CDU/CSU üben sich in Patriotismus

Ein Eid auf das Grundgesetz, Abschaffung des Asylrechts und Therapien für Homosexuelle

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Jahrelang mussten sich die konservativen Oppositionsparteien den Vorwurf gefallen lassen, nicht einmal den glücklosen Mitgliedern dieser Bundesregierung eigene und zukunftsfähige Konzepte entgegensetzen zu können. Doch damit ist jetzt Schluss. Nachdem Friedrich Merz den ausufernden Steuerdschungel auf Bierdeckelgröße zurechtgestutzt hat und den Schwesternparteien überdies ein bahnbrechender Vorschlag für die Reform des Gesundheitssystem gelungen ist, beschäftigen sich christlich inspirierte Strategen, Vordenker und Hinterbänkler nun unter vielerlei Gesichtspunkten mit Fragen der nationalen Identität.

Am 8. November nimmt Angela Merkel den bevorstehenden 15. Jahrestag des Mauerfalls zum Anlass, um alle Deutschen zu einer "Schicksalsgemeinschaft" zu erklären, die "Identität stiftende Symbole" brauche. Wenige Tage später fordert der CSU-Parteitag die in Deutschland lebenden Migranten unmissverständlich auf, "unsere Leitkultur vollständig zu akzeptieren", und Edmund Stoiber entdeckt schließlich sogar das Große Indianerehrenwort als moralische Kopfpauschale für ausländische Mitbürger. Menschen, die einen deutschen Pass beantragen, sollen nach dem Willen des bayerischen Ministerpräsidenten die einmalige Chance bekommen, ihre staatstreue Gesinnung durch einen Eid auf das Grundgesetz unter Beweis zu stellen.

Sein hessischer Amtskollege Roland Koch bekennt sich in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" zur interreligiösen Toleranz, die allerdings nicht dazu führen dürfe, "daß wir verschämt die Kreuze abhängen und haßpredigende Imame dulden - und verschleierte Lehrerinnen sollen nicht unseren Staat verkörpern". Koch fordert von seinen Landsleuten "Bekennermut zu unserem nationalen Interesse", dessen historischer Auftrag gar nicht umfassend genug beschrieben werden kann.

Unser Ehrgeiz darf sich nicht auf den Fußballweltmeistertitel beschränken. Wir müssen genauso Nobelpreise wollen, Führung in der Forschung und die Marktführerschaft in vielen Industriebranchen. Die CDU muß als die Partei der Wahrung der deutschen Interessen in der Welt gelten.

Ganz ähnlich beurteilt Rolands Kochs Parteifreund Hans-Jürgen Irmer den nationalen Auftrag, dem das Land der Dichter und Denker, der (potenzielle) Fußballweltmeister und nationale Wirtschaftsgrößen endlich wieder gerecht werden muss. Der schulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion sorgt seit geraumer Zeit mit der Herausgabe des Wetzlar Kurier für Aufsehen. Das Blatt, das mittlerweile eine Auflage von 104.000 Exemplaren erreicht haben soll, erscheint monatlich im Lahn-Dill-Kreis und schürt ebenso regelmäßig Ressentiments gegen die politischen Gegner, vor allem aber gegen Ausländer, Asylanten und Homosexuelle.

In den von Irmer verfassten oder beauftragten Artikeln wird angeregt, EU-Kommissar Günter Verheugen aufgrund seiner Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei "wegen Hochverrat an Deutschland" anzuklagen, "das Individualrecht auf Asyl komplett abzuschaffen" und endlich zu begreifen, dass der "rot-grüne Schwachsinn" zu einer "Diktatur der Minderheiten" führt. Zu ihnen zählen nach Irmers Auffassung auch Schwule und Lesben, denen der frühere Gymnasiallehrer ganz besondere Aufmerksamkeit widmet. In aufklärerischer Absicht, versteht sich, denn Homosexualität ist "im Gegensatz zu dem, was man landläufig glaubt, nicht angeboren und im übrigen auch veränderbar." Schwulen und Lesben wird deshalb dringend eine Korrektur ihrer sexuellen Vorlieben angeraten, um dauerhafte Schäden vom Volkskörper abzuwenden:

Wie wichtig diese Möglichkeit der Veränderung ist, wird auch daran deutlich, daß Menschen, die homosexuellen Sex praktizieren, deutlich häufiger an psychischen Erkrankungen leiden als heterosexuelle Menschen. Bei den Männern sind dies Angstneurosen und Depressionen, bei den Frauen häufig Medikamenten- und Alkoholmißbrauch.

