Wem gehört das Gehirn?

Wir stehen am Anfang der Neurorevolution - von der Gesellschaft größtenteils unbemerkt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wissenschaft und Gesellschaft prallen in regelmäßigen Abständen aufeinander. Meistens dann, wenn Technik unseren Alltag zu verändern droht, oder wenn bereits gängige Praxis - so etwa im Falle der Bioethik - publik wird. Nun explodiert der Markt der Neurowissenschaften schon seit Jahren und vereinzelt schaffen es Sensationsmeldungen in die Presse. Jüngst berichtete SZ-Wissen etwa, Hirnforscher könnten erste Gedanken lesen1. Wenn solche Meldungen auch mit Vorsicht zu genießen sind, wird der Mensch doch in seinem sensibelsten Bereich, seinem Gehirn, immer verfügbarer. Der große gesellschaftliche Aufschrei ist bislang ausgeblieben. Dabei ist es wichtig, dass sich eine Gesellschaft rechtzeitig darüber klar wird, was sie zulassen will und was nicht, um nicht vom technischen Fortschritt überrollt zu werden. Kurz gesagt, es ist höchste Zeit für eine öffentliche Neuroethik-Diskussion.

Was ist bereits real?

Ein Blick in das eigene Email-Postfach reicht schon, um dem Schwarzmarkt für psychoaktive Substanzen zu begegnen. Per Spam landen täglich Millionen von Angeboten für verschreibungspflichtige Medikamente in Postfächern - und werden dort nicht immer gleich gelöscht.

"Lifestyle drugs" nennt man diese Mittel, die zum Beispiel körperliche oder psychische Aufmerksamkeit versprechen oder den Appetit zügeln sollen. Potenz, Gewichtsverlust, Haarwachstum, Schmerzfreiheit, Cholesterinsenkung, Nichtrauchertum und Antidepressiva, all das verspricht das Internet für wenige Dollar (pro Tablette). Zwar können noch nicht alle dieser Funktionen heute schon im Gehirn beeinflusst werden, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das ändert. Die Pharmaindustrie hat für neue Möglichkeiten nämlich gute Gründe, denn das Marktvolumen für "lifestyle drugs" betrug schon Anfang 2000 20 Milliarden US-Dollar weltweit und soll bis 2007 auf 29 Milliarden wachsen.

Studien an nordamerikanischen Schulen zum Beispiel deuten darauf hin, dass heute bis zu 10% der Schülerinnen und Schüler in der High School und 20% der Studierenden in Colleges verschreibungspflichtige Stimulanzien wie Methylphenidat (im Medikament Ritalin) illegal verwendet haben. Aber bereits im Vorschulalter werden Kinder mit psychotropen Medikamenten behandelt. Dabei hat sich schon in den Jahren von 1991 bis 1995 die Häufigkeit verdreifacht.

Ist das in Deutschland unmöglich? Nein, denn eine 1995 in Regensburg durchgeführte Studie kam zu dem Ergebnis, dass 18% der untersuchten 1.000 Grundschülerinnen und Grundschüler die Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aufwiesen, für das Ritalin die übliche Behandlung ist. Ganz legal könnten Eltern also ihren Kindern dieses Medikament geben, obwohl es noch keine Aussagen über Langzeitnebenwirkungen gibt.

Aber auch die Werbebranche hat längst das Gehirn für sich entdeckt. Mit Neuromarketing versucht man, die Werbung gezielt auf bestimmte Hirnareale zu optimieren.2 Ein Sportwagen zum Beispiel verkauft sich besser, wenn sein Anblick die mit Belohnung assoziierten Bereiche des Gehirns aktiviert.

Mithilfe von Kernspintomographie (funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT) lässt sich die Neuronenaktivität millimetergenau verorten. Ein wirtschaftlicher Nebeneffekt: Im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen muss man nicht mehr Hunderte von Testpersonen befragen, sondern wenige Probanden im Hirnscanner genügen. Die bildgebenden Verfahren sind dabei noch eine neue Entwicklung der Neurowissenschaften und es lässt sich schwer abschätzen, was in Zukunft alles machbar ist.

