"Das nutzt unseren Leuten hier"

Gerhard Schröder im Reich der Mitte

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Daheim läuft wenig rund, um nicht zu sagen: fast alles schief. Doch im Ausland präsentiert sich die rot-grüne Bundesregierung dynamisch und unternehmungslustig. Wie weiland Kohl und Kinkel sammeln nun Schröder & Co. auf allerlei Staatsreisen Sympathiepunkte und Erfolgsbilanzen für die erhoffte Wiederwahl.

Bereits zum sechsten Mal weilte der Vorstandsvorsitzende der Deutschland AG, der in guten Wirtschaftsbeziehungen den "Ausdruck eines richtig verstandenen Patriotismus" sieht, Anfang der Woche in der Volksrepublik China. In Begleitung von Innenminister Otto Schily, Verkehrsminister Manfred Stolpe und einer 43-köpfigen Wirtschaftsdelegation wurden milliardenschwere Geschäftsabschlüsse unterschrieben und neben stolzen Zahlen auch jede Menge rosiger Aussichten präsentiert.

Deutsche Unternehmen haben sich mit einem Volumen von 9,4 Milliarden US-Dollar schon jetzt den Spitzenplatz unter den europäischen Investoren gesichert, und bis 2010 soll der Handelsaustausch noch einmal verdoppelt werden. Konkrete Aufträge gibt es für das Unternehmen Airbus, das seinem chinesischen Partner 23 Maschinen vom Typ A320 im Gesamtwert von etwa einer Milliarde Euro liefert, während Siemens 180 Drehstromlokomotiven für 360 Millionen produziert. Auch Volkswagen, DaimlerChrysler und das Stahlwerk Georgsmarienhütte sind neben vielen anderen renommierten Betrieben Teil eines intensiven Wirtschaftsaustauschs, der sich auf politischer Ebene fortsetzen soll.

Zum Dank für die Unterstützung des deutschen Wunsches nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat will sich Schröder dafür einsetzen, dass die Europäische Union ihr Waffenembargo, das nach dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens im Jahr 1989 verhängt wurde, in absehbarer Zeit aufhebt. Der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao zeigte sich von diesem Vorhaben überaus angetan und gab in Peking zu Protokoll:

Das Waffenembargo ist ein Produkt des Kalten Krieges und nicht mehr zeitgemäß.

Damit ist auf Regierungsebene alles gesagt, zumal sich sein deutscher Gesprächspartner schon vor dem Abflug von Berlin Schönefeld jedes Querulantentum verbeten hatte:

China ist einer der wichtigsten Märkte, und deswegen verstehe ich all diejenigen nicht, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit kritisieren. Das nutzt unseren Leuten hier.

Die Menschen, die der Kanzler nicht versteht, sitzen in den Reihen seines grünen Koalitionspartners und vor allem bei zahlreichen Menschenrechtsorganisationen. Sie kritisieren, dass wichtige humanitäre Fragen im bilateralen Dialog allenfalls beiläufig zur Sprache kommen. Dabei scheint es gerade in diesem Bereich reichlich Diskussionsbedarf zu geben. Telepolis sprach deshalb mit Verena Harpe, der Asien-Expertin von Amnesty International.

Sie haben von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor seiner Abreise "klare Worte zu Menschenrechtsverletzungen" gefordert. Waren Sie mit seinen Auftritten zufrieden?

Verena Harpe: Nein, das war ich nicht, selbst wenn der Kanzler sagt, dass Menschenrechte in den Gesprächen auch ein Thema seien. Ob er darüber tatsächlich spricht, wissen wir ja leider nicht ...

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Bundeskanzler auch schon nach China gereist ist, ohne darüber ein Wort zu verlieren. Sein Verweis darauf, dass die Menschenrechtsproblematik vor allem im deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog behandelt werde, reicht allerdings nicht aus. Dialoge sind zwar grundsätzlich positiv zu bewerten, solange sie mit klarer Zielsetzung geführt werden. Über die Einhaltung der Menschenrechte darf man aber nicht nur hinter verschlossenen Türen reden.

Fadenscheinige Vorwände, unfaire Prozesse, drakonische Strafen

Sie haben vor wenigen Tagen den Bericht "People’s Republic of China: Human Rights Defenders at risk" über Menschenrechtsverteidiger in China veröffentlicht. Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen und anderen Untersuchungen auf die aktuelle Menschenrechtssituation in China ziehen?

