Der terroristisch-mediale Beziehungskomplex

Eine Zwischenbilanz zur journalistischen Krisenberichterstattung

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Schon vor der mörderischen Tsunami-Katastrophe schienen sich die Medien in der Verbreitung von ungefilterten Schreckensbildern überbieten zu wollen. Auch wenn immer wieder die Grenzen des Verbotenen diskutiert werden, gibt es keine professionellen Richtlinien, die besagen, was gezeigt werden darf und was nicht. Vor allem die wachsende Abhängigkeit der Medien von Terrormeldungen wirft die Frage auf, ob Journalisten mehr sind als nur die Überbringer schlechter Nachrichten. Denn: Bieten Medien durch Live-Berichte den Terroristen ein Forum für ihre Botschaften? Und leisten sie mit ihren Darstellungen dem Terrorismus Vorschub?

"Im neuen Terror ist alles erlaubt, und die Ideen scheinen nie auszugehen", mutmaßt Nicolas Richter in der Süddeutschen Zeitung vom 2. September 2004. Selbst regionale Kämpfer, so Richter, setzten - wie bei der Anschlagsserie im Spätsommer vergangenen Jahres in Russland - immer häufiger die Lehren des weltweiten al-Qaida-Terrors um - "um möglichst groß, medienwirksam und rücksichtslos zuzuschlagen. Doch nicht nur spektakuläre Geiselnahmen wie im südrussischen Beslan und blutige Bombenattentate wie im spanischen Madrid sichern dauerhaft die Aufmerksamkeit von Medien, Journalisten und Publikum.

Auch Terrorbotschaften per Video - meist verbreitet über das Internet - verfehlen ihre Wirkung nicht. So bekannte sich Bin Laden Anfang November 2004 in einer Videobotschaft, die vom arabischsprachigen Sender al-Dschasira ausgestrahlt wurde, erstmals direkt zu den Anschlägen vom 11. September 2001 - und das ausgerechnet vier Tage vor der US-Präsidentschaftswahl. Nach den Audiokassetten vom April 2004 mit deutlichen Bekenntnissen zu den Anschlägen von Madrid war es das erste Video des al-Qaida-Chefs seit knapp drei Jahren - und der offensichtliche Beweis dafür, dass der meistgesuchte Mann der Welt noch immer sein Unwesen treibt.

Kehrseiten ungefilterter Terrorberichte

Der gegenwärtige Medientrend, über Terror und Krisen praktisch ungefiltert zu berichten, hat jedoch viele Kehrseiten. Der terroristisch-mediale Beziehungskomplex beruht auf einem Tauschverhältnis mit Folgen: So wird neben einer stetig wachsenden Abhängigkeit der Terroristen von den Medien gleichzeitig eine gewisse Abhängigkeit der Medien vom Terrorismus registriert. Der 11. September 2001 und die darauf folgenden Terroranschläge der vergangenen Jahre haben eine Debatte darüber entfacht, ob und vor allem wie Medien über Terrorakte berichten sollen - und das nicht allein aus ethischen Gründen. Sondern auch, um nicht zu unfreiwilligen Handlangern von Terroristen gemacht zu werden.

"Breit diskutiert haben wir die Frage, was Bilder von Terroranschlägen auslösen, ob und wie sie verwendet werden sollten, welchen Einfluss Terrorgruppen damit möglicherweise ausüben und wie wir mit Bekennerschreiben, -videos und Ankündigungen vor oder Verlautbarungen nach Anschlägen umgehen sollten", räumt Andreas Cichowicz ein, seit Mai 2004 Chefredakteur des NDR-Fernsehens.

"Zwang zur Selbstüberbietung"

Eine mögliche gegenseitige Abhängigkeit von Medien und Terrorismus wäre folgenreich: Sie könnte "zu einem zentralen Problem demokratischer Gesellschaften werden, die auf umfassende Informationen, Ursachenanalyse, gesellschaftliche Debatten und politische Diskurse angewiesen sind", merkt der Publizist und Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier in der taz vom 11. September 2004 an.

Dabei ist nicht nur eine eigenartige Mischung aus aufgeregtem 'Realtime-Reflex' seitens der Journalisten und einer wachsenden 'Breaking-News-Mentalität' seitens der Medienunternehmen zu spüren, die dieses grausame Wechselspiel um die Aufmerksamkeit des Publikums begünstigen. Vielmehr ist laut Kreimeier eine simple Erfolgslogik dafür verantwortlich: Im Zuge der Globalisierung der Nachrichten funktioniere schließlich auch die Bewusstseinsindustrie nach den Gesetzen des Marktes. Terrorismus und Medien folgten daher einem "Zwang zur Selbstüberbietung", heißt: Wo sich die einen durch Gewaltanwendung und Massenmord einen maximalen Störeffekt erhoffen, wünschen sich die anderen durch dramatisierende und emotionalisierende Gewaltberichterstattung den maximalen Marktanteil.