Was ist vorstellbar?

Die Beeinflussung durch Medikamente von innen oder das Beobachten des Gehirns von außen sprengen vielleicht die letzte Barriere zwischen dem Menschen und seiner wissenschaftlichen Verfügbarkeit. Dass man mit einer einzigen Körperzelle Rückschlüsse auf Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten schließen kann, kennen wir schon aus der Gentechnik-Diskussion. Von einem funktionellen Bild des Gehirns lassen sich vielleicht einmal Charakter- und Persönlichkeitszüge ablesen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Großunternehmen dann ihre Bewerber zum Hirnscanner schicken, bevor sie jemanden einstellen. Das wäre wohl auch billiger als mehrtätige Assessment-Center und es wäre schwieriger, sich zu verstellen. Vielleicht muss man schon bald vor der Einreise in die USA einen Hirnscan an sich vornehmen lassen, ob man verdächtige, terroristische Aktivität aufweist. Anwendungen hierfür bewerben bereits die Brain Fingerprinting Laboratories (Gehirnscans mit dem fMRI zur Terroristenerkennung).

Oder wird es einmal eine Pille geben, die uns die Angst vor dem Tod nimmt? Oder schlimme Ereignisse vergessen lässt? Wenn es um unser Gehirn geht, dann sind der Vorstellung keine Grenzen gesetzt.

Aber nicht nur durch Pharmazie und Bildgebung werden wir greifbarer, sondern auch im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion kommen wir dem Hirn näher. So hat die Forschungsinstitution des US-Verteidigungsministeriums, die DARPA, 2002 annähernd 10% ihres Grundetats in die Neurowissenschaften investiert.3 An die Meldungen von den "ferngesteuerten" Ratten, ein Ergebnis eines von der DARPA geförderten Projekts, werden sich manche noch erinnern. Soldaten, die über ein Hirninterface mit Kampfmaschinen verbunden sind, könnten die Zukunft der Kriegsführung für sich gewinnen.

Was sind die Probleme?

Wenn eine bestimmte Anzahl der Konkurrenten zu Stimulanzien greift, die konzentrierteres oder ausdauernderes Arbeiten ermöglichen, dann geraten automatisch diejenigen unter Druck, die diesen Vorteil nicht haben. Wie man schon heute im professionellen Sport keine Spitzenleistung mehr ohne die entsprechende medizinische Betreuung erreichen kann, so könnten bestimmte Karrierewege ohne "mind doping" unmöglich sein. Wer dann nicht auf dem neuesten Stand ist, was die Pharmazie zu bieten hat, bleibt außen vor. Da solche Substanzen aber oft auch - wie zum Beispiel im Fall von Ritalin - einen klinischen Nutzen haben, der Menschen mit Störungen gleichauf ziehen lässt, ist ein generelles Verbot unplausibel.

Unsere Gesellschaft sollte sich daher rechtzeitig entscheiden, welche "lifestyle drugs" sie in welchem Maß zulässt. Und welche Kontrollen wichtig sind. So könnte man z.B. Dopingkontrollen vor Abiturs- und Abschlussprüfungen einführen, um zu verhindern, dass sich manche mit illegalen Substanzen Vorteile verschaffen, so wie man heute schon nach Mobiltelefonen sucht. Außerdem dürfen Risiken und Nebenwirkungen bei allen vorhandenen Vorteilen nicht vergessen werden.

