Die EU muss weniger christlich werden

Beim Barte des Propheten: endlich Beitrittsverhandlungen mit der Türkei

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"Die Türken vor den Toren Brüssels" titelte kürzlich eine Zeitung, und am vergangenen Freitag ging dann wieder einmal das Abendland unter. Nächste Runde also im Türkei-Spiel, das die EU-Europäer seit über 40 Jahren mit Leidenschaft spielen. Denn seit damals möchte die Türkei in die EU. Aber viele in der EU möchten das durchaus nicht, manche mit sachlichen Argumenten, andere, weil sich auf der Türkei-Debatte wunderbar ein innenpolitisches Süppchen kochen lässt. Auch der formelle Beginn der Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union mit der Entscheidung vom vergangenen Freitag, wird die polemische Debatte nicht beenden. Darum lohnt sich noch einmal ein Blick auf die Argumente.

Am Ende wurde es offenbar sogar einmal kurz dramatisch: Für ein paar Stunden hatte der türkische Ministerpräsident Erdogan am vergangenen Freitag in Brüssel mit seiner Abreise gedroht, war im nachhinein am Wochenende zu hören. Danach erklärte er sich aber doch noch zur Unterzeichnung einer de-facto-Anerkennung der - griechisch dominierten - Teilrepublik Zypern bereit, und räumte damit das letzte Hindernis für einen Beginn der Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union aus dem Weg.

Die Diskussionen der letzten Wochen sind damit noch lange nicht vorbei. Vielleicht sind die Argumente etwas abgekühlt, doch lässt sich noch weitere 10 bis 15 Jahre - dann erst soll ein eventueller EU-Beitritt der Türkei vollzogen sein - darüber diskutieren, ob die Türken denn nun zur EU gehören, und warum, und was denn das alles für Folgen hat.

Die eigentliche Frage, um die sich die Türkei-Debatte entzündet, ist aber nicht die Definition der Türkei, sondern die Definition Europas. Europa war nie eine Frage des "Wir-Gefühls", sondern eine politische Willensentscheidung. Am Anfang in den 50er-Jahren war Europa gar ein kontrafaktisches Projekt, eine Utopie, die Länder zusammenschweißte, die zehn Jahre zuvor noch gegeneinander Krieg geführt hatten, unter anderem die beiden "Erbfeinde" Frankreich und Deutschland.

Lange Zeit danach war Europa nur eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft. "Kerneuropa" zunächst von konservativen Politikern in Deutschland und Frankreich, später dann von den Philosophen Habermas und Derrida entworfen, blieb bis heute allenfalls Wunschvorstellung, jedenfalls eine Kopfgeburt. Ob Europa jemals zu einem politisch vereint handlungsfähigen Körper wird, kann man nur hoffen. Wenn es das werden sollte, dann nur aufgrund eines politischen Willens, nicht weil geographische Tatsachen, kulturelle Traditionen, oder emotionale Zugehörigkeiten dafür sprechen. Mit der Aufnahme von Verhandlungen kann die EU wenig verlieren, potentiell aber viel gewinnen.

Immer nach dem Westen ausgerichtet

Was für einen EU-Beitritt der Türkei in gewisser Zukunft und für die Aufnahme von Beitrittverhandlungen jetzt spricht, ist sehr einfach:

1. Alles, was gegen eine Aufnahme der Türkei ins Feld geführt wird - die Menschenrechtssituation, die Lage der Frauen, die fehlende Aufklärung der Gesellschaft, die wirtschaftliche Schwäche - wird sich verbessern, wenn die Möglichkeit einer Aufnahme eine Verbesserung erzwingt. Hätte man sich ein für allemal gegen eine Aufnahme entschieden, würde dies die Türkei jedenfalls zurückwerfen, und zu einer Neuausrichtung der gesamten Gesellschaft weg vom Westen, nach Osten führen.

2. Die Türkei, schon lange NATO-Partner vieler EU-Staaten ist für die Sicherheit Europas wichtig. Gerade weil die EU an den islamischen Raum grenzt, sollte man die Türkei, eine natürliche kulturelle, soziale und geographische, und damit auch politische Brücke zu den islamischen Staaten de Nahen Ostens und Vorderasiens, integrieren.