Das Fehlerpotenzial im Redaktionsalltag nimmt zu

Außerdem: Das 24-Stunden-Nachrichtengefäss der Fernsehsender will gefüllt werden - und duldet keinen Informationsstopp. Hinzu kommt die immer größer werdende News-Konkurrenz durch das Internet, über dessen Kanäle sich Informationen jeglicher Absender ihre eigenen Wege zum Adressaten bahnen, seien es Hinrichtungsvideos, Folterbilder, Terrorismuspamphlete oder Extremisten-Sites. Und gerade im TV-Journalismus, der auf Ereignisse mit terroristischem Hintergrund meist ad hoc reagiert und allzu oft dem Druck erliegt, schnelle Einschätzungen zu liefern, wird das Fehlerpotenzial im Redaktionsalltag zusehends größer.

"Aus meiner Sicht ist die Begriffsverwirrung, auch die Definition von Terror eines der größten Probleme bei der Berichterstattung. Gerade, was den Islam angeht, gibt es noch zu geringes Grundwissen, auch zur Interpretation des Koran und zur Handlungsweise und -denke der Terrorgruppen, deren intellektuelles Grundgerüst vor wenigen Jahrzehnten der Ägypter Said Qutb geliefert hat. Denkmodelle, die bis heute halten", mahnt NDR-Chef Andreas Cichowicz.

Köpfungsvideos im Wochenrhythmus

Seit beinahe im Wochenrhythmus Terrordrohungen über den Äther und Köpfungsvideos online gehen, ist Yassin Musharbash bei Spiegel Online mit Terrorfragen aller Art befasst, vor allem, wenn es um die Verbreitung extremistischer Botschaften aus dem Umfeld von al-Qaida via Internet geht. Besonders seit dem 11. September 2001 sind Leute wie er sehr gefragt: Nebenbei gibt Musharbash Fernsehjournalisten Nachhilfe in Sachen ‚Medienarabisch', bringt ihnen die richtige Schreibweise arabischer Worte bei und gibt ihnen Tipps, wie sie Recherchefallen umgehen. Um Licht ins Dunkel der weltweiten Terrorverschwörung zu bringen, ist ein solches Hintergrundwissen über terroristische Aktivitäten unentbehrlich geworden.

"Terrorismus ist eben derzeit eines der Top-Themen", erklärt Musharbash. "Und wenn Redaktionen den Anspruch haben investigativ zu arbeiten, müssen sie bereit sein, Zeit und Ressourcen zu investieren". Leichter gesagt als getan, denn: Viele kleinere Redaktionen in Presse und Rundfunk können sich derzeit keine entsprechenden Weiterbildungskurse leisten, geschweige denn einen eigenen Terrorspezialisten. Und das macht ihre Krisenberichte zunehmend fehleranfällig.

Mängel und Schwächen in der Fernsehberichterstattung

Die Schwierigkeit liege vor allem darin, "dass Journalisten das Phänomen des internationalen Terrorismus von der Substanz her häufig kaum verstehen", findet der Erfurter Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez. Sie orientierten sich überwiegend an Figuren und Namen wie Bin Laden und al-Qaida und schnappten instinktiv Reizwörter auf. Dadurch würde jedoch die Ursachen- und Konfliktanalyse des Terrorismus stark vernachlässigt.

Der Hamburger Politikwissenschaftler Hans J. Kleinsteuber sieht erhebliche Mängel in der Fernsehberichterstattung, "insbesondere, was Bilder und Stereotypen anbetrifft, mitunter wird auch mit Feindbildern gearbeitet". Dies bestätigt auch Cichowicz' offene Selbstkritik: Es gebe generell "zu wenig Bewusstsein dafür, dass Journalisten ihren eigenen Kopf einschalten sollten und nicht zum Verlautbarungsapparat der jeweiligen Regierung werden dürfen". Bei der Einschätzung von Terrorgefahren gibt es laut Cichowicz außerdem noch "zu wenig Handlungsmuster, wann wir eine Gefährdung melden sollten, oder wann eine Meldung eher Panik erzeugt".