Wenn sich die Möglichkeiten des Eingriffs in das Gehirn vergrößern, dann wird sich auch unsere Vorstellung davon verändern, was wir für eine Krankheit halten. Ein Beispiel dafür könnte die schon erwähnte ADHS sein. Hier gibt es selbst unter Fachleuten Uneinigkeit darüber, ob die Störung eine Modeerscheinung ist, die zeitweise von Psychologen und Psychiatern gerne diagnostiziert wird, oder ob es sich tatsächlich um eine Krankheit handelt, die behandelt werden muss.4 Die Gesellschaft als ganze sollte entscheiden, ob solche Verhaltensauffälligkeiten normal oder krankhaft sind, ob sie fester Bestandteil einer Person sind oder mit Medikamenten behandelt werden sollten.

Nicht zu vergessen ist auch die Möglichkeit des Missbrauchs der bildgebenden Verfahren. Zum einen haben die Probanden keinerlei Kontrolle darüber, was tatsächlich gemessen wird, wenn sie sich zum Beispiel bereit erklären, an einer Marktforschungsuntersuchung im Hirnscanner teilzunehmen. Hier muss es Vorschriften geben, welche Daten erhoben werden dürfen und was dann anschließend mit ihnen gemacht werden darf. Zum anderen darf das Vertrauen in die Hirnforschung selbst nicht zu groß sein.

Auch wenn die neuen Methoden faszinierend sind, muss klar sein, dass die Ergebnisse immer nur vorläufig sind und nicht generell gelten. Um Varianz bei der Messung zu vermeiden, ist es so etwa üblich, die Probandengruppe auf rechtshändige, kaukasische Männer zwischen 20 und 30 Jahren einzuschränken. Inwieweit diese Ergebnisse dann übertragbar sind, ist unklar. Außerdem steckt zwischen den bunten Bildern des Gehirns, die man aus Zeitschriften kennt, und dem Gehirn selbst neben Messungenauigkeiten eine Menge an anspruchsvoller Mathematik, mit der die Messdaten ausgewertet werden. Das Debakel, dass einer neuen Technologie zu viel Vertrauen geschenkt wird, kennen wir bereits aus der Biometrie.

Neben der Gefahr eines Missbrauchs bietet sich durch die Hirnscans aber auch eine Chance für die Untersuchten. Wie jüngst Nature berichtete5, werden nämlich bei 2-8% der Probanden klinisch relevante Entdeckungen gemacht, die auf Tumore, Fehlbildungen oder ernsthafte Erkrankungen hinweisen können. Das kann Leben retten oder aber auch dazu führen, dass jemand seine Lebensplanung ändert, weil er glaubt, dass sein Gehirn nicht gut genug ist. In dem Nature-Artikel wird etwa von einem Studenten berichtet, der sich nach der Teilnahme an einer Untersuchung dagegen entschied, eine Graduiertenschule zu besuchen. Bei ihm war ein Hirndefekt festgestellt worden. Auch hier scheint es so, dass jeder Nutzen sofort mit Risiken verbunden ist.

Über die Initiierung einer Diskussion hinaus, die die breite Öffentlichkeit miteinbezieht, sollten wir nicht vergessen, dass das Gehirn ein Teil unseres Körpers ist. Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger schlägt so zum Beispiel vor, Meditationsunterricht in die Schule aufzunehmen, damit schon junge Menschen lernen, mit dem Gehirn und der kostbaren Ressource Aufmerksamkeit umzugehen6. Vielleicht erledigen sich einige der pharmakologischen Probleme und Träume schon von selbst, wenn wir unser Gehirn auf natürliche Weise trainieren.

Aber auch auf internationaler Ebene überlegt man, wie man die Ergebnisse der Hirnforschung für den Menschen nutzen kann. Ein Beispiel hierfür ist die Initiative Brain Science and Education der OECD. Untersucht wird etwa, was im Gehirn von Kindern passiert, die in einem zweisprachigen Elternhaus aufwachsen. Man erhofft sich daraus Rückschlüsse auf die Fähigkeit des Spracherwerbs. Mithilfe solcher Studien könnte man das Leben heutiger und nachfolgender Generationen verbessern. Und darin liegt eine der großen Chancen des Fortschritts der Neurowissenschaften.