Wikinews geht an den Start

Kann das kollaborative Konzept der Wikipedia auf die Produktion einer Nachrichtenseite übertragen werden?

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Die Erfolgsgeschichte des freien Online-Lexikons Wikipedia liest sich wie ein Cyber-Märchen: Erst Anfang 2001 vom US-Amerikaner Jimmy Wales (Interview mit Jimmy Wales) gegründet, wuchs das Online-Lexikon rasch an. Die englischsprachige Ausgabe umfasst mittlerweile knapp 390.000 Artikel. Auf der deutschen Seite, der zweitgrößten Wikipedia-Regionalausgabe, lassen sich mittlerweile 160.000 Lexikonartikel durchstöbern. 300 Millionen Zugriffe weltweit zählen die Statistiker bei Wikipedia jeden Monat. Bis zum Frühjahr nächsten Jahres soll die Milliardengrenze erreicht worden sein. Nun plant die Wikipedia-Gemeinschaft ihren Einstieg in den Online-Journalismus. Seit kurzem stehen die Wikinews als Demoversion im Netz, eine Nachrichtenseite, die nach demselben Modell wie das Lexikon arbeiten soll: Wikinews wird von den Nutzern selbst erstellt.

Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia gibt es mittlerweile in mehr als hundert Sprachen. Die einzelnen Artikel kommen nicht von hauptamtlichen Redakteuren oder Wissenschaftlern. Vielmehr wird das Lexikon von seinen Nutzern selbst bestückt. Jeder User kann neue Stichworte hinzufügen, Artikel schreiben und schon existierende Artikel ändern. Skeptiker hatten zunächst den Kopf geschüttelt. Ein solches Konzept könne nicht funktionieren. Mangelndes Fachwissen der schreibenden Wikipedia-Nutzer, aber auch Vandalismus und sektiererische Außenseiterautoren würden unweigerlich zu fehlerhaften Artikeln führen. Die Skeptiker wurden grundsätzlich eines Besseren belehrt, was Konflikte über Lexikonartikel zu ideologisch, politisch oder fachlich besonders umstrittenen Themen allerdings nicht ausschließt.

Einer IBM-Studie zufolge verschwinden absichtliche Falschinformationen meistens binnen kürzester Zeit. Die Verarbeitung konfliktträchtiger Wikipedia-Artikel zieht sich demgegenüber oft über Monate hin, bis ein Kompromiss zwischen den widerstreitenden Positionen erreicht wurde (Einbahnstraße ins Weltwissen?). Vergleichstest mit etablierten Lexikon-Verlagen zeigen allerdings, dass sich die Wikipedia-Community insgesamt auf dem richtigen Weg befindet. Meilenweit sei etwa ihr Vorsprung in punkto Aktualität, meint die Wochenzeitung Die Zeit und ließ einzelne Beiträge von anerkannten Fachleuten prüfen - mit positivem Resultat: "Zwar haben die Texte hier und da noch Lücken, aber sie machen diese durch präzise und ausführliche Beschreibungen an anderen Stellen wett." Deutlicher Nachteil bei Wikipedia sei, dass Multimedia-Elemente weitgehend fehlen. Der Benutzer blicke meist auf Textwüsten.

Jeder Nutzer ist ein potenzieller Autor. Diese Maxime gilt für Wikepedia - sie soll Gültigkeit auch für die neuen Wikinews besitzen. Die kürzlich ins Netz gestellte Demoversion der neuen Nachrichtenseite soll nicht von professionellen Journalisten, sondern von jedem Nutzer mit Nachrichten gefüllt werden. Wie es sich für ein Projekt gehört, das von der Mitarbeit seiner (eingeschriebenen) Nutzer lebt, wurde die Frage, ob überhaupt eine Wikinews-Nachrichtenseite ins Netz gestellt werden solle, den registrierten Mitgliedern der Wikimedia Foundation zur Abstimmung vorgelegt. Das Ergebnis wurde am 12. November bekannt gegeben und war eindeutig. Mit großer Mehrheit wurde für die Wikinews votiert.

Der Bürger als Journalist

Das Konzept hinter Wikinews sieht vor, "eine freie Nachrichtenquelle zu schaffen, die jeden Menschen einlädt, Berichte über große und kleine aktuelle Ereignisse beizutragen, sei es aus direkter Erfahrung oder in Form einer Zusammenfassung aus anderen Quellen". Zu diesem Zweck ist der Aufbau eines weltumspannenden Reporternetzes geplant. Artikel werden - ganz in der Tradition der Wikipedia - kollaborativ verfasst. Jeder Leser, der etwas zu einer Nachricht beizutragen hat, kann jeden Artikel editieren. Am Ende werde man "gemeinsam eine großartige und einzigartige Nachrichtenquelle" aufgebaut haben, "die die Medienlandschaft bereichern" werde und durchaus als "nicht-proprietäre" Alternative zu den etablierten Nachrichtenagenturen wie AP oder dpa gedacht ist. "Die Zeit für eine freie Nachrichtenquelle, von Menschen für Menschen, ist gekommen", verkünden die Wikinews-Macher ihre Idee eines freien Bürgerjournalismus. Jeder Bürger könne "einen nützlichen Beitrag dazu leisten kann, den Überblick darüber zu bekommen, was in der Welt um uns herum geschieht".

