Die politische Rebellion der Erlebnisse

Zum Vermächtnis von Susan Sontag

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Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag ist am 28. Dezember 2004 in New York im Alter von 71 Jahren gestorben. Als Ursache wird ein langwieriges Krebsleiden angegeben, das Ende der 80er Jahre überwunden schien. Über diese Begründung für ihren Tod hätte Susan Sontag, die furiose Autorin von "Krankheit als Metapher" in schmerzlicher Souveränität gelächelt: Der Terminus "langwieriges Leiden" umschreibt wenigstens schlussendlich ein Schwachwerden und Unterliegen im Kampf um die Erhaltung des eigenen physischen Lebens. Gegen solche persönlichen, psychologischen Zuschreibungen hat sich Susan Sontag immer wieder, auch im Namen von Millionen Patienten, gewehrt. Bis zuletzt war die Autorin mit ihrer eindringlichen Stimme der Weltöffentlichkeit präsent, gerade auch deshalb, weil sie Unangenehmes und Unbequemes für alle politischen Lager zu sagen wagte.

Wie eine Löwin hat Sontag in ihrem bis zuletzt ungebrochenen intellektuellen Enthusiasmus gegen ideologische Barrieren und einlullende Interpretationen angeschrieben. Auch gegen angebliche "Sinngebungen" der bisher nur partiell erforschten Krankheiten "Krebs" und "Aids", gegen die biopolitischen Vorurteile und Repressionen, Kurzschlüsse und Widersprüche von Forschern, Ärzten, Kulturkritikern und Politikern.

1977, in ihrer ersten Abhandlung über "Krankheit als Metapher" stellte Sontag heraus, dass insbesondere beim "Krebs" auch eine militärische Metaphorik mitspielt: der Zustand "äußerster Mobilisierung", die "Explosivität eines unkontrollierten Zellwachstums", das Ineinander von "Angriff und Verteidigung", von "Schwächung und Resistenz", eine "Schlacht" auf allen Ebenen, der biologischen, der begleitenden medizinischen, der seelisch-geistigen und der sozialen Dimension.

Die Frage ist, wer für den Krieg und seinen Ausgang verantwortlich ist: die Wissenschaft, die Gesellschaft oder der einzelne, der den Kampf gegen seine individuelle Auslöschung oft allein gelassen führt.

Gegen die Repression vorschneller Interpretationen

Sontag gelang es, Offenheit und Aufrichtigkeit anzumahnen in den Begrifflichkeiten, Deutungen und praktischen Konsequenzen der privaten und öffentlichen Vorsorge und Therapie, in der aktuellen und zukünftigen Gesundheitspolitik weltweit. Eindrucksvoll hat Sontag die Gefahr dargelegt, die darin besteht, nur die Verwandten einzuweihen, aber den einzelnen Patienten zu desinformieren und zu belügen, ihn mit Scheinhoffnungen und Pseudotherapien abzuspeisen, oder die darin liegt, sogenannte Minderheiten zu diskriminieren, die heilsame Nüchternheit in jedem einzelnen Falle zu verdrängen durch psycho-moralische Begrifflichkeiten der "grenzenlosen" Leistungsfähigkeit und des anrechenbaren Versagens des kranken Individuums, durch das Wühlen in verdeckter "Scham" (Krebs) und angeblich offener "Schuld" (Aids) , durch die Festschreibung eines trügerischen Wohlstands- und Hygiene-Gefälles zwischen reichen und armen Ländern und durch die fortschreitende Ausklammerung des im Kapitalismus weithin tabuisierten Todes. 1988 schrieb eine glückliche, eine gelöste Susan Sontag in "Aids und seine Metaphern":

Was mich vor zwölf Jahren, als ich selber Krebs bekam, am meisten erbitterte – und zugleich von meiner Angst und Verzweiflung über die düstere Prognose der Ärzte ablenkte – , war die Erkenntnis, wie sehr der Ruf dieser Krankheit das Leiden der an ihr Erkrankten verschlimmert. ...

Und so schrieb ich denn mein Buch – in fliegender Hast angetrieben von missionarischem Eifer und von der Ungewissheit, wieviel Zeit mir noch bleiben würde zum Leben und zum Schreiben. ...

