Kollektiver Wahnsinn

Bei den Miskito-Indianern gibt es eine geheimnisvolle Krankheit, die nur von Heilern behandelt werden kann

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In einigen Dörfern im Norden Nicaraguas wütet eine geheimnisvolle Krankheit. Menschen, die von ihr befallen werden, leidern an Fieber und Schmerzen, laufen lethargisch oder wie in Trance umher, ohne andere zu erkennen. Manche ziehen sich nackt aus und bedrohen andere mit Macheten. Erkrankte Frauen entwickeln außergewöhnliche Kräfte und können nur von mehreren Männern gebändigt werden. Sogar Todesfälle kommen vor.

Creolen und Rama (Mitte) in Bluefields. Fotos: Burkhard Schröder

Die wie eine Seuche kollektiv auftretende Krankheit gibt es nur bei den Miskito-Indianern. Sie wird "Pauka Prukan" oder im einheimischen Dialekt Grisi Siknes ("verrückte Krankheit") genannt. Das Gesundheitsministerium Nicaraguas hat ein Team von Ärzten und Psychologen in die Dörfer der Miskito geschickt, um die Fälle zu untersuchen.

Der kollektive Wahnsinn kann jedoch nur von einheimischen Heilern gestoppt werden. Besonders betroffen ist die Kleinstadt Wiwili; von deren 18.000 Einwohnern sind mehr als 40 Prozent Analphabeten. Wiwili ist die Partnerstadt Freiburgs i.Br..

Grisi Sicknes. Foto: La Prensa

Der "weiße" europäische Blick erzeugt in den europäischen Medien bei diesem exotischen Thema automatisch den klassischen Kolonialdiskurs mit all seinen Klischees. Von Indianerstämmen ist die Rede, als handele es sich um eine Karl-May-Verfilmung, von kollektiver Hysterie, als sei diese nur "unterentwickelten" Gesellschaften zu eigen.

Schamanen heilen mit "traditionellen" Methoden, vollziehen magische Riten, womöglich mit exotischen Drogen. Hier die Tradition, da die Moderne. Indianische Zauberei und Hokuspokus gegen Psychotherapie des Individuums. Die Misikito geben für jedoch diese symbolische Folien wenig her: sie sind mehrheitlich brave Protestanten und halten die "Grisi Siknes" für ein Verhalten, das zwar von der Norm abweicht, aber dennoch bei bestimmen Anlässen angemessen ist - und keineswegs für ein medizinisches Problem im europäischen Sinn. Der Direktor des nicaraguanischen Gesundheitsministeriums, Carlos Fletes, gibt zu:

Diese Krankheiten sind für die Leute etwas ganz Normales. Sie treten in bestimmten Perioden auf und können nur durch Magie geheilt werden.

Indianer oder Multikulti?

Zu den Miskito zählen heute rund 95.000 Menschen in Nicaragua und 25.000 in Honduras. Von den zahlreichen Sprachfamilien in Zentralamerika ist die der Rama und Sumu - den unmittelbaren Nachbarn der Miskito in Nicaragua - dem altamerikanischen Ursprung, dem Chibcha, am ähnlichsten. Die spanischen Eroberer bezeichneten im 17. Jahrhundert die heutigen Atlantikküste Mittelamerikas als "Mosquitia" (Moskito-Küste), und holländische und englische Piraten riefen auch die Bewohner so.

Puerto Cabezas (Bilwi)

Die Miskito nennen sich Miskut - nach einem legendären Clanchef aus der Frühzeit der Konquista. Das Volk ist eine Mischung aus Afrikanern, Europäern und den alten indianischen Ethnien. Ein eigenständige nationale Identität formte sich, wenn überhaupt, nur durch die Tatsache, dass verschiedene Kolonialmächte sich vier Jahrhunderte um die Küstenregion rauften. 1687 wurde sogar ein König der Miskito in Jamaica gekrönt - von Englands Gnaden. Die "Miskito" sind genauso wenig oder viel ein "Indianerstamm" wie die heutigen Tscherkessen oder Armenier ein "Türkenstamm". Zu Recht nennt die nicaraguanische "Prensa" das Gebiet der Miskito - die "Región Autónoma del Atlántico Norte" (RAAN) - "multilingual und multiethnisch".

Bis ins 19. Jahrhundert verdingten sich die Miskito als Sklavenfänger für die Briten - ihre Beute waren die Sumu, Rama und die Creolen - entlaufene Sklaven aus Jamaica. Gemeinsam mit den Engländern kämpften sie gegen die Spanier. Spanische Truppen fielen immer wieder mordend und plündern in die Küstenregion ein, konnten sie aber nie einnehmen. Erst 1894, nach dem Verzicht Englands auf sein Mandat, okkupierte der nicaraguanische Diktator Zelaya den Nordosten Nicaraguas.

