Kulturkampf als mediale Fehlkonstruktion

Aus der ideologischen Blockkonfrontation wurden Konflikte zwischen den Kulturen. Aber woher stammt unser Wissen über andere Kulturen?

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Das Ende des Kalten Krieges war, entgegen anders lautender Annahmen, nicht das Ende der Geschichte. Die Konflikte, die seit der epochalen Wende Anfang der 90er Jahre ausbrachen, entstammten ursprünglich aus der Zeit davor, auch der Afghanistan und der Irak-Konflikt, ebenso die Spannungen aufgrund der langjährigen Integrationsversäumnisse in den europäischen Nationalstaaten. Ungeachtet dessen geht die zurzeit heftig in der Öffentlichkeit diskutierte Agenda aber davon aus, dass Differenzen zwischen Kulturen verantwortlich für gesellschaftliche Konflikte nach innen wie nach außen sind.

Wenn dies so sein sollte, dann muss auch davon ausgegangen werden, dass Ausbruch, Regelung und Steuerung von Kulturkonflikten maßgeblich von der Vermittlung und Darstellung durch Medien abhängig sind. Ein Hinweis darauf ist in der uns nicht gänzlich unbekannten Bildkonstruktion zu finden, dass der Terrorismus ein Gesicht hat, und dieses Gesicht hat einen Bart. So eindimensional-verfälscht dieses Bild in der Realität auch ist, ist doch davon auszugehen, dass Informationen und Wissen über andere Kulturen in quantitativ wie qualitativ zunehmendem Maße durch Medien vermittelt werden. Dadurch ist im globalen Dorf die Frage nach der Kultur auch eng mit der Frage nach der Identität verbunden. Die eigene Identität wird herausgefordert, für manche auch in Frage gestellt, zumindest aber scheint man sich ihrer versichern zu wollen, oder müssen.

Die These vom "Kampf der Kulturen"

Die zusammenwachsende Welt führte zu einem Paradox, welches sich folgendermaßen formulieren lässt: Umso mehr medialer und personeller Kulturaustausch stattfindet, umso mehr differenzieren sich kulturelle Identitäten heraus und distanzieren sich voneinander, während sich Menschen verstärkt mit ihrem ursprünglichen Kulturkreis identifizieren. In Deutschland führten diese Spaltungen in jüngster Zeit zu der nivellistischen Forderung, man müsse wieder etwas "fundamentalistischer" werden - was in säkularisierten Staaten nicht ausschließlich die Religion meinen kann -, um in kultureller Augenhöhe den Bedrohungen durch andere Kulturen entgegentreten zu können. Erst dadurch würde man von ihnen wieder ernst genommen.

Kurz gesagt: Die Spaltung der Kulturen nimmt mit dem Grad ihres Austauschverhältnisses zu, was nicht zwangsläufig zu Konflikten führen muss, der Explosivität dieser These in der globalen Informationsgesellschaft aber keinen Abbruch tut. Diese Vorstellung zeigt aber auch, dass hier eine Möglichkeit der Steuerung gegeben sein könnte, also die Kultur auch als eine Konstruktion aufgefasst werden kann.

Kultur als kulturalistisches Medienkonstrukt

Ausgehend von Kultur als Konstruktion (allemal von Kultur als medialem Konstrukt) und der Frage nach dem Ursprung von individuellen und gemeinsamen Identitäten bietet ein Ausflug zum kulturalistischen Medien-Konstruktivismus einige erfrischende Hinweise, die am Ende zu überraschenden Ergebnissen führen. Das Modell des Konstruktivismus, also die epistemologische Dimension des Wie, stellt sich die Frage nach dem Werden bzw. Erkennen der Dinge. In Anlehnung an den Medienwissenschaftler Siegfried J. Schmidt kann dies folgendermaßen definiert werden:

Die Konstruktion ist ein weder neurobiologisch noch kulturell planmäßig verlaufender, geleiteter, absichtlicher, sondern ein unbewusster, latenter, aber kein willkürlicher, relativistisch ablaufender Prozess.

