Das Netz

Was hat Computertechnik mit Hippiekultur, was hat die Mathematik des 20. Jahrhunderts mit Terrorismus, was hat die Bewusstseinsforschung der 50er Jahre mit Paranoia zu tun?

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Lutz Dammbecks Dokumentation "Das Netz" entwirft ein komplexes, jederzeit fesselndes, kulturhistorisches Netzwerk über die Beziehungen zwischen Wissenschaft, 60er-Gegenkultur und 90er-Internetszene. Ausgangs- und Rückzugspunkt seiner offenen Untersuchung ist die Geschichte des rätselhaften, für viele immer noch faszinierenden "Unabombers", der zwischen 1978 und 1995 mit Briefbomben drei Menschen tötete und 23 verletzte (Bomben aus der Wildnis).

Die Hütte des Einsiedlers

Im Wald beginnt es, und in einem gewissen Sinn kehrt Lutz Dammbeck ("Dürers Erben", "Das Meisterspiel") immer wieder dorthin zurück. In den Wald zurück wollte schon Henry David Thoreau (1817-62) die Amerikaner bewegen, zu einer Zeit, als viele ihn noch gar nicht verlassen hatten. Thoreaus Buch "Walden oder das Leben in den Wäldern" wurde bereits zu Lebzeiten seines Verfassers zu einem Kultbuch der Antitechnik-Bewegung.

In den 60er Jahren entdeckten es die Hippies in und außerhalb von Kalifornien. An der US-Westcoast saß zum Beispiel Steward Brand LSD-bedröhnt auf einer Dachterrasse in der Sonne, als ihm die Idee zum "Whole Earth Catalog" kam, das in den folgenden Jahren schnell zu einem Kultbuch seiner Generation wurde. In dieser Art Versandkatalog für alternative Lebensformen entwickelt Brand die Vorstellung einer Neuerfindung der westlichen oder überhaupt der menschlichen Zivilisation.

Im Wald, irgendwo in Montana, landete auch der Thoreau-Leser Ted (eigentlich Theodore John) Kaczynski. Der einst hochbegabte Mathematiker und Harvard-Absolvent hatte sich dort Anfang der 70er Jahre ein Haus gemäß Thoreaus Prinzipien gebaut, und lebte dort nun ohne Wasser und Strom seinen höchstpersönlichen amerikanischen Traum. Im Jahr 1996 wurde er verhaftet, und sitzt seitdem ohne Hoffnung auf Entlassung in einer amerikanischen Gefängniszelle.

Ted Kaczynski nach der Verhaftung

Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft und Gericht sind überzeugt, dass es sich bei Kaczynski um den legendären "Unabomber" handelt. Dieser - laut FBI - "intelligente Einzeltäter" verübte zwischen 1978 und 1995 per Briefbomben eine umfangreiche Attentatsserie, die sich vor allem gegen Wissenschaftler und Chefs von Fluggesellschaften richtete (der Name ist ein Kürzel für University und Airlines). Drei Menschen wurden dabei getötet, 23 verletzt. Kaczynskis Gedanken, sein Schicksal und die weiterhin offenen Fragen, die es begleiten, bilden den Ausgangspunkt der Recherche des Dokumentarfilmers Lutz Dammbeck.

Aufbruch, Pop, Revolte

Soviel Zukunft war nie wie Ende der Sechziger Jahre. "Change Now!", lautete die Parole der Aufbruchsbewegung. Pop und Revolte verbanden sich zur Hoffnung, dass alles möglich wäre, dass Friedrich Nietzsches Forderung "Werde, der Du bist!" in einer Welt, in der jeder ist, was er sein will, Wirklichkeit werden könne.