Mein Buch wollte die Phantasie beruhigen, nicht sie aufreizen; nicht Bedeutung stiften, was sonst Ziel des Schreibens ist, sondern etwas seiner Bedeutung entkleiden: Es sollte die Don-Quichottehafte, polemische Strategie der Gegen-Interpretation auf die wirkliche Welt selbst anwenden. Auf den Körper. ...

Was einen umbrachte, waren nach meiner Überzeugung die Ammenmärchen und Metaphern rund um den Krebs ...

Ich wollte anderen Menschen – Kranken und Angehörigen – ein Instrument an die Hand geben, um diese Metaphern zu durchschauen und diese Hemmschwellen abzubauen. ...

Sie sollten Krebs einfach als Krankheit betrachten lernen – eine ernste Krankheit, aber eben eine Krankheit, weder Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne Bedeutung. Und nicht zwangsläufig eine Krankheit zum Tode ...

Seit der Niederschrift von Krankheit als Metapher ist ein Jahrzehnt vergangen, ich bin, entgegen der pessimistischen Prognose meines Arztes, von meinem Krebs geheilt worden, und die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Krebs hat sich gewandelt. Krebs zu bekommen gilt nicht mehr als Stigma, als Auslöser einer beschädigten Identität ...

Das Wort Krebs wird unbefangener ausgesprochen, und in den Todesanzeigen ist nicht mehr verschämt von langer schwerer Krankheit die Rede.

Der "physische Sieg" über die Krankheit war nur vorübergehend. Aber der geistig-seelische Mut, die Krankheit ohne die Metapher zu leben, ist ungleich imponierender. Wer Susan Sontags Ausführungen ernst nimmt, sollte auf Formulierungen verzichten wie: "Mit ihrem Tod verliert..." Angemessener heißt es dann: Mit ihren Tod behält die gebildete Welt das Werk einer brillanten Intellektuellen, bedeutenden Autorin und luziden Analytikerin, die vor allem als streitbare und wegweisende Essayistin bekannt wurde.

Freilich ist der Ansatz Susan Sontags noch umgreifender, als es viele schleunige Nachrufe jetzt suggerieren: Susan Sontag wollte weder auf eine biopolitische Märtyrerin noch auf "die moralische Stimme Amerikas" reduziert werden. Auch diese biedere, philiströse Bedeutungszuweisung wird ihrer komplexen Leistung für eine Kultur im digitalen Zeitalter keineswegs gerecht. Susan Sontags Vermächtnis enthält u.a. eine erstaunlich frühe und konsequente Entfaltung einer Theorie medialer und ästhetischer Aufmerksamkeit der Moderne und Postmoderne. Diese Theorie wird jedoch kaum in positiver Form, auch nicht als kanonisches Lehrstück serviert, sondern als negative ästhetische Kritik vorgefertigter Wahrnehmungen, überkommener Themen und überlieferter formaler Muster, als entschiedene Destruktion vermeintlich fixer Kategorien und moralisch-politisch "korrekter" Einengungen kreativ-komplexer Wahrnehmung.

Der Einfluss der klassischen Moderne

Susan Sontags Schreibweise bündelt die dialektische Spekulationskraft einer europäischen Tradition von Religion, Philosophie, Musik und Literatur mit dem breiten Panorama der liberalen Kunst und Kultur der USA der 60er Jahre: In urbaner Selbstverständlichkeit saugt die 1933 in New York geborene Autorin als junge hochbegabte jüdische Intellektuelle die vielfältigen Einflüsse der schon klassisch gewordenen Moderne auf: die beeindruckende, immer wieder neu interpretierbare Geschichte der Fotografie zwischen reinem Massenphänomen, individuellem Kunstanspruch und medialer Erforschung der Alltagswelt. Der Kurswechsel der bildenden Kunst aus der akademischen Malerei hin zur respektlosen, inbrünstigen Arbeit am Material und an der öffentlichen Kommunikation zwischen Pop-Art, abstraktem Expressionismus, Action-Painting, Collage oder Assemblage. Und vor allem im interaktiven, die Trennung von Kunst und Publikum überwindenden Happening, als der "Kunst des radikalen Nebeneinanders".