Schmidt sieht in der Wirklichkeitskonstruktion einen sich selbst tragenden und bestimmenden (autokonstitutiven) Kreislauf, der auf die vier Instanzen Kognition (Denken), Kommunikation (Mitteilen bzw. Sprechen), Medien (technisch, organisatorisch, semiotisch, materiell) und Kultur als symbolische Ordnung aufbaut. Dies führt zu einer zentralen Annahme:

Die autonomen Bereiche Kognition und Kommunikation werden unter Aufrechterhaltung ihrer Autonomie strukturell gekoppelt durch Medienangebote, weil sich die Aktanten (Kommunikationsteilnehmer, A.H.) in allen drei Bereichen in hinreichend vergleichbarer Weise auf die symbolischen Ordnungen beziehen, die ich Kultur nenne.

(Schmidt, Siegfried J. (1995): Medien-Kultur-Gesellschaft. Medienforschung braucht Systemorientierung. In: Medien Journal, 19. Jahrgang. Heft 4, S.28

Kultur ist hier eine Größe, die die Kommunikation innerhalb einer symbolischen Ordnung beeinflusst. So wäre es möglich, dass auch symbolische Ordnungen in Konflikt miteinander geraten. Aber Kultur ist natürlich noch mehr. Sie kann ebenso als das gesamte soziale Erbe einer Gemeinschaft, als alle Vorstellungen, Auffassungen, Werte und Normen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden, definiert werden, oder etwas detaillierter: "Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen (beschreibende Völkerkunde) Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat", so eine etwas ältere Definition von Edward B. Tylor.

Identität und die Dimension der Zeit

Wie kommt jetzt aber innerhalb von Kulturen oder Kulturkreisen Identität zustande? Wenn persönliche Identität als Summe aller Elemente, Aspekt und Faktoren verstanden wird, die es einer Person ermöglichen, "Ich" zu sagen, kann kulturelle Identität als etwas verstanden werden, das es den Mitgliedern einer Gruppe ermöglicht, "Wir" zu sagen. Im Zentrum solch einer Selbstdefinition stehen neben den oben genannten Dingen sicherlich die Sprache oder die Religion.

Entscheidender aber scheint die Bemerkung von Schmidt zu sein, dass Kultur ein uns nicht gänzlich bewusster, also absichtlich verlaufender aktiver Prozess ist, sondern wir dem immer bis zu einem gewissem Grad ausgeliefert sind, auch kommunikativ, weil

...die Individuen bei ihrer Wirklichkeitskonstruktion im geschilderten Sinne immer schon zu spät kommen: Alles, was bewusst wird, setzt vom Bewusstsein aus unerreichbare neuronale Aktivitäten voraus; alles was gesagt wird, setzt bereits das unbewusst erworbene Beherrschen einer Sprache voraus; worüber in welcher Weise mit welchen Effekten gesprochen wird, all das setzt gesellschaftlich geregelte und kulturell programmierte Diskurse in sozialen Systemen voraus...

Siegfried J. Schmidt (2000): Kalte Faszination. Medien-Kultur-Wissenschaft in der Mediengesellschaft

Wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, könnte der Mensch als der Wirt eines sich durch ihn reproduzierenden Kulturprogramms gesehen werden. Hier schließt sich die Frage nach den Hilfsmitteln an, welche die Kultur dem Menschen dazu anbietet und wie diese wiederum die Kultur verändern. Es gibt also auch eine historische Dimension, der Rechnung getragen werden muss. Die Vergangenheit ist ein Konstrukt, das die Bedürfnisse des Jetzt widerspiegelt, und auch die besondere Evidenz der momentanen "Rückbesinnungs-Mode" ist eine augenfällige Tatsache, die eine nähere Betrachtung wert wäre. Kultur ist jedenfalls nicht zeitlos. Ganz im Gegenteil kann sie in drei Zeit-Dimensionen eingeteilt werden, die jeweils besondere Eigenschaften aufweisen: Das Verhältnis zur Geschichte, soziale und politische Ortsbestimmungen der Gegenwart und die Erwartungen der Zukunft. Angesichts der Wichtigkeit dieser drei Zeitdimensionen könnte nun gefragt werden:

