Das Böse steckt im System

Laut einer Studie von Psychologen nach dem Folterskandal von Abu Ghraib kann fast jeder durch den "sozialen Kontext" zum Folterer werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Misshandlungen und Folter kommen nicht nur in Konflikten und Kriegen, sondern auch in streng hierarchischen Organisationen wie dem Militär immer wieder vor, wie man jetzt auch wieder einmal in Deutschland erfahren musste (Folter in Coesfeld?). Die sadistischen Demütigungen, denen irakische Gefangene in Abu Ghraib unterworfen wurden, um sie gefügig zu machen und gleichzeitig "geile" Bilder zu erhalten, sind wahrscheinlich eher die Ausnahme. Misshandlungen, um Anderen Schmerzen zuzufügen und sie zu quälen, haben aber wohl stets auch den Zweck, die Täter die Herrschaft über die wehrlosen und gedemütigten Opfer genießen zu lassen. Aber individualpsychologische Erklärungen reichen nicht hin, zumal Folter eine lange Geschichte hat und einer ausgeklügelten Technik folgt, vor allem aber, weil sie von den Folterknechten meist als notwendige, berechtigte und von oben erwünschte Praxis gesehen wird, wenn sie nicht sowieso explizit angeordnet wurde.

Die Psychologinnen Susan Fiske, Lasana Harris and Amy Cuddy von der Universität Princeton haben nach dem Folterskandal von Abu Ghraib die Forschungsliteratur mit der Fragestellung "Warum normale Menschen feindliche Gefangene foltern" durchgesehen. Nach der Auswertung von 25.000 Studien, die mit insgesamt 8 Millionen Versuchspersonen durchgeführt wurden, sind sie zu dem Ergebnis gekommen, das in der neuesten Ausgabe von Science veröffentlicht wurde: Jeder kann im Prinzip zum Täter werden - dank der "Macht des sozialen Kontextes". Und damit formulieren sie auch indirekt eine Kritik am Umgang der US-Regierung mit dem Fall Abu Ghraib.

Fast niemand scheint demnach wirklich dagegen gefeit zu sein, unter bestimmten Umständen solche Misshandlungen und Quälereien begehen zu können, wie sie die bekannt gewordenen Soldaten der 800th Military Police Brigade und die wenigen anderen begangen haben. Das Pentagon hat schnell, nachdem der Skandal und vor allem nachdem erste Bilder an die Medien gelangten, zur Abwehr die übliche Strategie eingeschlagen, das Fehlverhalten nur einigen Einzelnen ("few bad apples") zuzuschreiben, die Kommandokette oder das gesamte Systeme aber frei zu sprechen oder hinter den Einzeltätern zu verstecken.

Das scheint auch bislang aus der Sicht des Pentagon erfolgreich gewesen zu sein, zudem überdeckt Abu Ghraib - selbst als "bad apple", also als Ausnahme behandelt - die Foltervorwürfe in anderen Lagern. Allerdings wurde vor wenigen Tagen "routinemäßig" General Geoffrey Miller in das Pentagon versetzt. Er war Kommandant des Lagers in Guantanamo, wo nach Aussagen von ehemaligen Gefangenen ebenfalls gefoltert worden sein soll, und war kurz vor dem Beginn der Misshandlungen und Folterungen in den Irak mit dem Auftrag gereist, dort Veränderungen in Gefängnissen einzuleiten, um von Gefangenen mehr Informationen zu erhalten (Rumsfeld und die supergeheime Pentagon-Abteilung). So soll er befohlen haben, dass auch das Wachpersonal eingesetzt werden soll, um Gefangene für Verhöre vorzubereiten. Miller besuchte auch Abu Ghraib. Offenbar wähnten sich er und die Führungsebene im Pentagon von vorneherein aus dem Schuss, denn nach Bekanntwerden des Skandals wurde Miller wieder in Abu Ghraib eingesetzt, um dort Ordnung zu schaffen.