Die Experimente der seriellen und aleatorischen Musik von Varèse, Stockhausen, Nono und Cage, die damalig avancierte Filmkunst, vor allem der französischen Novelle Vague mit ihrem literarischen Duktus bei Godard und Truffaut, aber auch die Trash-Katastrophen-Streifen aus Japan oder die zwischen Historienschinken, Melodram und Action schwankenden B-Produkte eines stilunsicher gewordenen Hollywood. Die Ansätze einer modernen Literatur eines depersonalisierten, medialen Bewußtseins, das sich vom Klischee eines simpel moralisierenden Erzählens im Sinne des bürgerlichen Realismus biographisch nachvollziehbarer Personen entzieht. So in den experimentell auf Zitat und Montage hin angelegten amoralischen Figuren und Werken bei Joyce, Sartre, Beauvoir, Genet, Camus, Gertrude Stein, Burroughs. Als theoretische Kronzeugen ihrer eigenen philosophisch-ästhetischen Position führt Sontag etwa an: Nietzsche, Artaud, Buckminster Fuller, Marshall McLuhan, Breton und Roland Barthes.

Der Essay als Gedankenfluss der Erlebnisweisen

Susan Sontags Essays legen den Beweis ab, was man unter einem Erlebnis, einer lebendigen und gesättigten, dabei vielseitig und vielschichtig strukturierbaren und ausformulierbaren Erfahrung verstehen kann. Es geht ihr um die präzise Bestandsaufnahme von Erlebnisweisen, sogenannten "sensibilities". Sontag führt dem Leser vor Augen, wie sie alltägliche und künstlerische Ereignisse authentisch zunächst mit allen Sinnen "erfasst", sie vorläufig "aufzeichnet" und probeweise kategorial "verarbeitet".

Aber das dabei entstehende "gedankliche Modell" ist eher die Landschaft eines Ereigniszusammenhangs, eine Serie von Erfahrungen. Diese Topographie wird ihrerseits oft im argumentativen "Gedankenstrom" der Essays wieder aufgelöst, der Leser gerät ins Schwimmen, und er muss für sich entscheiden, wo er das mögliche rettende Ufer, das aussichtsreiche Resultat oder die Insel eines vertretbaren Zwischenergebnises ansetzt und wie er sie erreicht.

Die Befunde werden zunächst scheinbar trocken und umständlich zerlegt und beschrieben, gegeneinander verglichen und abgewogen. Doch der aufscheinende Gesamteindruck einer kohärenten Kartographie wird zerrieben, der aufmerksam entziffernde Leser wird in einen Strudel der Ansichten, Perspektiven, Routen, Irrwege gezogen, in ein Labyrinth von Definitionen und Bedeutungen gelockt.

Wer nicht nur mechanisch liest, wird gewahr, dass Susan Sontag in den vermeintlich schlichten Phänomenen und Ausgangs-Behauptungen von Tatsachen und Zusammenhängen, jenen ersten analytisch verknappten Thesen oder Ankündigungen, bereits eine Welt verschiedenartiger sprachlich-poetisch ausformulierbarer Positionen anlegt, eine romanhafte Fülle von sich gegenseitig durchkreuzenden oder überlagernden Anspielungen und Sinnebenen. Sie alle stehen in jedem einzelnen Essay radikal zur Diskussion.

Die drei Erlebnis-Funktionen der Kunst: Klassik, Moderne, Camp

Susan Sonntag hat einen neuen, umfassenden Blick auf die vielschichtige Funktion von Kunst in der industriellen und postindustriellen Moderne geworfen. Sie gesteht der Kunst erstens die klassische Funktion zu, in meisterhaften Werken den anschaulich-symbolischen Kanon des Wahren, Schönen und Guten in voller Ernsthaftigkeit zu verkörpern. Die Kunst vertritt hier, von Homer bis Dante, von Bach bis Beethoven, die zivilreligiöse Dimension eines optimistischen Glaubens an Moral und Ethik und zwar in der in der historisch gelungenen, öffentlich anerkannten Deckung von Absicht, Ausführung und Wirkung, der idealistischen Harmonie von Moral und Ästhetik.

