Die Demokratie ist unislamisch

Ein Bündnis von aufständischen Gruppen, die eine Theokratie etablieren wollen, ruft zum Boykott der Wahlen im Irak auf

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Selbst wenn die Wahlen im Irak tatsächlich, wie von der US-Regierung geplant, am 30. Januar stattfinden sollten, so darf schon jetzt bezweifelt werden, ob sie tatsächlich die erwünschte Legitimation für eine irakische Regierung bringen wird. Während Kurden immer stärker für ihre Region die Autonomie fordern und Aufständische versuchen, Schiiten gegen Sunniten aufzuhetzen, tritt die größte sunnitische Partei gar nicht zur Wahl an und werden viele Sunniten aus Angst oder Protest die Wahl boykottieren. Die islamistischen Aufständischen haben nun hingegen eindeutig klar gemacht, dass sie keine Demokratie, sondern einen von der Religion beherrschten Staat wünschen.

Eine der Eigenarten der geplanten Wahl ist, wichtig vor allem für die US-Regierung und ihre Politik, dass zwar über 70 Parteien und Parteienbündnisse zu dieser antreten wollen, aber viele der Politiker aus Sicherheitsgründen lieber ihren Namen nicht nennen. Unbekannt ist, wie weit überhaupt die Registrierung der Wähler fortgeschritten ist. Wie in vielen Städten, allen voran dem zerstörten Falludscha, die Wahl stattfinden soll, ist mehr als schleierhaft. In der Millionenstadt Mossul, wo es seit dem Angriff auf Falludscha immer wieder zu Kämpfen kommt, sind gerade alle Wahlhelfer aus Angst vor Todesdrohungen zurückgetreten.

Das von Ayatollah Ali Sistani unterstützte größte schiitische Parteienbündnis, die Vereinigte Irakische Allianz, tritt zwar mit einem gemäßigten Programm an, verlangt aber einen Zeitplan für den Abzug der Koalitionstruppen. Intern aber soll es bereits heftige Auseinandersetzungen über die Rolle des Islam gegeben haben. Aus solchen Programmen lässt sich nicht erschließen, wie die Politik nach der Wahl tatsächlich verlaufen wird, vor allem nicht dann, wenn das Wahlergebnis von vielen Menschen nicht anerkannt wird, weil sei nicht an ihr teilnehmen wollten oder (aus Angst) konnten und die Parteienlandschaft mit ihren Programmen kaum eine wirklich begründete Entscheidung zulässt.

Zu erwarten ist aber vor allem, dass die Aktivität der unterschiedlichen aufständischen Gruppen vor der Wahl noch weiter zunehmen wird, um die Menschen von der Teilnahme abzuhalten. Auch wenn der Widerstand und terroristische Anschläge auch nach einer erfolgreichen Wahl mindestens so lange weitergehen dürften, bis die ausländischen Truppen das Land verlassen haben, so würde eine wie auch immer demokratisch legitimierte Regierung den Aufständischen einigen Wind aus den Segeln nehmen. Besonders die sunnitischen Aufständischen, die sich dem religiösen Fundamentalismus als Ideologie des Widerstands zugewandt haben, benutzen die Sorge der Menschen vor einem Übergewicht der Schiiten dazu, einen islamistischen Staat zu propagieren. Das aber dürfte allein schon die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten vertiefen.

Ganz gezielt versuchen daher Terrorstrategen diesen Konflikt zwischen den beiden größten Gruppen durch Zuspitzung auszubeuten. Osama bin Laden hat in seinem letzten Video die Muslime aufgerufen, die Wahl im Irak (und in Palästina) zu boykottieren und erneut zum Kampf gegen den "zionistischen Kreuzzug" sowie gegen ihre Stellvertreter aufgerufen. Hussein sei nicht schlimmer als Bush, das Massaker an den Kurden nicht größer als das in Falludscha. Dass er nun al-Zarkawi, bislang ein Konkurrent, zum al-Qaida-Kommandeur im Irak ernannt hat, ist auch ein Zeichen dafür, sich wenigstens noch mit den sunnitischen und aus dem Ausland kommenden Aufständischen verbinden zu wollen. Zarkawis Gruppe hatte schon länger versucht, durch Anschläge auf Schiiten den Konflikt anzuheizen. Zudem trat Bin Laden mit dem Boykottaufruf in Widerspruch zu al-Sistani, der zur Beteiligung aufruft. Die Übergangsverfassung bezeichnete Bin Laden als anti-islamisch, weil der Islam darin nicht als einzige Quelle des Rechts anerkannt werde.