Durch das geplante Niederreißen des Abu Ghraib-Gefängnisses, durch Versetzungen und einige Prozessen sowie Verurteilungen sucht man den Skandal aus der Welt zu schaffen. Damit aber dürften Misshandlungen und Folter keineswegs auf Dauer abgestellt sein, um Gefangene zu Aussagen zu zwingen. Vor allem aber wird nicht am System gerührt, das nach der Studie der Psychologen, in deren Zentrum solche Experimente wie das Stanford Prison oder das Milgram Experiment stehen (Abu Ghraib ist überall), vermutlich den wichtigsten Einfluss auf die Menschen hat, um diese dazu zu bringen, etwas zu machen, was sie unter normalen Bedingungen in aller Regel nicht tun würden (Die Folter hat System).

Der Wendung zur Folter erfolgt weniger aus individuellen Persönlichkeitseigenschaften, auch wenn dies natürlich eine wichtige Rolle spielen, sondern wird durch das Verhalten von Vorgesetzten, die Beschreibung der Opfer als minderwertige oder gefährliche Menschen, Gruppenzwang, Stress und andere soziale Interaktionen vorbereitet und unterstützt. Das trifft auch für die US-Regierung zu (Die intellektuellen Wegbereiter von Folter und Willkürjustiz, Das Zweiklassensystem des Pentagon). Mit dem richtigen oder falschen Kontext könne man, so behaupten die Wissenschaftlerinnen, fast jeden Menschen zur Aggression, Unterdrückung, Konformität und Gefolgsamkeit bringen.

Gewöhnliche Menschen können ein unglaublich destruktives Verhalten ausüben, wenn ihnen dies durch legitime Autoritätspersonen befohlen wird. ... Untergebene machen nicht nur, was ihnen befohlen wird, sondern das, von dem sie denken, dass ihre Vorgesetzten ihnen dies nach ihrem Verständnis der allgemeinen Ziele der Vorgesetzten befehlen würden.

Natürlich gebe es einzelne Menschen, die Gefallen daran finden, andere Menschen zu quälen. Der Normalfall sei aber eher, dass die Täter wie in Abu Ghraib glauben, sie würden gemäß den Erwartungen ihrer Vorgesetzten oder Kollegen handeln. Es geht also nicht nur um den Nachweis einer lückenlosen, expliziten und nachweisbaren Befehlskette bis zum Täter, sondern um einen Kontext, der zum Paradox einer vorauseilenden Nachahmung oder einer Befehlsantizipation beiträgt. Genau deswegen argumentieren Gegner der Folter, die auf ein explizites striktes Verbot dringen, dass ein Aufweichen des Verbots, wie das derzeit auch von manchen Politikern im Fall des ehemaligen Polizei-Vizepräsidenten Wolfgang Daschner gefordert wurde, mit dazu beiträgt, einen solchen Kontext zu schaffen, in dem Folter geduldet wird (Rechtsstaat contra Volkszorn).

Wenn in dieser Situation der Abwägungsprozess des Polizeibeamten so war, dass er gesagt hat, ich muss alles tun um das Leben des Jungen zu retten, dann habe ich für diese Vorgehensweise Verständnis, wegen der notwendigen Güterabwägung, die er vorgenommen hat. Und dann bin ich auch der Überzeugung, dass der klassische Fall des übergesetzlichen Notstandes eintritt. Dann ist es der klassische Fall, wo man daraus nicht konstruieren kann, er hat sich strafbar gemacht wegen Nötigung oder Verleitung Untergebener zu einer Straftat, sondern bei diesem Abwägungsprozess sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass er alles versucht hat, das höchste Rechtsgut zu schützen, das Leben des Jungen. Aus dieser Konstellation kann ich ihn nicht verurteilen, weder menschlich noch strafrechtlich.

Wolfgang Bosbach, Stellv. Fraktionschef CDU/CSU in Sabine Christiansen vom 21.11.: Frankfurter Folterprozess: Wie weit darf man gehen, um Leben zu retten?