Zweitens: In der Moderne (seit der Romantik, oder schon seit dem Manierismus) wird die Ernsthaftigkeit der Kunst durch "Überdehnung des Mediums", durch Einführung destruktiver und negativer Komponenten auf eine dunkle, stillschweigend gesellschaftskritische, pessimistische Seite gewälzt. Hier herrschen Spannung und Widerstreit "zwischen moralischer und ästhetischer Leidenschaft". Die Erlebnisweise der Moderne ist von der rückhaltlosen Identifikation mit extremen Gefühllagen, "Qual, Grausamkeit und Wahnsinn", geprägt. Dies führt zur Erfahrung, dass Ästhetik nicht mehr in einer handwerklich regelhaften Kunstproduktion, sondern nur noch als Prozess einer langwierigen, diskursiv reflektierten Arbeit, in der allgorischen Inkongruenz von Absicht und Wirkung, im Fragment und in der modellhaften Abstraktion realisierbar ist. Exponenten dieser Richtung sind Bosch, de Sade, Rimbaud, Kafka und Artaud.

In einer dritten, von der Postmoderne erst völlig zur Entfaltung gebrachten "Funktion", im "Camp" wird das Ästhetische endgültig vom Moralischen und Tragischen abgetrennt und völlig zur Rezeptionsleistung des Betrachters und Konsumenten am beliebigen Gegenstand, am Objet trouvé oder dem Ready Made subjektiviert. "Camp" ist die souveräne Erlebnisweise des reinen Ästhetizismus, der über die gescheiterte, nicht mehr einlösbare Ernsthaftigkeit der Metaphysik einer objektiven Moral, einer verbindlichen Kunst oder eines bestimmten modischen Stils triumphiert, die spielerische, anti-seriöse, frivole "Entthronung" des Ernstes, seine elegante Theatralisierung, der "Sieg" des freigesetzten Stils über den Inhalt, der Zerfall der Grenzen zwischen den Gattungen und Genders, Niveaus und Nuancen. Das so endlos erweiterte ästhetische Feld kann nun vom Individuum im Umfeld der neuen mechanischen Aufzeichnungsmedien selbst rekonstituiert werden.

Mit dem "Camp" zieht der nach-aristokratische Dandy (ein urbanisierter Friedrich Nietzsche und ein warholisierter Oscar Wilde, der immerhin den Wilden Westen besucht hat) in das Zeitalter der Massen- und Medienkultur. In deren populistischen Idolen und Fetischen kehren die ästhetischen Mechanismen der älteren Kunst als banale Formalitäten der Gegenwart wieder. Camp ermöglicht eine ironisch-paradoxe, unter dem Vorbehalt von Illusion und Desillusion stehende Aufmerksamkeitsleistung im Zeitalter der analogen Reproduzierbarkeit und digitalen Virtualität: Die ästhetische Wahrnehmung wird befähigt zum ausgefallenen, außergewöhnlichen, extravaganten Blick auf die Vergänglichkeit aller Wertschöpfungen, ihrer Auf- und Abwertungen.

Es geht ihr um das widersprüchliche Parlando, das Neben- und Ineinander der Stile und Inszenierungen, auf die kuriosen Details der vorgeblichen Ereignisse und wahllosen Erlebnisse der Massenkultur (die wie beiläufige, dabei hinreißend ausgespielte Selbstparodie von Anita Ekberg als Skulptur der Venus im Trevi-Brunnen in Fellinis "La dolce vita").

Die Wahrnehmung durchstreift in äußerster Freiheit das real existierende surrealistische Theater, das gesamtgesellschaftliche oder globale Happening: Der Camp-Dandy erlebt die Künstlichkeit, das scheinhaft Artifizielle der alten Kunst wie der neuen kulturellen Umwelt in aller Deutlichkeit und Prägnanz, durch die beschleunigte Konfrontation und Verzahnung von Distanz und Nähe, Information und Entropie, Ritualisierung und Veralltäglichung, künstlerischem Hochgenuss und endlosem Konsumabfall.

