Zapatistenradio im Internet

Mit der neuen Website versucht Radio Insurgente eine größere Öffentlichkeit zu erreichen

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Am 17. November wurde die indianische Guerilla aus dem Südosten Mexikos, die EZLN, 21 Jahre alt. In diesem Jahr wurde der Geburtstag vor allem virtuell begangen: Die Website von Radio Insurgente, der "Stimme der EZLN", wurde öffentlich gemacht. Sie gibt vielleicht mehr, auf jeden Fall aber einen anderen Einblick in Alltag und Leben der Zapatisten als die Texte von Subcomandante Marcos.

Maya-Frauen bei der Radio-Arbeit

"Wir sind eine Gruppe von Priisten", also von Anhängern der langjährigen mexikanischen Regierungspartei PRI, "aber bald werden wir vereint sein in Eurem Kampf, der wirklich ein gerechter Kampf zur Verteidigung von uns Bauern ist."

So lautet ein Hörerbrief an Radio Insurgente (Kommunikations - Guerilla mit alten Mitteln). Dieser Brief kann, zusammen mit zahlreichen anderen Fotos, seit neuestem auf der Website von Radio Insurgente eingesehen werden. Durchschnittlich zwanzig Schreiben erreichen jeden Tag die Macher von Radio Insurgente in den Bergen des mexikanischen Südostens über diverse Briefkästen. Darunter sind auch viele Briefe, die von den Verfassern liebevoll bemalt wurden, mit Blumenmotiven für das Radioteam oder aber Bildern von Gueriller@s mit ihren Gewehren. Kein Zweifel, Radio Insurgente ist in Chiapas beliebt.

Das Radio sendet seit ca. zweieinhalb Jahren auf verschiedenen UKW-Frequenzen im zapatistischen Gebiet des mexikanischen Bundesstaates Chiapas und einmal wöchentlich auf Kurzwelle für die internationale Zivilgesellschaft. Mit der neuen Website können alle Kurzwellensendungen und einige Ausschnitte aus dem UKW-Programm nun auch im Internet gehört oder heruntergeladen werden. Damit einher geht ein Aufruf an alle freien Radios, die Programme auf der eigenen Frequenz zu senden. Zahlreiche Fotos vermitteln einen Eindruck von der Arbeit der diversen Radioteams.

Auffällig ist für eine Website der EZLN, dass der populäre Kommunikator Subcomandante Marcos, der bisher das zapatistische Monopol für elektronische Medien und internationale Kommunikation zu haben schien, hier ausnahmsweise nicht im Vordergrund steht. Vielmehr widerlegt die Website das von der mexikanischen Regierung gern verbreitete Urteil, die Indígenas im Süden Mexikos würden von professionellen Guerilleros aus der Stadt wie Marcos lediglich "manipuliert".

Sowohl in der Fotogalerie, als auch in den zahlreichen Audios dominieren Frauen und Männer aus dem "Fußvolk" der EZLN. Man sieht sie Interviews machen oder am Computer Radioprogramme schneiden, mit der zapatisten-typischen schwarzen Wollmaske über dem Gesicht und in indianischer Tracht. Vor allem das öffentliche Bild indianischer Frauen, die in der mexikanischen Öffentlichkeit als die Bevölkerungsgruppe gelten, die am ehesten die "Rückständigkeit" dieses in die Modernität strebenden Schwellenlandes symbolisieren, wird durch diese Darstellungen revolutioniert.

Digitaler Schnitt

Auch in den Audios, die auf der Seite sowohl gehört als auch heruntergeladen werden können, haben Frauen einen herausragenden Platz. Bei den Sondersendungen finden sich drei Stücke zu Artikeln aus dem revolutionären zapatistischen Frauengesetz von 1994. Auch bei den Stichproben aus dem UKW-Programm geht es um Gleichberechtigung, geteilte Verantwortung im Haushalt, Aufrufe gegen Gewalt an Frauen, usw. Und ein Hörspiel in mehreren Fortsetzungen, das in den Kurzwellensendungen dieses Frühjahrs ausgestrahlt wurde, handelt vom Recht der Frauen in Chiapas, ihren Lebenspartner frei zu wählen - das ganze verpackt als Märchen, in dem Prinzessinnen, Hexen, singende Eichhörnchen und sogar George W. Bush vorkommen.