Kunst und Leben verbanden sich etwa in der New Yorker Multimediaszene. Einer ihrer Schlüsselfiguren ist John Brockman. Der heutige Agent für Wissenschaftsliteratur, in dieser Position einer der wichtigsten der Welt und im Hintergrund der maßgebliche Popularisierer der Medientheorie der 90er, gründete vor ca. 40 Jahren das "expanded cinema festival", in dem Kunst gezeigt wurde, die mit technikbasierten Medien experimentierte. Computer und Kunst vermischten sich in diesen, schnell Breitenpopularität erlangenden Werken. Die entsprechenden Theorien lieferten Marshall McLuhan, Norbert Wiener und die von ihm in den 40er Jahren begründete neue Wissenschaft der Kybernetik. "Das Ergebnis war eine totale Neuordnung der Sinne. Man wusste nicht, was man sah", erinnert sich Brockman im Gespräch.

John Brockman bildet gewissermaßen den Nukleus von Dammbecks Film. Bereits dieses erste Gespräch spinnt all die Fäden, die der Filmemacher in den folgenden eineinhalb Stunden weiterverfolgt. Der erste ist Steward Brand. Der ist nämlich nicht nur der Verfasser des "Whole Earth Catalog". Er ist auch der Erfinder des Begriffs "personal computer", und installierte in den 80er Jahren das erste alternative Computernetzwerk der Welt. Ein Jahrzehnt später war er Berater der kalifornischen Computerindustrie. "Wie kommen Computer, LSD, und Hippies zueinander?", fragt Dammbeck. Die Antwort: Computer und Drogen begreifen das Bewusstsein als offenes System; die Bewusstseinserweiterung durch Drogen, wie das Verschmelzen von Mensch und Maschine in virtuellen Welten sei also eine alternative Form von Kybernetik. Realität ist nicht gegeben, sondern das, was gemacht wird. Man müsse, glaubten Brand und andere damals, also nur die Technologien demokratisieren - dann würden sie gut sein. Ergänzt wurden solche Gedanken aber auch durch die Idee des Naturzustands als eines Befreiungsmittels, eines offenen Systems. Technologie und Anti-Technologie gehen ein prekäres Bündnis ein.

Stewart Brand

Das ist die Geburtsstunde der "Kalifornischen Ideologie" (der Begriff stammt von den beiden englischen Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron), der drei Jahrzehnte später entstandenen Wahlverwandtschaft zwischen Anarchisten und Thatcheristen, alternative Lebensentwürfe und der Geist der New Economy (vgl. Die kalifornische Ideologie - ein Phantom?). Diese "Kalifornische Ideologie" ist eine seltsame Verschmelzung emanzipatorischer und anarchistischer Ideen mit neoliberalen Theorien. Ihr zentraler Glaubenssatz lautet: Für die Hälfte aller Probleme der Menschheit gibt es eine technische Lösung. Die andere Hälfte löst der Markt - also der Kultur gewordene Naturzustand.

"Industrial Society & its Future"

Gewisse Ähnlichkeiten erkennt Brand folgerichtig auch zwischen seinen Gedanken und den Ideen Kaczynskis, die dieser in einem 56seitigen Manifest zusammengefasst hat. Dieses so genannte "Unabomber Manifesto" trägt den Titel "Industrial Society & its Future". Es wurde seinerzeit von der "New York Times" und der "Washington Post" in Absprache mit dem FBI veröffentlicht - und führte zu Ted Kaczynski.

Der Text warnt im Stil klassischer Verschwörungstheorien, für die "alles mit allem zusammen" hängt, vor der Zukunft der technischen Moderne. Sie sei durch Überwachung durch Supercomputer, durch totalen Verlust der Freiheit durch technischen Fortschritt gekennzeichnet. Allein die Natur wird als "perfekte Alternative zu diesem System" begriffen: "Je eher dieses System zusammenbricht, desto besser für die Menschheit."

Die erhoffte post-technologische Gesellschaft hat Kaczynski offenbar per Briefbombe herbeikämpfen wollen; ein Öko-Terrorist, der, vielleicht durch seine Ziele, vielleicht durch seine Intellektualität, bis heute für viele nichts von seiner eigentümlichen Faszination verloren hat. Für Brand ist auch das Manifest ein Stück "Gegenkultur".

