Das System Lidl

Verdi prangert die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen bei dem Discounter an

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Seit Jahren ist die Gewerkschaft darum bemüht, den skandalösen Umgang mit den Beschäftigten der Billig-Kette publik zu machen. Nach der Veröffentlichung des "Schwarzbuch Lidl" sah sich das Unternehmen nun erstmals gezwungen, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen.

Endlich ist die Mauer des Schweigens durchbrochen. Für Agnes Schreieder, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi in Berlin, immerhin ein kleiner Triumph:

Bislang war es für die Unternehmensleitung offenkundig gar nicht notwendig, sich gegenüber den Beschäftigten und auch den Kunden zu den Vorwürfen zu äußern.

Seit Jahren ist die Organisation von Schreieder damit beschäftigt, die meist katastrophalen Arbeitsbedingungen bei Billig-Discountern öffentlich zu machen. Den ersten Platz nimmt dabei die Firma Lidl ein. An drastischen Beispielen über die Praktiken des Unternehmens mangelt es nicht. Doch die Geschäftsführer der Schwarz-Gruppe, zu der Lidl gehört, saßen bislang jede Kritik einfach aus.

Das hat sich seit vergangener Woche scheinbar geändert. Nach der Veröffentlichung des Schwarzbuch Lidl am vergangenen Freitag, in dem die Verdi-Recherchen der vergangenen Jahre gesammelt sind. Vor allem nach dem großen Medienecho sah man sich am Firmensitz im baden-württembergischen Neckarsulm schließlich doch zu einer Reaktion genötigt. "Wir empfinden dies als ausgesprochene Diskriminierung und als Diffamierungskampagne", schreibt das Unternehmen in einer Pressemitteilung. Mit 20.000 Arbeitsplätzen, die man hierzulande in den letzten drei Jahren geschaffen habe, sei man "die Nummer eins" in der Republik. Dies erreiche man nur mit zufriedenen und motivierten Mitarbeitern.

Ansonsten hat sich jedoch wenig an der Informationspolitik des Konzerns geändert. Denn außer den allgemeinen Erklärungen beharrt das Unternehmen weiter auf eisigem Schweigen. Zwar hat mittlerweile eine PR-Agentur im bayrischen Gauting die Pressearbeit übernommen, doch zu konkreten Vorwürfen nimmt man auch dort nicht Stellung. "Da weiß ich nichts davon", wiederholt Sprecher Andreas Voelmle immer wieder, außerdem sei es "schwierig, sich zu anonymen Beschuldigen zu äußern".

Gezielt Gründung von Betriebsräten erschwert

Die gesammelten Aussagen der Lidl-Angestellten, keinesfalls alle anonym, beschreiben jedenfalls dramatische Verhältnisse: Arbeitszeiten von bis zu zwölf Stunden und mehr am Tag, oftmals ohne Mittagspause, seien keine Seltenheit. Unbezahlte Überstunden werden als "freiwillige Vor- und Nacharbeiten" deklariert. So beginnt die Frühschicht für viele bereits um sechs Uhr - bezahlt wird erst ab acht. Taschenkontrollen sind an der Tagesordnung, und auch Videoüberwachung sowie die Durchsuchung von Spinden und Privatautos der MitarbeiterInnen gehören bei Lidl zum Alltag. Werner Wild berichtet gar von einer Angestellten, deren Spind vermutlich einfach aufgebrochen wurde, denn eines Morgens war das Schloss ausgetauscht.

Klaus Gehrig, der seit März die Geschäfte der Schwarz-Gruppe führt, entschuldigte sich in der ZDF-Sendung "frontal 21" für "Einzelfälle". Und Kontrollen, so die Unternehmensleitung weiter, würden schließlich "von allen Handelsunternehmen praktiziert". Ein Vergleich, den Werner Wild zynisch findet:

Es gibt einen feinen Unterschied: Dort überall gibt es Betriebsräte. Und es gibt Regelungen, unter welchen Bedingungen Personalkontrollen durchgeführt werden, die dann normalerweise akzeptabel und nicht entwürdigend sind.