Ganz ähnliche Schwächen in der Krisenberichterstattung des Fernsehens sieht auch RTL-Nachrichtenchef Michael Wulf: "Ich glaube, dass man es schaffen muss, den Zuschauern das Thema richtig rüberzubringen, weil sie das alles nicht richtig einschätzen können". Daher glaubt auch Wulf, dass künftig jede größere Redaktion, ob Presse oder Fernsehen, ihren eigenen Terrorexperten braucht - "so, wie früher jeder seinen politischen Korrespondenten hatte". Überhaupt habe das Thema Terrorismus nach dem 11. September 2001 einen "ganz anderen Stellenwert" bekommen, sagt Wulf.

Bestens gewappnet und gut aufgestellt

Trotz einiger Probleme fühlen sich viele Verantwortliche der Nachrichtenredaktionen nach eigene Aussagen inzwischen jedoch bestens gewappnet gegen künftige Terrorereignisse: "Seit dem 11. September 2001 hat N24 klare Strukturen geschaffen und sich intensiv auf eventuelle ähnliche Situationen vorbereitet", sagt etwa N24-Chefredakteurin Marita Schöps. Neben zusätzlichen Experten, die dem Nachrichtensender zur Verfügung stünden, habe "die ProSiebenSat.1-Media AG senderübergreifend Breaking-News-Telefonketten eingerichtet und wichtige Prozesse - etwa Crawls auf den Vollprogrammen - abgestimmt und kommuniziert". Defizite sieht allerdings auch Schöps im deutschen Fernsehjournalismus, vor allem im sender- und branchenübergreifenden Umgang mit Terrormeldungen.

Auch die ZDF-Nachrichtenredaktion hat aus den Terroranschlägen vom 11. September 2001 logistische Konsequenzen gezogen: "Wir haben uns technisch und redaktionell so aufgestellt, dass wir jederzeit das Programm durch 'Breaking News' unterbrechen können", sagt heute-Redaktionsleiterin Bettina Warken. "Da uns die finanziellen Mittel fehlen, dies durch eine durchgängige Studiobereitschaft sicher zustellen, haben wir unseren Nachrichtengroßraum so umgebaut, dass Redakteure auch ohne technische Hilfestellung senden können. Das spart Ressourcen und erlaubt uns, trotz begrenzter Mittel stets reaktionsfähig zu sein", so Warken.

Außerdem habe man einen erfahrenen Fachredakteur, der exzellente Kontakte zu Behörden und Geheimdiensten pflege. Für Matthias Fornoff, Chef vom Dient beim ZDF, stellen die Ereignisse seit dem 11. September außerdem neue Kompetenzanforderungen an bestehende Redaktionsstrukturen: "Redakteure in Aktualität, Außenpolitik, Reportage-Redaktionen sind gefordert, sich intensiv mit allen Aspekten dieser Entwicklung zu befassen. Diese Aufgabe stellt sich in den Redaktionen und wird in ihrem Programm-Output koordiniert von der Chefredaktion."

Lediglich beim NDR, der am 11. September 2001 federführende Sendeanstalt der ARD war, haben sich keine bemerkenswerten Veränderungen ergeben - behauptet zumindest Chefredakteur Cichowicz. Dort existiere für derartige Großereignisse und Katastrophen schon länger "ein Masterplan": "Wir ziehen schon jetzt Synergien aus der Zusammenarbeit mehrerer Redaktionen und Abteilungen."

Der NDR fühle sich, was die Terror- und Krisenberichterstattung angeht, somit gut organisiert, "da wir durch regelmäßige Berichterstattung in unseren Magazinen Weltspiegel und Panorama sowohl auf Reporter zurückgreifen können, die sich inhaltlich gut auskennen und über hervorragende Beziehungen etwa zum Verfassungsschutz und in die Szene hinein verfügen, also auch Kollegen haben, die sich in Nahost gut auskennen und fließend Arabisch sprechen". Immerhin, räumt Cichowicz ein, etwas habe man doch gelernt, nämlich "wie wichtig es ist, ‚zuerst' auf dem Schirm zu sein"

Wettlauf um die besten Bilder

Doch Schnelligkeit allein, auf die viele redaktionell Verantwortliche anscheinend großen Wert legen, trägt noch nicht zu einer qualitativen Verbesserung der Berichterstattung über Terrorismus bei. Trotz vieler Einsichten und Vorkehrungsmaßnahmen hechele man im Journalismus noch immer "einer Art Ereignisberichterstattung hinterher", glaubt Kai Hafez - "sprich: nach jedem Terrorattentat haben wir eine Art Nachberichterstattung, die das substanzielle Phänomen des Terrorismus ausblendet. Die Ursachenkomplexe, die Bekämpfungsmethoden, die Konfliktanalyse, die man dazu benötigt, ist den meisten Journalisten nicht mal im Ansatz gegenwärtig".

