkeit sicher sein.

Beide Gruppen verfahren wie verfeindete Geheimgesellschaften - wie Wilson schreibt:

alle Geheimdienste [haben] zwei Funktionen zu erfüllen [...]: das Sammeln von präzisen Informationen; die Herstellung und Verbreitung falscher Informationen. [...] Um jemanden zu täuschen, der zur Zeit als 'der Feind' fungiert, müssen diesen Phantasiegeschichten genug Fakten und genug Plausibilität beigemischt werden, um auch viele andere zu täuschen, die derzeit noch nicht als 'Feind' definiert werden.

Wilson

Im Sinne der eingangs erwähnten "zweiten Erzählung" lässt sich dieses Prinzip für eine Filmtheorie nutzbar machen: Auch der Zuschauer von "Das Vermächtnis der Tempelritter" muss beständig und absichtlich auf die falsche Fährte geführt werden; auch er weiß nie mehr als Gates und kann deshalb von seinem Geheimwissen überrascht werden. Die dem Zuschauer analoge Figur im Film ist Gates Freund Poole, der über die Schlüsse seines Anführers immer wieder aufs Neue verwundert ist und mit seiner eigenen, der "offensichtlichen Struktur der Wirklichkeit" verschriebenen Bauernschläue, kaum mehr als das allzu Offensichtliche zu erkennen im Stande ist.

Poole ist ein Fachmann der Medien. Mit seiner Hilfe wird es dem Metaphysiker Gates möglich, an die Informationen zu kommen, die er benötigt. Doch die Medien bilden die Information nur ab, zeigen nur deren zeichenhafte Oberfläche, simulieren und verdoppeln. Diese Differenz zwischen authentisch und simulativ formuliert der Film an verschiedenen Stellen aus, etwa als Howe von Gates mit einer Replik der Unabhängigkeitserklärung perfekt getäuscht wird - Baudrillards simulative Landkarte, die "mit dem Territorium schließlich exakt zur Deckung"4 kommt, jedoch trotzdem Simulation bleibt, erinnert daran. Aber auch die echte Karte, auf der Rückseite der Unabhängigkeitserklärung, entbirgt ihr Geheimnis nicht jedem. Dazu braucht es etwas mehr als Fachwissen (über das die promovierten Räuber ja allesamt verfügen). Erst Gates Vater kennt den "Trick", mit dem die Karte ihr Geheimnis für kurze Zeit preisgibt: Man muss sie anhauchen. In solchen "Ritualen" (und einem leblosen Objekt den Odem einhauchen ist vielleicht der rituellste Akt von allen!) versucht der Film die oben erwähnte "Metaphysik der Präsenz" immer wieder zu überwinden, indem er - wie hier - Schrift entstehen und wie auf Freuds Wunderblock wieder verschwinden lässt.

Sprach/Zeichen

Die Frage, warum eine Filmtheorie, die die einzelnen Momente eines Films zu einer neuen Bedeutung montiert, plausible Ergebnisse erbringen kann, ist dieselbe Frage, wie, warum eine Verschwörungstheorie stets "evident" wirken kann. Beiden liegt ein Zeichenverständnis zu Grunde, das - wie bei der Unabhängigkeitserklärung im Film - eine Vorder- und Rückseite hat: Auf der einen Seite ist das materielle Zeichen, auf der anderen seine Bedeutung. Dieses "Strukturalismus" genannte Zeichenmodell ist die Bedingung der Möglichkeit, zu interpretieren und hinter den Zeichen nicht nur nach Bedeutungen zu suchen, sondern sie auch zu finden.