Agnes Schreieder, die am "Schwarzbuch" mitgewirkt hat, spricht gar vom "Lidl-System".

Es ist darauf aufgebaut, bei den Angestellten gezielt Angst zu schüren. Durch gnadenlose Arbeitshetze werden Leute zu Leistungen und zu einem Verhalten gebracht, die Lidl den Vorteil bringen, dass sie über die Ausbeutung dieser Arbeitsleistung ein aggressives Expansionstempo vorlegen können. Dieses wird von keinem Unternehmen der Republik eingeholt.

Die Schwarz-Gruppe, benannt nach dem Firmengründer Dieter Schwarz, die europaweit ca. 151.000 Menschen beschäftigt, tritt in 18 europäischen Ländern auf. Von 1990 bis heute hat sich der Jahresgesamtumsatz des Unternehmens von 2,6 auf 36 Milliarden Euro erhöht. Neben den SB-Warenhäusern Kaufland und Handelshof stellt Lidl den Motor dieser Expansion dar. Allein im vergangenen Jahr eröffnete die Kette 442 neue Läden. Mehr als 6.000 Filialen sind mittlerweile über Europa verteilt, 2.500 davon in Deutschland. Während die personalstarken Warenlager mit Betriebsräten ausgestattet sind, trifft dies bundesweit auf lediglich sieben Filialen zu. Und darauf fußt maßgeblich die Firmenpolitik.

Kein anderes Unternehmen in dieser Republik schaltet so gezielt und radikal betriebliche Mitbestimmung aus wie der Konzern Schwarz. Allein die drei Bereiche Lidl, Kaufland, Handelshof und alles was dazu gehört, Immobilien und so weiter, sind in über 600 Unternehmenskonstrukte aufgeschachtelt.

Agnes Schreieder

Mit diesem Splitting soll die Gründung von Betriebsräten erschwert werden. Denn eine Lidl-Filiale hat im Schnitt maximal 12 Beschäftigte, so dass ein Betriebsrat ohnehin nur aus einer Person bestehen würde. Auf der Basis des neuen Betriebsverfassungsgesetzes versuchten die Gewerkschafter deshalb vor zwei Jahren in Unna, etwa 120 Filialen an den Betriebsrat des dortigen Zentrallagers anzuschließen. Kurzerhand trennte der Konzern darauf Filialen und Lager in zwei Firmen mit eigenen Geschäftsführern auf.

Oftmals saßen vor Beginn von Gründungsversammlungen bereits mehrere Lidl-Manager im Veranstaltungsraum. Die organisierungswilligen Angestellten machten auf dem Absatz kehrt. Auch Agnes Schreieder kann von solch aggressiven Unternehmenspraktiken berichten:

Am 8. März haben wir in mehreren hundert Filialen Lidl-Beschäftige besucht und ihnen Informationsmaterial über Verdi und Betriebsratsgründungen gegeben. Noch am selben Tag sind die Bezirksleiter herumgegangen und haben die Filialleitungen angewiesen, das Material einzukassieren.

Wenn gewerkschaftliche Aktivitäten einzelner MitarbeiterInnen bekannt werden, ist dies meist der Startschuss für knallhartes Mobbing. Angestellte werden des Diebstahls oder anderer vermeintlicher Verfehlungen beschuldigt und teils stundenlang von mehreren Vertriebsleitern ins "Kreuzverhör" genommen, bis sie schließlich einen Aufhebungsvertrag unterschreiben, was dem Konzern die Kündigung erspart. Das gleiche Schicksal trifft häufig auch langjährige MitarbeiterInnen, die bei Weiterbeschäftigung in eine höhere Gehaltsgruppe aufsteigen würden.