Illegaler Verkauf von Schildkröten an der Mosquitia

Anstelle der Engländer beuteten die USA die Mosquitia aus, was unter anderem dazu führte, dass die Schildkröten, traditioneller Fleischlieferant der Küstenbewohner, fast ausgerottet wurden. Vor allem Bananen und Holz wurden exportiert. Die USA konnten nach Gutdünken schalten und walten: 1962 überfielen sie von Puerto Cabezas aus Kuba. Nach dem Erfolg der Sandinistischen Revolution 1979 entzündete sich sofort ein Konflikt um die Autonomie und Selbstverwaltung. Die "Tageszeitung" schrieb 1981: "Die Indianer haben sich nie wirklich als Bewohner von Nicaragua gefühlt, ihr Land ist 'die Küste'. Und ihre Erfahrung ist, dass jeder'"Spanier', der von ihnen etwas will, für sie zunächst einmal Eindringling und Kolonisator ist."

Der Streit kulminierte bis zum bewaffneten Kampf - die Miskito wurden zwischen den Sandinistas und der von der USA unterstützten "Contra" zerrieben. Tausende flüchteten auf die andere Seite des Rio Coco nach Honduras.

Protestanten und Geistheiler

1849 entsandte die Herrnhuter Brüdergemeinde, (engl.: Moravians ("Mährische Brüder").die ersten Missionare nach Bluefields an die Atlantikküste Nicaraguas. Die Zentrale der pietistischen Freikirche sitzt in der Lausitzer Kleinstadt Herrnhut. Innerhalb eines Jahrhunderts zerstörte die Christianisierung das traditionelle Sozialgefüge der Miskito fast vollständig. Die Miskito kennen keine schriftliche Überlieferung, die Traditionen werden vor allem durch die differenzierten Begriffe, wer mit wem wie verwandt ist, bewahrt. Der Einfluss der Moravier war und ist heute so groß, dass ohne sie keine politischen Entscheidungen getroffen werden können.

Miskito-Mädchen aus Waspam

Trotz der erfolgreichen Mission ist die Ideenwelt der Miskito noch untergründig präsent. Der Schamane, in Miskito "sukya" genannt, ist heute oft protestantischer Laienpriester und "Arzt" in einer Person. Die heute bekannteste "Geistheilerin" der Miskito-Küste, Porcela Sandino, berichtet, welche Kräfte im Volksglauben immer noch eine Rolle spielen. Der traditionelle Miskito-Dämon "Sirena del Wangki" entspricht ungefähr dem christlichen Konzept des Teufels. Für die einfachen Leute gibt es keinen Unterschied. Eine ethnologische Untersuchung über die Miskito aus der 30er Jahren stellte fest:

Illness contains an aura of mystery, and while evil spirits per se are not longer considered to be responsible, the restlessness caused by a fever or any more drastic convulsions ist still describes a lasa prukaia, that is: 'the evil spirit ist attacking.'

Die geheimnisvolle Krankheit der Miskito erfüllt daher die Funktion eines magischen Fiebers: die Symptome der "Grisi Siknes" zeigen sich oft auch dann, wenn jemand meint, jemand anderen durch einen "Liebeszauber" verhexen zu müssen. Dahinter steckt die Erinnerung an die Praxis der Schamanen, sich in Ekstase und Trance zu versetzen, um mit der jenseitigen Welt und den Göttern kommunizieren zu können. Der "kranke" Zustand des Körper repräsentiert einen Mangel - der Mensch ist im Sinne des Wortes zeitweilig "außer sich", ver-rückt, und muss wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.

Magie als Gegenmittel wirkt wie moderne Medizin, nur ohne chemische Hilfen. Der französische Ethnologe Marcel Mauss schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts über derartige Praktiken, dass die Basis der Magie affektive Zustände seien, die Illusionen erzeugten, die aber real wirkten:

Das magische Urteil ist Gegenstand eines sozialen Einverständnisses, Übersetzung eines sozialen Bedürfnisses, unter dessen Druck eine ganze Reihe von Phänomenen der kollektiven Psychologie ausgelöst wird.

Die "kollektive Hysterie" der Miskito ist also nichts anders als etwa der katholische Kult um Marienerscheinungen oder der Glaube, eine Wallfahrt nach Lourdes würde Lahme gehend und Blinde sehend machen. Die "Indianer" sind so wie wir.