Jacques Derrida hat dieses Zeichenmodell erweitert, indem er erkannt hat, dass die Bedeutung nicht eindeutig an den materiellen Teil des Zeichens geknüpft ist. Vielmehr wird sie wesentlich von seinen Kontextbedingungen und dem Wortfeld bestimmt, in dem es steht. Das heißt aber, dass Zeichen gar keine ein für alle Mal fixierbare Bedeutung haben. Man wird stets auf andere Zeichen verwiesen, Bedeutung wird /verschoben/. Ein Zeichen lässt sich nur in seiner "Differenz" zu anderen lesen. Um seinem Gedanken eine sinnfällige Analogie zu verleihen, hat Derrida gegen die französische Orthografie verstoßen und den Terminus "/differánce/" (mit "á" anstatt "e") geprägt: Die /différance/ ist eine Differenz der Verschiebung, deren Besonderheit nur in der Schrift erkennbar ist, die phonetische Aussprache ist nämlich identisch.

Über solche "Rechtschreibfehler" wird auch in "Der Schatz der Tempelritter" Bedeutung konstruiert: Hier wird ein absichtlich falsch groß geschriebenes "Silence" ein wichtiges Indiz und der Satz "/Heere/ at the Wall" (mit einem "e" zu viel) ist der finale Hinweis, der am Ende der "Zeichen-Kette" steht, die Gates entschlüsselt hat. Das "Heere" wird über die Verschwörungstheorie mit Bedeutung aufgeladen (man denke nur an die zahlreichen Jack-the-Ripper-Theorien, die sich an einem am Tatort zurück gelassenen "Graffiti" entwickelt haben: "The /Juwes/ Are The Men That Will Not Be Blamed For Nothing"). Interessanterweise - wie bei Derridas "/differánce/" - offenbart sich der "Fehler" nicht in der Aussprache, sondern erst in der Schreibweise der Wörter. Der Unterschied zwischen Zeichen und Bedeutung wird erst hier gravierend - ohne ein strukturalistisches Zeichenmodell wären diese Hinweise nicht zu entschlüsseln.

Schluss/Schlüssel

[S]tatt ganz ohne Erklärung für ihre Lage zu bleiben, scheinen die Menschen Geschichten vorzuziehen, und seien sie noch so blödsinnig. Und der Kern jeder guten Geschichte ist, wie in der Verschwörungstheorie, das Komplott.

Wilson

Wilson identifiziert hier Verschwörungserzählungen als nur /eine/ Art von Geschichten. Ihr Strukturprinzip ist dem anderer Geschichten gleich: Im Vordergrund steht die Plausibilität, ist sie gewährleistet, folgt der Rezipient der Erzählung. Und aus ihr erklärt er sich die Welt (oder zumindest einen Teil davon).

Der Erzähler von "Der Schatz der Tempelritter" unterliegt jenem Erklärungszwang. Kurz vor Schluss gelangen die Schatzsucher in eine Sackgasse, in der sie ihre eigentlichen Motive offenbaren: Cowe und seinen Leuten ging es nur ums Geld und sie kehren um, um lieber weiteren - augenfällig dummen - Hinweisen auf das Versteck des Schatzes zu folgen. Gates und seine Freunde bleiben allein zurück und werden sich erstmals darüber klar, dass es die Suche nach der Bedeutung der Zeichen war, die sie voran getrieben hat - und nicht die Suche nach dem Schatz. Indem sie die Bedeutung immer weiter verfolgt (Derrida: "aufgeschoben") haben, haben sie sich einen Sinn verliehen.

Doch damit endet der Film nicht, denn er kommt aus Amerika - könnte man begründen. Natürlich findet Gates erst, nachdem er sich über den verborgenen Charakter seiner Reise bewusst geworden ist, die finalen Hinweise und schließlich den Schatz selbst. Hat damit alles Suchen ein Ende? Ist der "neue Gründungsmythos" damit abermals als "präsent" entlarvt? Nein, diesen Fehler begeht Hollywood nicht ein zweites Mal. Denn zu den Entdeckungen Gates'gehören nicht nur Schriftrollen aus der 48 n. Chr. verbrannten Bibliothek von Alexandria (mithin also neue Hinweise auf einem historisch noch ferneren Gründungsmythos), sondern auch ein kleiner Siegelring am Finger des FBI-Agenten - ein Zeichen, dessen Deutung an dieser Stelle an den Zuschauer weiter gereicht werden soll.