Für deutsche Ohren, die eine Flut von Medien gewohnt sind, in denen meist selbst der Wetterbericht noch wie ein großes Versprechen aufgemacht ist, mag Radio Insurgente vielleicht etwas schlicht und wenig professionell klingen. Auch müssen Besucher der Website, die etwas downloaden wollen, oft etwas Geduld mitbringen - offensichtlich war man bei den Zapatisten technisch nicht auf den Ansturm vorbereitet, den die Seite ausgelöst hat.

Vor dem kulturellen und geschichtlichen Hintergrund von Chiapas jedoch ist Radio Insurgente eine kleine Sensation. Das Programm kann in Landstrichen empfangen werden, wo es keinen elektrischen Strom gibt, keine Unterhaltungsmedien, keine Zeitung - wo ein batteriebetriebener Radioempfänger jedoch noch in der ärmsten Hütte zu finden ist. Wo die Gemeinden nach stundenlanger Fahrt in Schotter und Schlamm letztlich nur zu Fuß oder mit dem Pferd erreichbar sind. Wo Unterhaltung darin besteht, Basketball oder Fußball zu spielen, und ein oder zweimal im Jahr beim Dorffest zu tanzen. Musik wird zu diesen Anlässen per Generator verstärkt, eine einsame Glühbirne verströmt festliches Licht. In anderen Orten, die etwas näher an der westlichen Zivilisation liegen, gibt es auch mal einen öffentlichen Fernseher.

Rund die Hälfte der Frauen und ein Drittel der Männer sind in Chiapas Analphabetinnen. Die meisten Frauen, die wie so oft in ländlichen Gebieten für den Erhalt der Traditionen zuständig sind, sprechen kein Spanisch, viele sind überhaupt nicht zur Schule gegangen. Bis zum Zapatisten-Aufstand 1994 (Ende der Geschichte neu geschrieben) gab es hier noch Leibeigenschaft und das "Recht der ersten Nacht" für die Großgrundbesitzer, also das Recht, indianische Mädchen zu entjungfern. Auf die Vergewaltigung einer Frau stand im chiapanekischen Strafgesetz bis vor kurzem eine geringere Strafe als für Viehdiebstahl.

Dass das Radioprogramm durchaus Einfluss auf das Alltagsleben in den zapatistischen Dörfern hat, beschreibt der mexikanische Journalist Hermann Bellinghausen:

Angesichts des offensichtlichen Fehlens von Frauen in der autonomen Regierung hat der nun scheidende Rat eine Selbstkritik formuliert und die neuen Vertreter aufgefordert, ihre Haltung zu ändern und sich der Mitbestimmung durch die Ehefrauen, Töchter und Schwestern zu öffnen. Das Thema ist in Gemeindeversammlungen und im Programm von Radio Insurgente immer wieder zur Sprache gekommen. Den LehrerInnen der neuen weiterführenden Schule zufolge beginnen diese Kampagnen spürbare Effekte zu haben: Bis vor einigen Monaten waren die allermeisten Schüler männlichen Geschlechts, heute sind fast 50 Prozent Mädchen.

Die Flut von HörerInnenpost will sortiert werden

Livereportagen von Anlässen wie dem einjährigen Jubiläum der zapatistischen Autonomie oder vom Angriff auf eine zapatistische Demonstration im April dieses Jahres geben dem Programm von Radio Insurgente eine Note von politischer Aktualität - auch wenn die Nachrichten im Kurzwellenarchiv sich auf Lokalnachrichten aus Chiapas beschränken. Die Website bietet auch die Gelegenheit, ein wenig in die Maya-Sprachen Tzotzil und Tzeltal hineinzuhören, die neben dem Spanischen zu den Sprachen zählen, in denen das Radio sendet.

Bei der internationalen Anti-Globalisierungs-Bewegung ist die neue zapatistische Website mit Begeisterung aufgenommen worden. Über das Indymedia-Netz verbreitete sich die Kunde wie ein Lauffeuer, insbesondere in Lateinamerika. Freie Radios in Argentinien, Brasilien, den USA und im Baskenland haben bereits angekündigt, die Programme von Radio Insurgente auf ihren Frequenzen weiter auszustrahlen.