Dammbeck lässt uns im Folgenden zum Zeugen seines Briefwechsels mit Kaczynski werden, mit dem er ausgiebig korrespondiert hat. Diese Passagen des Films sind weniger geglückt. Kaczynski schreibt auf Deutsch, die Stimme, die seine Briefe aus dem Off verliest, ist einschmeichelnd, betont "zweideutig" etwa wie die des Schurken im Stadttheater. Oft argumentiert er in Form rhetorischer Fragen: "Wollen Sie in einer Gesellschaft leben, die von Maschinen beherrscht wird?" Nachdem der Zuschauer spontan mit einem herzlichen "Nein, nein! Gott bewahre" reagierte, fragt er sich womöglich, ob das eigentlich die Frage ist, die hier zu Debatte steht. Und er wundert sich, warum Dammbeck hier nicht - zumindest nicht sichtbar - mit gleicher Insistenz nachfragt oder das Gesagte kommentiert wie bei anderen Gesprächspartnern. "Alle veröffentlichten Versionen des Manifesto sind unrichtig, denn sie enthalten schwerwiegende Fehler", erfahren wir immerhin noch. Das 230 Thesen umfassende Manifest liegt im Buch zum Film erstmals in autorisierter Form vor.

Die Geburt der Kybernetik aus dem Geist des Weltkriegs

Dann folgt wieder ein Stück Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Es handelt von der Partnerschaft zwischen Militär und Universitäten, von der Geburt der Kybernetik aus dem Geist des Weltkriegs. Unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf England 1940 bot Norbert Wiener dem Pentagon sein Wissen an. Leitfrage: Wie kann man eine Maschine bauen, die Angriffe im Voraus berechnet? Die Folge war die Entwicklung der Kybernetik und ihres neuen Menschenbildes, dem der Mensch als informationsverarbeitendes System erscheint.

Teile von SAGE im Computermuseum Mountain View

In den 50er Jahren entwickelte man SAGE, den größten, je gebauten Computer und das erste dezentrale Computer-Netzwerk. Die Leitidee hierbei war es, das Netzwerk am Laufen zu halten, auch wenn eine Komponente - etwa durch einen atomaren Angriff - ausfiel.

Nächster Gesprächspartner: Robert Taylor, NASA-Ingenieur, Raketenspezialist, dann Wissenschaftsmanager im Pentagon. Unter seiner Leitung wurde das ARPANET, die Urform des Internet entwickelt. "Es geht um Wissen gegen Angst. Es ist alles eine Frage des Eliminierens von Ignoranz", erklärt Taylor mit scheinbar ungebrochenem Fortschrittsglauben.

Eine Art Parallelaktion waren die geheim abgehaltenen Macey-Konferenzen, eine Denkfabrik unter Beteiligung der CIA, zu der sich seit 1946 wichtige Wissenschaftler und Intellektuelle mit dem Ziel trafen, eine Wissenschaft zu entwickeln, die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten möglich macht. Nach dem siegreich beendeten Krieg war das neue Schlachtfeld das Terrain des Unterbewussten.

Umerziehung und Selbsterziehung sollten die Fehler der menschlichen Natur korrigieren. Was heute auf manche hybrid und absurd wirken mag - und auch Dammbeck skizziert dies alles mit deutlich skeptischem Unterton - ist tatsächlich nicht nur angesichts der vorausgegangenen Kriegsereignisse ein recht vernünftiges Unterfangen. Denn warum sollte man und soll man heute auch der Natur mehr vertrauen?