Jeder Bürger? Was in der Theorie so schön, so gut, weil so wunderbar egalitär klingt, erweist sich bereits in der Wikipedia-Praxis als idealistische Fiktion. Wikipedia ist ein Projekt des gehobenen Netz-Bildungsbürgertums. Und auch die Wikinews werden sich thematisch, inhaltlich und sprachlich eher am typischen Zeit- als am durchschnittlichen Bildzeitungsleser orientieren. Der Anspruch, über das berichten zu wollen, "was in der Welt um uns herum geschieht", wird sich vermutlich auf eine Berichterstattung reduzieren, die einen nur schichtenspezifisch relevanten, selektiven Ausschnitt des aktuellen Weltgeschehens produziert - das aber vermutlich sehr fundiert.

Ob sich Wikinews dann jedoch wirklich als alternative Nachrichtenagentur mit umfassendem Themenspektrum etablieren kann, bleibt fraglich. Ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, ob Bürger-Reporter tatsächlich in der Lage sind, dieselben oder gar besser informierte authentische Quellen "anzuzapfen" als die etablierten Medien - welcher Couleur sie auch immer zugerechnet werden mögen.

Bis das angepeilte weltumspannende Wikinews-Reporternetz aufgebaut ist, wird Wikinews zunächst hauptsächlich Zusammenfassungen von Berichten anderer Nachrichtenquellen liefern, die allerdings unter den Bedingungen des kollaborativen Wiki-Modells abgefasst werden. Es gilt der Grundsatz des neutralen Standpunktes: Meinungen und Annahmen müssen ihren Vertretern jeweils eindeutig zugeschrieben werden. Sämtliches Quellenmaterial, das für einen Artikel benutzt wurde, werde zusammen mit dem Artikel online zugänglich gemacht, sodass sich jeder Leser ein eigenes Bild von der Zuverlässigkeit einer Nachricht machen könne. Ein Artikel, der zum Zeitpunkt der Schlussredaktion nicht (politisch) neutral ist, soll entweder korrigiert oder nicht publiziert werden. Eine Qualitäts- und Neutralitätskontrolle der aktuellen Nachrichtenartikel findet grundsätzlich durch die Nutzer sowie durch besonders eifrige Wikinews-Aktivisten in der Schlussredaktion statt.

Kritiker befürchten, dass die neuen Wikinews zu einer"weltumspannenden Gerüchteküche werden könnten. Wenn alle möglichen Wiki-Reporter über aktuelle Ereignisse berichten, würden persönlicher Beliebigkeit und subjektiver Sichtweise Tür und Tor geöffnet, zumal wenn man bedenke, dass eine Nachrichtenseite anders als die Wikipedia tagesaktuell sein müsse, für inhaltliche Korrekturen also weniger Zeit vorhanden sei. Jimmy Wales teilt solche Bedenken nicht. Er verweist auf die Erfahrungen mit seinem Wikipedia-Projekt und geht davon aus, dass auch jeder Wikinews-Autor das Bestreben entwickeln werde, dass sein Artikel die Kritik der anderen Nutzer "überlebt".

Der einzige Weg, dass ein Artikel überleben kann, ist, dass er so geschrieben wird, dass er für eine extrem große Leserschaft akzeptabel bleibt.

Ein wenig überzeugendes, vielleicht sogar naives Argument. Denn das, was unter den Bedingungen des Wikipedia-Projektes funktioniert, muss unter den ganz anders gelagerten Bedingungen der Herstellung einer Nachrichtenseite noch keinesfalls funktionieren. Strittige Wikipedia-Artikel können relativ problemlos einem langwierigen Diskussionsprozess unterzogen werden. Eine Nachrichtenseite, die Tagesaktualität anstrebt, lebt dagegen vor allem von ihrer Geschwindigkeit. Und Geschwindigkeit setzt sowohl einen professionellen Umgang mit der jeweiligen Nachricht als auch einen Redaktionsschluss voraus. Ob und inwieweit sich solche Restriktionen mit dem kollaborativen Konzept der gemeinschaftlichen Nachrichtenproduktion und der inhaltlichen Qualitätskontrolle durch die Nutzergemeinschaft vertragen, bleibt deshalb abzuwarten. Dass es Aktualitätsprobleme geben kann, lässt sich bereits an der Wikinews-Demoversion ablesen. Während andere US-Medien längst detailliert über den umstrittenen Bush-Besuch in Kanada berichten, hinken die Wikinews meilenweit hinterher. Der Artikel "US president Bush visits Canada" wird noch geprüft und besteht gerade einmal aus acht Sätzen.