So liegen im Wettlauf um die ersten und besten Bilder Sensationslust und Chronistenpflicht der Medien oftmals dicht beieinander. Ein immer größer werdendes Problem scheint das symbiotische Verhältnis von Terrorismus und Medien zu sein. Ausgehend von dem provokanten Gedanken, dass Terrorismus "essentiell eine Kommunikationsstrategie" ist, wie der Soziologe Peter Waldmann behauptet1, liefert der 11. September 2001 geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie ein Terrorattentat weltweit etliche Millionen Zuschauer tagelang an die Fernsehschirme fesselte: das globale Medienereignis als Matrize für die Terrorbotschaft des al-Qaida-Netzwerks - zweifellos ein von Terroristen eingeplanter Multiplikationseffekt. Eine so verstandene Symbiose erklärt Waldmann damit, dass Terroristen die Massenmedien als ‚Transmissionsriemen', also als eine Art Sprachrohr für ihre terroristischen Forderungen zu instrumentalisieren wüssten.

Rausch des 'Live-Sendens'

"Nur durch Verbreitung der Nachrichten über den Terror und die Gräueltaten unter einem viel größeren Publikum können die Terroristen die maximale Hebelwirkung erzielen, die sie benötigen, um fundamentalen politischen Wandel durchzusetzen", glaubt zum Beispiel Bruce Hoffman, Berater zahlreicher Regierungen und Unternehmen in Terrorismusfragen sowie Direktor des Washingtoner Büros des renommierten Think Tanks RAND Corporation.2

Hoffman spricht außerdem vom "Rausch des ‚Live-Sendens'", der Terroristen zu entsprechenden medienwirksamen Aktionen verleite: Gerade das Leitmedium Fernsehen präsentiere sich als leerer Raum voller laufender Kameras und eingeschalteter Mikrofone, der sich geradezu anbiete, von Terroristen ausgenutzt und manipuliert zu werden. Das wiederum für Medien Attraktive an Terrorakten sei ihre leichte Umsetzung in wichtige internationale Medienereignisse: Ihr dramatischer Charakter mit plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt, die Bildschirm und Zeitungsseiten okkupierten, die sich schnell zu Krisen ausweiteten, machten diese Ereignisse für das Fernsehen ebenso ideal, wie sie auf Journalisten der Printmedien unwiderstehlich wirkten. Und nachdem solche Ereignisse erst einmal in den Medien existieren, sind Hoffman zufolge Terroristen ebenso wie Journalisten daran interessiert, ihre mediale Langlebigkeit mit allen Mitteln zu sichern.

Kleiner Terror mit maximalem Störeffekt

Weil Terroristen bei einer größtmöglichen Anzahl von Menschen einen psychologischen Effekt auslösen wollen, sind sie von den Journalisten abhängig. Umgekehrt gilt das Gebot, dass Journalisten terroristische Ereignisse - aufgrund der Negativqualität - schlicht nicht ignorieren können. Fazit: Auch kleine Terrorvereinigungen erreichen so einen ‚maximalen Störeffekt'. Vor allem der technologische Sprung der vergangenen Jahre, der heute praktisch überall eine Echtzeit-Übertragung terroristischer Anschläge oder zumindest ihrer unmittelbaren Folgen ermöglicht, hat die These einer Symbiose von Terrorismus und Journalismus erhärtet - und damit auch die Vermutung, dass Terroristen ihre Aktionen derart mediengerecht planen, dass sie die öffentliche Aufmerksamkeit gezielt auf sich lenken.

Als Gegenmaßnahme genügt es jedoch nicht, Terroristen den Medienzugang zu erschweren - was, je nach Situation, einer Nachrichtensperre gleichkäme. Enthauptungen wie beispielsweise die im vergangenen Jahr von Paul Johnson und Nick Berg zeigen außerdem, dass sich neue Kanäle geöffnet haben, die den Terroristen auch ohne Beteiligung der etablierten Medien ein alternatives Forum bieten - und die vielleicht viel zu lange unterschätzt wurden. Gerade die ins Internet gestellten Exekutionen der beiden Amerikaner haben erneut demonstriert, dass sich Terroristen über das Internet direkt an die Weltöffentlichkeit wenden können und auf diese Weise die traditionellen Nachrichtenschleusen und journalistischen Kontrollmechanismen umgangen werden.