Macey-Konferenz

Das Ergebnis der Debatten über Massenpsychologie und soziale Tendenzen ist die Überzeugung einer prinzipiellen Steuerbarkeit der Gesellschaft und die Entwicklung von Konzepten zu ihrer Steuerung. Zu diesen gehört auch der Einsatz von Drogen, die zeitweisen, historisch verbürgten CIA-Experimente mit bewusstseinsmanipulierenden Substanzen. Das Assessment-Center und die Systemtheorie dürfen als zwei prominente Früchte der Macey-Konferenzen gelten. Schließlich ein Besuch beim 90jährigen Heinz von Förster (der 2002 verstarb): Physikalische Teilchen, das seien "die Löcher in der Theorie, die wir nicht beantworten können", resümiert er, weswegen die Theorie zur Erzählung einer faszinierenden Geschichte gerät. Nur die Maschinenwelt hat keine Löcher, sie geht end- und bruchlos weiter, weil alles auseinander folgt. Realität spielt so oder so keine Rolle, ist dem Zugriff entzogen. Am Schluss fragt von Foerster eine alte, schöne Frage: "Was ist Realität?" Dammbeck lässt sie stehen: als Provikation, als Verabschiedung oder als Einsicht.

Heinz von Foerster im Interview

"Wenn einer zum Mörder wird, sind mir seine Ansichten scheißegal."

Über alldem historisch Hochinteressanten gerät allerdings Dammbecks zwischendurch auch gestellte, sehr berechtigte Frage: "Warum wird Ted Kaczynski kein begeisterter Computerhippie?", leider wieder ganz aus dem Blickfeld. Schließlich noch ein Besuch bei David Gelernter. 1993 erhielt er eine Briefbombe, bei deren Explosion er eine Hand und ein Auge verlor. "Wenn einer zum Mörder wird, sind mir seine Ansichten scheißegal", resümiert Gelernter, ein bekannter Computerwissenschaftler aus dem Kreis der Digerati, die Brockman um sich versammelt hat.

In ruhigem Stil folgte Dammbeck bis hierhin seinen Spuren. "Das Netz" ist eine Detektivgeschichte, deren einzelne Elemente sich auf einer per Hand vom Filmemacher gezeichneten und fortlaufend ergänzten Mind-Map zu einem Netz zusammen knüpfen. Dammbeck erzählt seinem Publikum nichts über die Voraussetzungen der Recherche, nichts über die Informationen, die er seinen Gesprächspartnern gab. Manchmal scheint er die Kritik des Unabombers fast zu teilen. Man kann verstehen, dass ein Aussteiger gerade dann fasziniert, wenn es sich um einen erfolgreichen Wissenschaftler handelt. Doch könnte es ja auch sein, dass Menschen tatsächlich einfach verwirrt, krank und ein klinischer Fall sind. So ist alles, was "Das Netz" erzählt, interessanter als seine Hauptfigur. Auch laufen Dammbecks vor allem visuell unterfütterten Analogien zwischen der zeitgenössischen Globalisierungskritik, wie sie sich etwa in Seattle und Genua geäußert hat, und dem "Unabomber Manifesto" Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Ein Open End zum Schluss. Keine Lösung, keine klaren Parteinamen. Offenheit. Die Begründung liefert womöglich der Hauptgedanke des Mathematikers Gödel: In seinen Unvollständigkeitssätzen "bewies" er, dass jedes formal-logische System Probleme besitzt, die nicht lösbar sind. Die Wahrheit ist der Beweisbarkeit überlegen. Und der Unabomber, mag er nun mit Ted Kaczynski identisch sein oder nicht, ist mit dem sozialen System nicht kompatibel.

Zwei weitere Gedanken, die über den Fall des Unabombers weit hinaus gehen, drängen sich nach diesem ebenso spannenden, wie nachdenklichen, in vielem grenzüberschreitenden Dokumentarfilm auf: Da der Zentralgedanke der Kybernetik die Figur der Rückkoppelung, des "Feedback", ist, könnte doch der Unabomber und seine fundamentalistische Technikfeindschaft, sein Widerstand eben genau so eine Art soziale Rückkoppelung darstellen.

Und: Ist am Ende nicht die New Economy und ihr Zentralinstrument, das weltweite Internet, der wahre Sieg der 68er? Und ihr Zusammenbruch ihre Niederlage? An der Frage nach den Möglichkeiten des Widerstands in der entstehenden Weltgesellschaft könnte sich die Zukunft dieser Generation und ihrer Gedanken ebenso entscheiden, wie die des Internet.