Dabei verfolgt der Camp-Jäger das Abenteuer der Massen- und Medienkultur auf fast "übergeschnappte" Weise. Und er scheut sich auch nicht auf die Ästhetik des "faszinierenden Faschismus" einzugehen, wie es Sontag in ihrer Würdigung der Riefenstahlschen Film- und Fotoästhetik hyperreal schöner Körperinszenierungen tat. Die Aufmerksamkeit des Camp trennt sich von dem engen Wertungsschemata der beiden vorherigen Erlebnisweisen. Die neue Aufgeschlossenheit wird zum reinen Spiel maximiert, zwischen Genuss, Überdruss und Ekel angesichts der vermeintlichen medialen Vielfalt in moralischer und politischer Unverbindlichkeit. Auf diese Weise bringt Camp die Grundfunktion der Kunst als Medium der individuellen Erlebnisfähigkeit und sozialen Inszenierung von Aufmerksamkeit zur höchsten Entfaltung:

Die Kunst der Gegenwart ist ein neues Instrument ... zur Modifizierung des Bewusstseins, und zur Entwicklung neuer Formen des Erlebens. ... Sinneswahrnehmungen, Gefühle, die abstrakten Formen und Stile der Erlebnisweise sind es, die zählen. ...

Eine solche Kunst ist ihrem Wesen nach experimentell – nicht auf Grund einer elitenhaften Verachtung für das, was der Mehrheit zugänglich ist, sondern in dem gleichen Sinne, in dem auch die Naturwissenschaft experimentell ist. ...

Welche andere Reaktion als Qual, gefolgt von Betäubung, von Ironie und schließlich von der Erhebung des Verstandes über das Gefühl ist möglich angesichts des gesellschaftlichen Chaos und der Massengreuel unserer Zeit und ... des beispiellosen Wandels in dem, was unserer Umgebung beherrscht, sei es nun verständlich und sichtbar oder nur schwer verständlich und unsichtbar?

Odysse zwischen Ästhetik und Politik

Immer wieder geht Susan Sontag auf der Suche nach Erfahrungen den unbequemen, unangepassten und kontroversen Weg zwischen Ästhetik und Politik: Sie reist in das Hanoi des Vietnamkriegs, sie verbringt wiederholt und längere Zeit im tödlich belagerten Sarajewo. Sie ist eine der ersten amerikanischen Stimmen, die sich während eines Aufenthalts in Berlin anlässlich des 11. September 2001 nicht auf den Betonpatriotismus einstimmen lässt. Sontag greift sogar an: Die Anschläge auf New York und Washington seien keine Bedrohung der Zivilisation und der westlichen Freiheit, sondern eine konkrete Folge der einzelgängerischen Supermacht-Außenpolitik der USA. Schmähungen und Morddrohungen der patriotischen Gegenseite folgen.

Zurück in New York durchquert sie "die Trümmerberge dieses qualmenden, übel riechenden … Massenfriedhofs". Wieder eine Erfahrung, die Umdenken bewirkt. Sie schwächt die anfängliche politische Rhetorik ab und plädiert für eine gezielte "militärische Antwort", nicht aber für einen endlosen Krieg. Vom prinzipiellen Pazifismus einer dogmatischen Linken ist sie immer wieder abgewichen: Den militärischen Eingriff des Westens in Jugoslawien angesichts des Völkermordes in Bosnien sieht sie, auch durch ihre Erfahrungen vor Ort, als längst überfällig an. Bei einer Ehrung in Jerusalem im Mai 2001 übt sie Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Im Oktober 2003 geht der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an sie für ihr episches und vor allem essayistisches Werk, das sie mit dem jüngsten Essay zur Kriegsfotografie "Das Leiden anderer betrachten" aktualisiert hat und dem im Kontext ihrer aktuellen politischen Interventionen ein programmatisches Gewicht zukam.