  1. War der Kosovo-Konflikt ein das Verhältnis zur Geschichte (Schlacht auf dem Amselfeld) betreffender Identitätskonflikt mit stark religiösem Fundament? Der Europarat hat dazu den Begriff des "cultural cleansing", also die absichtliche Zerstörung von Kulturgütern wie Klöster, Kirchen, Moscheen usw., geprägt.
  2. Ist der "Krieg gegen den Terror" ein die sozialen und politischen Ortsbestimmungen der Gegenwart bestimmender Konflikt mit nur vorgeblich starkem religiösen, aber in Wahrheit starkem kulturellen Fundament (z.B. Individualismus vs. Kollektivismus; nach Huntington), sowie stark religiös bestimmter sprachlicher Rhetorik?
  3. Ist der Streit um den EU-Beitritt der Türkei ein religiös motivierter Identitätskonflikt, der mit einer starken Geschichtskomponente auf die Erwartungen einer mehr oder weniger homogenen, zukünftigen europäischen Identität gerichtet ist?

Können Kulturen miteinander kämpfen?

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Herkunft von kulturellem Wissen fällt auf den ersten Blick banal aus: Wissen über andere Kulturen (wie auch über die eigene, wird durch die Kultur bestimmt, die sich diese Frage stellt. Dies geschieht zunehmend durch Medien, und zwar in einem doppelten Sinn, weil die Transformation von kultureller Information in mediale Zeichen - seien dies nun Buchstaben des griechischen Alphabetes oder audio-visuelle Fernsehbilder westlicher Prägung - durch die kulturellen Verhältnisse beeinflusst werden, in denen sie entstehen. Ebenso wirken sie durch ihre jeweilige Codierung aus sich selbst heraus wieder auf diese Kultur zurück.

Als Beispiel sei China genannt: Das technisch-apparative Mediensystem ist durch kulturelle Bedingtheiten stark hierarchisiert (durch den Staat), ebenso wie es das chinesische Schriftsystem durch seine schiere Masse lange Zeit erlaubte, nur bestimmten Menschen vollständigen Zugang zu den kulturellen Techniken des Lesens und Schreibens zu gewähren. Noch nicht einmal angesprochen sind hier die möglichen unterschiedlichen Wirkungen, welche die jeweiligen Schriftsysteme auf die Menschen haben könnten, denn wenn es "Büchermenschen" und "Fernsehkinder" gibt, warum sollen dann nicht auch die differenten Arten von kulturellen Zeichensystemen Einfluss auf den Rezipienten haben?

Abgesehen von den unterschiedlichen medialen Ausprägungen und ausgehend von den oben dargelegten Thesen, dass Kultur ein (mediales) Konstrukt ist, das sich unserer Einflussnahme weitgehend entzieht, kann gesagt werden: Kultur wird im extremen Fall vom Objekt zum Subjekt. Eng gefasst informiert somit Kultur über Kultur, womit bei kulturbasierten Konflikten die These vom "Kampf der Kulturen" hier wörtlich umgesetzt ist. Die Kultur funktioniert in all ihren Dimensionen also auch als Grenze, an deren Grenzzaun kulturelle Differenzen und daraus Konflikte entstehen können. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, hat aber eine neue Qualität. Innerhalb eines Best- und Worstcase-Szenarios ist für die Zukunft alles möglich: von der gegenseitigen Auslöschung bis zur friedlichen Koexistenz von Kulturen. Das eine wäre vielleicht die Konsequenz aus der extremen Betonung des Trennenden, das andere die des Hervorhebens des Einigenden. Beides wird medial vermittelt - in wieweit dies aber steuerbar wäre, bleibt ungewiss.