Wem diese hochwissenschaftlichen Argumentationsketten nicht ausreichen, bekommt von Irmer noch ein praktisches Beispiel aus Geschichte und Gegenwart präsentiert.

Wenn der schwule Regierende Bürgermeister von Berlin, Wowereit, öffentlich erklärt, so Irmer, daß es gut sei, daß er schwul sei, dann zeige dies nur dessen Kurzsichtigkeit. Abgesehen davon, daß schwule Paare logischerweise keine Kinder bekommen, muß man doch einmal sehr deutlich sagen, hätte Vater Wowereit die gleiche Auffassung wie sein Junior gehabt, würde es den Junior heute nicht geben. So einfach ist die Welt.

Ja, so einfach ist die Welt für den Sheriff von Wetzlar und seine Gesinnungsgenossen, von denen es in der hessischen CDU-Fraktion offenbar mehr gibt, als gemeinhin angenommen wird. Nicht einmal Irmers unerträgliche Polemik gegen den Grünen-Fraktionschef Tarek Al-Wazir, den er mit seinem zweiten Vornamen Mohammed ansprach, bewegt die Parteifreunde oder gar den Ministerpräsidenten zu Konsequenzen. Am Dienstag gibt Irmer während einer Sitzung der Landtagsfraktion zu, "über das Ziel hinausgeschossen" zu sein. Für die CDU, die in Hessen mit nur einer Stimme Mehrheit regiert, ist die Sache damit erledigt, ein Rücktritt des schulpolitischen Sprechers stand angeblich nie zur Diskussion.

Rückendeckung bekommt Hans-Jürgen Irmer nicht nur aus Wiesbaden, sondern auch aus berufenem Munde. Der wegen antisemitischer Äußerungen mittlerweile immerhin aus der Partei ausgeschlossene, ebenfalls aus Hessen stammende Martin Hohmann bemerkt gegenüber "Spiegel Online", SPD und Grüne wollten nur "einen erfolgreichen und unerschrockenen Konkurrenten ausschalten".

Dass es sich hier lediglich um Privatmeinungen und Einzelfälle handelt, darf mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die eingangs zitierten Beschwörungsformeln, die - wenn es nach Angela Merkel und anderen Spitzenpolitikern geht - auf dem Düsseldorfer CDU-Parteitag am 6. und 7. Dezember in eine veritable Patriotismus-Debatte münden sollen, sind offenbar konsensfähig, und die Konrad-Adenauer-Stiftung hat mit der aktuellen Studie Was die Gesellschaft zusammenhält. Plädoyer für einen modernen Patriotismus) bereits das geistige Rüstzeug beigesteuert.

Die Auftritte von Hohmann, Irmer & Co. müssen unter diesen Umständen wohl als Testballons gedeutet werden. Ihr Einsatz könnte darüber Aufschluss geben, wie weit die Partei nach rechts ausscheren darf, um politisches Terrain von radikalen Gruppierungen wie DVU und NPD zurückzugewinnen, sich andererseits aber nicht zu weit von der vielgerühmten "Mitte" zu entfernen.

Wer nach dem alten Franz Josef Strauß-Motto "Rechts von mir ist nur die Wand" Politik für das 21. Jahrhundert gestalten will, läuft allerdings Gefahr, selbst den Boden des Grundgesetzes zu verlassen. Die CDU/CSU muss sich aufgrund der gezielten Fahrlässigkeit, mit der sie die aktuelle Diskussion über Patriotismus, Integration und Toleranz führt, den Vorwurf gefallen lassen, diese Gefahr billigend in Kauf zu nehmen.