Dennoch ist die ihr zugeschriebene vage Rolle der"Botschafterin" eines aufrichtigen Dialoges zwischen den politisch immer weiter auseinanderdriftenden Kontinenten "in einer Welt der gefälschten Bilder und der verstümmelten Wahrheiten" (so der Urkundentext), zu direkt auf Europa und seine Selbstbestätigungsbedürfnisse zugestrickt. Sontags Rüge in der Frankfurter Paulskirche an Bushs Kriegspolitik in Afghanistan und im Irak und am demonstrativ abwesenden US-Botschafter Daniel Coates war in der Sache richtig, kam aber wie auf Bestellung.

Politik als Krieg asymmetrischer Bilder

Die vom Militär gesteuerte Bildproduktion beruht auf der Asymmetrie der modernen Kriegführung. Dieser negative Kontext oder "negative Horizont" (Paul Virilio) macht die entsprechenden Bilder von Kriegsvorgängen und -ereignissen zu Realabstraktionen, die der Kriegsführung und Propaganda höchst dienlich sind. Mit der entsprechenden Argumention der Asymmetrie und der zunächst außermoralischen Rolle des Bildkonsumenten und dem dabei unterdrückten Recht der Opfer, Verlierer und Unterprevilegierten hat sich Susan Sontag in ihrem Essay "Das Leiden anderer betrachten" (2003) näher auseinander gesetzt.

In diesem Kontext ist auch ihr letzter großen Einspruch zum Skandal über die Folter im Gefängnis von Abu Ghraib (2004) zu verstehen. Mit großer Treffsicherheit stellt sie die Rolle der Veröffentlichung der digitalen Folterbilder (die die Soldaten zum "internen Gebrauch" aufnahmen) zwischen politischem Skandal und eigentümlichem visuellen Dementi durch das Verteidigungsministerium heraus.

Für eine politisch-mediale Grammatik des Fern-Mitleids

Sontags These: Der passive, undistanzierte Konsum des industrialisierten Bilderstroms der Fotografie, des Fernsehens und des Internet kann das Wahrnehmen, Begreifen und Erkennen realer Geschehnisse und Vorgänge unter bestimmten Umständen verhindern oder massiv beeinträchtigen. Die Fotografie ist in dieser Rezeptionshaltung, wie Sontag es bereits in ihrem frühen Fotoessay "In Platos Höhle" in den 60er Jahren ausführte, ein "Abklatsch der Erkenntnis", ein "Abklatsch der Weisheit". Damals argumentierte sie:

Und niemals kann fotografisches Beweismaterial Ereignisse konstruieren, genauer gesagt: identifizieren; der Betrag, den die Fotografie leistet, erfolgt immer erst, nachdem ein Ereignis als solches definiert wurde.

Die Voraussetzung für eine moralische Beeinflussung durch Fotos ist die Existenz eines relevanten politischen Bewusstseins. Ohne die politische Dimension wird man Aufnahmen von der Schlachtbank der Geschichte höchstwahrscheinlich nur als unwirklich oder als persönlichen Schock empfinden.

In ihrem neuesten Essay entfaltet sie eine differenziertere Position zur reflexiven Betrachtung gerade politisch relevanter Fotos: Die aktive, einfühlsame und auch wieder distanzierte Betrachtung gerade von Kriegs- und Greuelfotografien (und Filmen) ist ethisch und politisch nicht nur gerechtfertigt, sondern gegebenenfalls zwingend erforderlich. Zumal, wenn die Fotos bei wichtigen Ereignissen an historisch oder geographischen ferngerückten Schauplätzen aufgenommen wurden, die "uns" scheinbar nicht unmittelbar zu betreffen scheinen. Die sogenannten Unbeteiligten sollen sich eine konkrete Vorstellung von den wahren Vorgängen machen und durch das in gewisser Weise abstrahierende Medium Fotografie eine erlebnisförmige Anschauungsform von den unerträglichen Auswirkungen von Krieg, Gewalt und Elend bilden, eine glimpfliche, stillstehende Abbreviatur jener grauenhaften Erfahrung, die für die davon Betroffenen unvergleichlich brutaler, endgültiger und tödlicher ist. Auf diese Weise sollen die privilegiert vom Krieg Verschonten sich einen Platz, einen Topos in der eigenen ästhetischen Imagination und moralischen Urteilskraft schaffen, um die wirklichen und möglichen katastrophalen Erlebnisse der anderen mittelbar nachzuvollziehen und solidarisch mitzuvergegenwärtigen und mitzuerinnern.