Verena Harpe: Leider gibt es auch unter der neuen Führung keine entscheidende Verbesserung. Die Situation der Menschenrechte ist unverändert schlecht, auch wenn sich Peking gelegentlich um kosmetische Korrekturen bemüht. Trotzdem sind Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht gewährleistet. Außerdem bekommen wir jeden Tag Nachrichten, dass Menschen unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet, in unfaire Prozesse verwickelt und zu drakonischen Strafen verurteilt werden. In China wird die Todesstrafe häufiger verhängt als in allen anderen Ländern zusammengenommen, und es gibt keine Indizien für grundlegende Reformen.

Sie haben eine Vielzahl entsprechender Fälle dokumentiert. So zum Beispiel das Schicksal der Eisenbahnarbeiter Xiao Yunlinang und Yao Fuxin, die zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, weil sie für die Zahlung ausstehender Löhne demonstrierten.

Verena Harpe: Das stimmt, wobei es auf der einen Seite natürlich zu begrüßen ist, dass sich immer mehr Menschen für ihre Rechte, für die ihrer Mitbürger und gegen Behördenwillkür einsetzen. Doch sie geraten auch sehr schnell ins Visier der Staatsmacht, insbesondere wenn Maßnahmen im Zusammenhang mit wichtigen Projekten wie den Olympischen Spielen 2008 oder großen Bauvorhaben kritisch beleuchtet werden. Der Anwalt Zheng Enchong, der sich für von Zwangsevakuierungen bedrohte Familien aus Shanghai engagiert und einen Bericht über diese Fälle ins Ausland weitergeleitet hat, sitzt jetzt für drei Jahre im Gefängnis. Angeblich hat er Staatsgeheimnisse weitergegeben.

Wie beurteilen Sie die internationale Rechtslage?

Verena Harpe: Es gibt eine ganze Reihe von UN-Konventionen und völkerrechtlichen Bestimmungen, die von China zum Teil unterschrieben und mitunter auch ratifiziert wurden. Papier ist nur leider geduldig, und so lange in Peking der politische Wille fehlt, bleibt das alles ohne praktische Folgen.

Warum sollte ein entsprechender Protest andere Konsequenzen haben, als dass die Chinesen in Zukunft mit weniger widerspenstigen Partnern Geschäfte machen?

Verena Harpe: China isoliert sich nicht mehr so stark wie in früheren Jahren. Es gibt immerhin die Bereitschaft, mit UN-Gremien ins Gespräch zu kommen, und die Außendarstellung spielt mittlerweile eine wichtige Rolle. Zwar wird immer wieder darauf verwiesen, dass in China bürgerliche Freiheitsrechte auch mal hinter wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften zurückstehen müssen, aber man ist doch bemüht, schwarze Flecken auf der Weste zu vermeiden. Deshalb wird das Urteil ausländischer Politiker durchaus ernstgenommen.

Schlag in das Gesicht der Dissidenten

Was spricht aus Ihrer Sicht gegen die Aufhebung des EU-Embargos? Letztlich geht es dabei doch wohl "nur" um ein politisches Signal.

Verena Harpe: Aber das ist von entscheidender Bedeutung. Wenn die Verhängung 1989 ein politisches Signal war, gilt das selbstverständlich auch für eine mögliche Aufhebung. Und die Botschaft würde dann lauten: Die Situation der Menschenrechte hat sich entscheidend verbessert, Schwamm drüber!

Dabei sitzen Dutzende Menschen, die im Zusammenhang mit der niedergeschlagenen Demokratiebewegung damals verhaftet wurden, noch immer im Gefängnis. Es hat nie eine Untersuchung der Vorfälle gegeben, und es wurde auch niemand zur Rechenschaft gezogen. Wenn heute jemand der Opfer gedenken möchte, muss er damit rechnen, eingeschüchtert oder verhaftet zu werden.

Die Aufhebung des EU-Embargos wäre deshalb ein Schlag in das Gesicht der Dissidenten und politischen Häftlinge. Die EU muss in ihren Entscheidungen immer berücksichtigen, welchen Effekt diese auf die Menschenrechtssituation in China haben.

Befürchten Sie in dem Zusammenhang, dass Deutschland seine schon längst nicht mehr restriktive Rüstungsexport-Politik endgültig aufgibt? Immerhin sind die Einzelausfuhrgenehmigungen 2003 im Vergleich zum Vorjahr um 1,6 Milliarden auf nunmehr 4,9 Milliarden gestiegen.

Verena Harpe: Ich halte es allerdings für sehr bedenklich, dass gerade unter einer rot-grünen Bundesregierung die Anzahl der beabsichtigten und tatsächlichen Waffenexporte so erheblich angewachsen ist. Das ist nicht gerade ein Zeichen dafür, dass die Kriterien für die Erteilung von Rüstungsexport-Genehmigungen eng ausgelegt werden.