Von den leitenden Angestellten wird absolute Loyalität verlangt

"Die werfen Leute raus, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Schon beim geringsten Anlass", erinnert sich Gabriele Henske-Kunz, bis vor kurzem Personalsachbearbeiterin bei Kaufland in Stuttgart. Sie wurde entlassen, weil sie an einer Betriebsratswahl mitgewirkt hat. "Der Verkaufsleiter hat zu mir gesagt: Wir kriegen Sie raus, verlassen Sie sich darauf! Ich such so lange, bis Sie hier rausfliegen."

"Unter den Verkaufsleitern, die mehrere Filialen betreuen, findet ein regelrechter Wettbewerb statt: Wieviel Abmahnungen kann ich schreiben, wieviel Leute kann ich feuern? Dann sind die angesehener", berichtet Marcus Jacobi, unlängst noch Filialleiter bei Lidl. Nun wurde er selbst wegen eines bei der Arbeit zugezogenen Bandscheibenvorfalls am Ende der Probezeit entlassen. Werner Wild bestätigt:

Von den leitenden Angestellten wird erwartet, dass sie mindestens 55 Stunden in der Woche arbeiten, ihnen wird absolute Loyalität abverlangt. Da spüren die ganz schnell: Wer sich nicht an dieses System hält, der ist schneller draußen, als er kucken kann.

Agnes Schreieder weist in diesem Zusammenhang auch auf die hohe Fluktuation unter den Verkaufsleitern hin, die oft "frisch von der Hochschule angeworben werden". Es handle sich um junge Leute, die mit hohem Einstiegsgehalt und Firmenwagen als Führungskräfte geködert würden.

Auf Schwierigkeiten stößt Lidl mittlerweile auch in anderen Ländern

Verdi, so Werner Wild, werde jedenfalls weiter versuchen, gezielt Mitglieder bei Lidl zu organisieren und Betriebsratswahlen einzuleiten, auch wenn Gewerkschaftssekretär Christian Paulowitsch eingestehen muss: "Wir kommen im Moment nicht weiter". Übergeordnetes Ziel sei es laut Schreieder, "mit Lidl eine Regelung darüber zu treffen, dass es filialübergreifende Betriebsräte gibt, weil jede einzelne Filiale ja nur begrenzte Mitbestimmungsrechte hätte".

Außerdem sei man über den Dachverband Uni dabei, sich europaweit zu vernetzen und sich einen Überblick über die Lage in den einzelnen Ländern zu verschaffen. Denn Lidl müsse sich bei seiner Expansion in Europa den verschiedenen Bedingungen anpassen. Und da "beispielsweise in Schweden achtzig Prozent der Handelsbeschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind", so Paulowitsch, sei Lidl dort auf die Gewerkschafter zugegangen.

Doch auch in Schweden gerät der Discounter in die Kritik. Die dortigen Grünen erklärten unlängst, Lidl betreibe eine "zynische und menschenfeindliche Personalpolitik". Die örtliche Gewerkschaft bestätigt zudem, das Unternehmen stelle auch in Schweden gerne junge Leute ohne Branchenerfahrung ein, um die Löhne so niedrig wie möglich zu halten.

Und im österreichischen Lindach wurde vor kurzem zwei Frauen gekündigt, nachdem sie die rund siebzig Beschäftigten des dortigen Lidl-Lagers zur Vorbereitung einer Betriebsratswahl geladen hatten. Sie zogen jedoch vors Arbeitsgericht, worauf Lidl, um ein Verfahren zu vermeiden, eine außergerichtlich vereinbarte Abfindung bezahlte. In Österreich feierte man dies als kleinen Triumph über Lidl, wie Reinhard Freinhofer, Landessekretär der Gewerkschaft Handel, Transport und Verkehr (HTV, Ende November erklärte:

Die Geschichte der Lidl-Mitarbeiterinnen zeigt, dass Firmen, die ArbeitnehmerInnenrechte mit Füßen treten, mit dem Widerstand des gesamten Gewerkschaftsbundes rechnen müssen. Es macht Sinn, um seine Rechte zu kämpfen.