Wohl auch als Reaktion auf die interne islamistische Konkurrenz haben nun die durch Anschläge und Entführungen bekannten Ansar-al-Sunna-Armee, die Islamische Armee im Irak und die Mudschahedin-Armee ein Bündnis geschlossen. Sie rufen in einer im Internet publizierten Mitteilung ebenfalls zum Boykott der Wahlen auf und warnen alle Iraker, sich an dieser "schmutzigen Farce" zu beteiligen, weil sie während der Wahl zu Zielen von Anschlägen der Mudschaheddin auf die Wahllokale und die dort Beschäftigten werden können.

Die Drohung an die irakischen Wahlbürger wird von den Gruppen offenbar mit Rückendeckung der Religion ausgesprochen. Während US-Präsident Bush den Krieg und die Besetzung damit zu rechtfertigen sucht, aus dem Irak ein demokratisches Vorbild für die ganze Region zu machen, ist Demokratie für die Aufständischen, die im Namen Gottes zu kämpfen glauben, schlicht "unislamisch", ein Modell der "Feinde Allahs". Der Kampf gegen die Besatzungsmächte wird damit auch zu einem Kampf gegen die Demokratie überhaupt, die als Staatsmodell des Feindes gilt, weil hier die Regierenden auch noch anderen Herren als Allah dienen. Der Demokratie - der "neuen Komödie der Demokratie und der freien Wahlen" - wird ganz allgemein ein islamischer Gottesstaat und der Kampf für die Gemeinschaft der Ummah entgegengestellt:

Demokratie ist ein Wort griechischen Ursprungs, das die Herrschaft des Volkes bedeutet, was heißt, dass die Menschen alles machen, was ihnen gefällt. Das Volk entscheidet, welches Gesetz gilt.

Die Demokratie sei zwar geeignet für Juden und Christen, denen ihre Religion schmutzig und tot geworden ist, aber diese "künstliche Gesetzgebung" widerspreche den "Gesetzen Allahs". Wer anders als nach Allahs Gesetzen entscheidet, sei ungläubig und kein Muslim mehr. Daher ist die Demokratie auch ein Werkzeug des Feindes, um die Menschen von der Religion und Allah zu entfernen. Interessant ist freilich, dass einer der genannten Verstöße gegen Allahs Gesetze auch von den fundamentalistischen Christen in den USA abgelehnt wird. So bestünde in einer Demokratie die Gefahr, dass die Mehrheit die "Homosexuellenehe zwischen Männern und Frauen" zulassen könnte. Das würde dann Gesetz, das dem Wort Allahs widerspricht.

Die Amerikaner, so heißt es in der Botschaft, wollen sich schnellst möglich zurück ziehen und ihre durch die Wahl legitimierten "Statthalter" zurücklassen, die sie nach ihrer Vorstellung geformt haben.

Wer heute den Erfolg der Wahlen und die Repräsentation des Volkes unterstützt, macht der Kreuzritter-Besatzungsmacht, dem Feind des Islam und dem größten Tyrannen unserer Zeit das größte Geschenk. Diese Wahl ist der größte Dolch, den man in den Rücken der Mudschaheddin stoßen kann, die ihr Blut fließen lassen, um die Stimme Allahs zu stärken.

Im Augenblick scheint kaum vorstellbar, wie unter den gegenwärtig herrschenden Bedingungen Freiheit, Menschenrechte und Demokratie zur Grundlage eines neuen Staats im Irak werden könnten. Solange Demokratie als Trojanisches Pferd der amerikanischen Besatzungsmacht erscheint und die internen Konflikte der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen maßgeblich die Haltung zur Wahl bestimmen, wird ein, wie auch immer zu bestimmender "Erfolg" der Wahlen kaum zur friedlichen Entwicklung beitragen. Auf der anderen Seite könnte ein weiteres Aufschieben die Konflikte womöglich bis zum Beginn eines Bürgerkriegs anheizen. Die Gefahr, dass im Gegenzug zur amerikanischen Intervention keine Demokratie, sondern ein Gottesstaat oder auch mehrere Theokratien die Diktatur ablösen und zum "Vorbild" der Region werden könnten, ist gegeben. Militärisch alleine lässt sich dieses Dilemma nicht lösen, sondern es wird nur, wie bereits geschehen, verstärkt.