Dabei geht es um schrittweise Lernprozesse der individuellen Anteilnahme und des sozialen Involviertwerdens, nicht um religiöse oder kollektive Bekehrungserlebnisse, die ihrerseits Political-Correctness-verdächtig wären. Auf diese Weise kann sich, über den Wechsel von rationalen Einsichten und irrationalen Schocks, überhaupt erst ein erweitertes politisches Bewusstsein jenseits des bisherigen eigenen Horizontes, jenseits der narzisstischen Beschirmung durch die Medien und durch den privilegierten Wohlstand herausbilden.

Gemäß Susan Sontags Logik des wahrheitsorientierten Erlebnisweise einer schmerzlich zerrissenen Modernität und der grenzüberschreitenden (anti-) ästhetischen Rigorosität des Camp müssen hierbei die ideologischen Regeln des klassischen "guten Geschmacks" der etablierten Kultur und der Medien (hinter denen staatliche Zensurmechanismen stehen) durchbrochen werden. Bei dem Anschauen solcher Fotos (und Videos) des Leidens anderer muss der Betrachter sich in eine Tabuzone vorwagen, um die Dimensionen und Grenzen seiner eigenen Rezeptionsfähigkeit durch ein Bündel recht unterschiedlicher Handlungen auszuloten: Zwischen Annäherung und Distanzierung sollen die Bilder offenen Auges in allen ihren grausamen, erschütternden und erschreckenden Details betrachtet werden, das Leiden aller Menschen, die Entwürdigung der Opfer und der Verlust der Würde bei den Tätern sollen solidarisch nachempfunden werden.

Es geht um die reflexive Konstruktion eines komplex ausbalancierten (positiven oder negativen) Mitgefühls für zur Verantwortung ziehbare Individuen, um die Ergänzung der visuellen Information einer fotografisch erfassten Situation durch einfühlsam unterstellte Haltungen und Motivationen, Freiheiten und Zwänge, nicht um banales Mitleid entweder für diese und Schuldzuweisungen für jene Partei. Es gilt aber auch, den realen dokumentarischen oder möglicherweise nur inszenierten Status der Aufnahmen kritisch zu überprüfen, die abgebildeten Vorgänge durch weitere textliche und visuelle Quellen im militärischen, politischen und sozialen Kontext genauer zu rekonstruieren.

Für eine Zeit lang soll die ideologisch vorgegebene Perspektive von Freund und Feind, Gut und Böse auszgeblendet werden, um den absurden "Sinn", die brachiale "Dynamik", die von allen Beteiligten und allen Parteien anscheinend in die Situation gelegt oder gerade verweigert werden, "aufzubrechen", "aufzuhellen", zu "erklären" oder "verständlich", nicht aber akzeptabel zu machen (als symmetrisches, asymmetrisches Kriegsgeschehen, Folter, Exekution, Gewalttätigkeit, Aufstand, Terroranschlag, angedrohtes oder vollzogenes Opferritual mit Videobotschaft, Rache, Gegenwehr, Eskalation, Sündenbock-Strategie, Panik-Aktion und –Reaktion etc.).

Und schließlich: Zwischen dem realen Geschehen vor Ort, das die Bilder ausschnitthaft wiedergeben, und der Lebenswelt im eigenen politischen System sollte ein praktischer Transfer durch Einsicht und Engagement hergestellt werden.

Gegen die Verführungskraft voreiliger Identifikationen

Fotografische Bilder aus Krisengebieten bieten durch zeitliche Fixierung, Anschaulichkeit, Detailliertheit, Ambivalenz und Ergänzungsbedürftigkeit ein handlungsentlastendes Medium für das einfühlsame Erlernen einer reflexiven Bildrezeption, die die Chance für die Entwicklung einer differenzierten Beobachter- und Betrachterrolle bietet, als Medium des Erlebens von ethisch und politisch relevanten Ereignissen, bis hin zum Extrem von organisierter Grausamkeit von Gewalt und Krieg im globalen Maßstab.