Wer argumentiert, die Türkei gehöre nicht zu Europa, argumentiert bezogen auf die jüngste Vergangenheit, nicht auf die nähere Zukunft, und vergisst doch ausgerechnet die Geschichte. Denn dass das Land immer nach Westen ausgerichtet war, lässt sich ebenso wenig bezweifeln wie die Tatsache, dass viele Elemente der europäischen Zivilisation in der heutigen Türkei entstanden.

3. Europa ist schon heute weder kulturell, noch religiös homogen. Gerade das macht seine Offenheit aus. Ein Verweis auf eine christliche Prägung Europas hat keine reale Chance, in die Verfassung der EU aufgenommen zu werden. Ein kulturell oder religiös homogenes Europa wäre auch gar nicht wünschenswert. Religion und Politik haben nichts miteinander zu tun und sollten nicht miteinander vermischt werden. Die EU muss nicht christlicher werden, oder bleiben, wie manche in den letzten Wochen argumentierten, sondern weniger.

4. Die Türkei ist das einzige überwiegend islamische Land mit einer laizistischen Verfassung, die Trennung von Religion und Staat vorschreibt. Die Bundesrepublik ähnelt eher einem Gottesstaat, als die Türkei, denn Religion und Staat sind in der Bundesrepublik enger miteinander verflochten. Dort gibt es Religionsunterricht an den Schulen, sind religiöse Kopftücher im öffentlichen Raum erlaubt, begünstigt der Staat die Kirchen und die Religionsausübung.

5. Wer am demokratischen Pluralismus der türkischen Gesellschaft zweifelt, müsste auch an dem anderer EU-Staaten zweifeln. Denn in Italien regieren Berlusconi und die Neofaschisten, in Österreich regiert die rechtsradikale Haider-Partei. Wenn die EU solche Partner aushält, warum sollte die Türkei plötzlich eine Gefahr für ihre Stabilität bedeuten? Wenn politische Prinzipien wie Demokratie, Menschenrechte und Laizität der Maßstab für eine Zugehörigkeit sein sollen, muss man der Türkei die gleiche Chance geben, wie anderen Beitrittskandidaten.

Arbeitsplätze in der Türkei

6. Die türkische Volkswirtschaft ist derzeit - aber auch über das gesamte 20.Jahrhundert - eine der dynamischsten der Welt. Mit derzeitigen Wachstumsraten von 6 Prozent oder mehr, im Jahr 2004 sogar ca. 10 Prozent, bringen die Türken nicht nur bessere Voraussetzungen für einen EU-Beitritt mit, als die meisten im Sommer 2004 beigetretenen osteuropäischen Länder. die Türkei könnte in Zukunft zu einem Wachstumsmotor der EU werden, da Experten schon für den Fall von Beitrittsverhandlungen zusätzliche Auslandsinvestitionen voraussagen. Dann dürften viele Westeuropäer in der Türkei Arbeit suchen, nicht umgekehrt.

7. Die Türkei ist eine junge Gesellschaft. Die Demographie spricht eine klare Sprache: Im Jahr 2050 braucht die EU über 70 Millionen junge Menschen, um die vorhandenen Stellen weiterhin zu besetzen. Traditionelle Werte sind vor allem ein Thema für die Älteren. In der Türkei wächst eine moderne Zivilgesellschaft, die liberale Werte vertritt. Zum Beispiel ist in der Türkei die Ehescheidung erlaubt, in Irland und Malta nicht.

8. In der politischen Logik der EU liegt ihre Entgrenzung. Sie ist wünschenswert und voranzutreiben. Denn EU-Europa ist ein politischer Raum. EU-Mitglieder werden Staaten, die das selber wünschen - die Schweiz und Norwegen wünschen das zum Beispiel zur Zeit nicht, obwohl sie dem geographischen Europa angehören -, und die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Weder die vorgegebenen nationalen Grenzen noch externe Faktoren bestimmen, wo Europas Grenzen liegen. Langfristig werden die Grenzen der EU nicht in Europa liegen. Die Grenzen der EU liegen vielmehr dort, wo die Handlungsfähigkeit der EU und wo die verbindliche, also selbst gewählte Präsenz Europas endet. Das Europa der EU ist ein unvollendetes Projekt, ein sozialer Produktionsprozess, der vor allem auf dem Weg einer Politisierung die Europäisierung der Mitgliedsgesellschaften organisiert und vorantreibt.