In Abu Ghraib kamen zum "sozialen Kontext" noch besondere Stressbedingungen für die Soldaten hinzu, die für solche Situationen nicht ausgebildet waren. Im Gefängnis herrschten chaotische Zustände, es kam zu Gewaltausbrüchen und Angriffen, im besetzten und unbekannten Land verstärkte sich der Widerstand. Es gab zu wenig Wachspersonal und die Beaufsichtigung, die für eine hierarchische Organisation wie das Militär notwendig ist, schien gefehlt zu haben. Es war Ausnahmezustand, es herrschte Willkür, die Soldaten waren aufgeladen mit Angst und Aggression. Alle Gefangenen galten tendenziell als feindlich, gefährlich und hinterhältig, als Angehörige einer Gruppe, weniger als einzelne Personen.

Die Gesellschaft hält Individuen für ihre Handlungen verantwortlich, wie dies das Kriegsgericht anerkennt, aber die Sozialpsychologie geht davon aus, dass wir auch die Kollegen und Vorgesetzten, die den sozialen Kontext kontrollieren, zur Verantwortung ziehen sollten.

Die Psychologinnen schlagen erwartungsgemäß vor, dass die soziale Produktion "bösen Verhaltens" weiter wissenschaftlich untersucht werden sollte, um Mittel zu entwickeln, mit denen es sich bessern verhindern lassen könnte - sofern dies wirklich gewünscht wird, müsste man hinzufügen. Die Bedingungen, die Konformität, Aggression und Unterdrückung mit verursachen, sollten vor allem von Vorgesetzten in Unternehmen oder im Militär, die für viele Menschen verantwortlich sind, zur Kenntnis genommen werden. Wenn man sie verstünde, könne man "böses Verhalten" auch verhindern (oder auch, so müsste man ergänzen, falls gewünscht, fördern). Sozialer Einfluss, der in Folter münden kann, fange mit kleinen Schritten an und steigere sich dann, nachdem erste Widerstände gefallen sind und neues Verhalten gelernt wurde. Im Grunde müsste eine Kultur der Aufklärung, die die Äußerung abweichender Meinungen zulässt, gefördert werden. Schon ein einzelner kann die Konformität durchbrechen, wie das auch in Abu Ghraib der Fall war. Aber das erfordert oft großen Mut, weil der Konformitätsdruck in allen Gruppen hoch ist.

Die Abwertung anderer Menschen und die Ausbildung von Vorurteilen könne man, so die Psychologinnen weiter, am besten dadurch verhindern, dass die Mitglieder verschiedener Gruppen "positive Kontakte" miteinander haben. Dass die US-Soldaten im Gefängnis keine Kontakte mit anderen Irakern außer den Gefangenen gehabt hätten, sei eine Bedingung für deren Misshandlung gewesen, da sie allgemein als gefährliche Terroristen betrachtet werden konnten. Wichtig sei daher, dass irakische Soldaten mit den Amerikanern trainieren und kämpfen.

Wer sich kennt, schlägt sich nicht, ist wohl die zugrunde liegende Annahme, die ein wenig weltfremd ist. Man braucht sich etwa nur die innerfamiliäre Gewalt anzusehen, um zu sehen, dass Kontakt und Vertrautheit keine Garantie für Gewaltverzicht sind. Die Psychologinnen unterstellen so, um beim Irak zu bleiben, dass die irakischen Soldaten nicht ihrerseits ihre Landsleute misshandeln würden. Schon allein Geschichte des Hussein-Regimes widerlegt dies, zudem gibt es nicht "die Iraker", sondern auch hier unterschiedliche Gruppen und Ethnien. Und es gab auch bereits Hinweise auf Misshandlungen seitens irakischer Sicherheitskräfte, gegen die auch amerikanische Soldaten eingeschritten sind (In der Zwickmühle).