Emotional hat der Betrachter dabei der Verführungskraft von voreiligen, personalistischen oder gruppenbezogenen Identifikationen zu widerstehen. Er sollte standhaft gegenüber der Laszivität des Grauens oder den sich anbietenden Hassprojektionen bleiben, er sollte sich weder einem politisch oder ethisch unreflektierten Mitleid hingeben noch der persönlichen Verständnislosigkeit, Angst und Abwehr verfallen, angesichts des Kreislaufs von unmenschlichen Qualen, Terror, Entwürdigung und Tod.

Andererseits sollte er Sorge tragen, dass die beobachtende Distanz nicht zu groß wird, damit seine Rezeptivität und Teilnahme aktiv bleibt und nicht Gleichgültigkeit umschlägt: etwa in Abstumpfung durch Bildkonsum oder seine Ästhetisierung zum diffusen Medien-Spektakel.

Der entscheidende Appell, den Sontag mit der aktiven und reflexiven Rezeption von politisch relevanten Fotos und ihrer Extremform von Kriegs- und Greuelfotos verbindet: Sie sollten, gemäß ihrer essayistischen Methodik, nicht nur rein ästhetisch-simulativ oder privatistisch-sentimental betrachtet werden, sondern als modellhafte Angebote einer erweiterten Erlebnisform in politisch-praktischer Absicht – als im eigenen und fremden Interesse bejahte visuelle Eingriffe und Verunsicherungen der bisher asymmetrisch privilegierte Position des Konsumentenzuschauers, der in seinem Wohlstands-Universum die Gegenwelt zur flüchtigen Elendsbühne auf dem Monitor degradiert.

Denn die "erste" Welt wird langfristig nicht mehr definitiv von eigener oder fremder Unterdrückung, Armut und Verelendung unberührt bleiben. Die anschauliche Rezeption der Bilder soll das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit des Konsumenten stabil mit den Orten des vermeintlichen Fremdgeschehens verknüpfen, um zu einer "Horizontverschmelzung" (Gadamer) zu gelangen, in der der Betrachter sich als Teil einer globalen Politik und in der bestenfalls kritisch reflektierbaren Differenz der wirklichen Ereignisse und ihrer hochselektiven Berichterstattung versteht.

In Sontags Analytik von Aufmerksamkeit und Erlebnisweise gelangt der Betrachter der Bilder des Leidens anderer erst durch Reflexion auf die Bedingtheit seines eigenen Erlebens zum unsentimental-praktischen Nachdenken darüber,

wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden und wie diese Privilegien – auf eine Weise, die wir uns vielleicht lieber gar nicht vorstellen mögen – mit ihrem Leiden verbunden sind, insofern etwa, als der Wohlstand der einen die Armut der anderen zur Voraussetzung hat – das ist die Aufgabe, zu deren Bewältigung schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls die Initialzündung geben können.

Konsequenterweise hat Susan Sontag (SZ, 24.5.2004) zuletzt am Folterskandal im Abu-Ghraib-Gefängnis den medialen Aspekt des Kampfes um die Bildpublikation hervorgehoben: Die verantwortliche US-Regierung zeige sich vorgeblich "schockiert und angewidert" von den Aufnahmen des ganz normalen GI-Foto-Folter-Tourismus, "gerade so, als ob diese Bilder selbst das Entsetzliche wären und nicht das, was sie zeigen". Dass das Leiden der fremden, irakischen Opfer und ihr Anspruch auf Aufklärung und Wiederherstellung der Gerechtigkeit gerade nicht im Mittelpunkt der offiziellen Debatte stand, verstand sich beinahe von selbst. Die systematische Vertauschung von Bild und Ereignis wäre für die frühe, auf den Vietnam-Krieg bezogene, realistische Foto-Essayistin der 60er Jahre noch eine unausdenkbare Kategorie gewesen. Für die simulative Netz-Propaganda des Pentagon ist die Resistenz der global zirkulierenden Bilderströme gegen die Lokalisierung von politischer Vernunft und solidarischer Ethik nur der Ausdruck des unbedingten, blinden Willens zur hegemonialen Macht.