Forderungen an die Krisenberichterstattung

Eine angemessene Gegenmaßnahme wäre etwa, den Mut für eine gewisse journalistische Zurückhaltung aufzubringen, was die zum Teil ungefilterte Live-Berichterstattung von Ereignissen und Bildern und die mitunter unreflektierte Weitergabe von Botschaften und Videos mit terroristischem Hintergrund angeht. Auch wenn dies im ersten Moment nicht immer praktikabel erscheint, muss die journalistische Faustregel ‚Richtigkeit vor Schnelligkeit' hierbei stets mitbedacht werden. Außerdem lassen sich fünf grundlegende Forderungen an die journalistische Krisenberichterstattung im Fernsehen anbringen:

  1. Bei vergangenen Terrorereignissen hat sich immer wieder gezeigt, dass Informationskompetenz vor allem daran gemessen wird, wie schnell die Medien berichten. Allem Konkurrenzdruck zum Trotz: Hier wären grundsätzlich mehr Verantwortungsbewusstsein und Zurückhaltung im Umgang mit Bildern und Botschaften terroristischen Ursprungs gefragt, gerade auch, was die kritiklose Übernahme vorschneller Generalverdachte und Vorverurteilungen aus den Reihen der Politik sowie die damit verbundene mediale Konstruktion von Freund-Feind-Schemata angeht.
  2. Ebenfalls ließ sich in der jüngeren Vergangenheit immer wieder eine Parteinahme des Journalismus während der Krisenberichterstattung feststellen. Journalisten sollten sich daher kontinuierlich selbst befragen, ob sie unter den jeweils gegebenen Umständen eine neutrale Beobachterposition aufrecht erhalten und ihrer unabhängigen Chronistenpflicht nachgehen können, oder ob sie durch den Modus ihrer Berichterstattung nicht bereits Partei ergreifen und damit die Journalismus-Terrorismus-Symbiose noch verstärken.
  3. Krisen verunsichern die Menschen - umso mehr, je offenkundiger ‚verschwiegen' wird, dass die Journalisten selbst nicht mehr wissen als die Zuschauer. Mehr Transparenz journalistischer Arbeitsweisen und Quellen wie sie im US-Printjournalismus immer üblicher wird, sollte künftig auch zu den Leitbildern der Krisenberichterstattung gehören, etwa das Offenlegen von Quellen im Falle von Bekennerschreiben oder -videos. Dies würde insgesamt zu einer höheren Glaubwürdigkeit der Krisenberichterstattung im Hinblick auf das Medienpublikum beitragen und Verunsicherungen auf allen Seiten vermeiden helfen.
  4. Vielfach zeigt sich eine Orientierung der Medien am Wertesystem der herrschenden politischen Klasse. Gerade während der Kriegs- und Krisenberichterstattung trägt eine Komplizenschaft zwischen Medien und Politik maßgeblich zur nachrichtlichen Informationssteuerung bei. Deswegen muss es Aufgabe von Journalisten sein zu reflektieren, welchen übergeordneten politischen Interessen und Absichten die Weitergabe und Übertragung von terroristischen Ereignissen und Botschaften im Einzelfall dienen könnten.
  5. Journalismus fungiert als Frühwarnsystem von Krisen. Journalisten müssten sich deshalb untereinander und im Dialog mit Medienbeobachtern stärker darüber verständigen, wie sie generell zur Deeskalation von terroristischen Krisen beitragen könnten und darüber, inwiefern es ihnen möglich wäre, durch ihre exponierte Beobachterposition Menschenrechtsverletzungen in Krisengebieten aufzudecken bzw. rechtzeitig zu verhindern.

Fazit: Ressortkompetenz "Krisenjournalismus"

Diesen Forderungen zur Verbesserung des Journalismus in Krisensituationen lässt sich eine übergreifende anfügen: Journalismus über Terrorereignisse sollte grundsätzlich nicht einem Ereignis-Hype verfallen, der letztlich nur ein "more of the same" auf allen Kanälen bedeutet, aber die Reflektion vernachlässigt. Stattdessen muss er das Wagnis eingehen, einen langen Atem zu beweisen und die Krisenberichterstattung entschleunigen. Um diesen Forderungen an die Krisenberichterstattung die nötigen Umsetzungsmöglichkeiten an die Hand zu geben, könnte eine spezielle Ressortkompetenz "Krisenjournalismus" helfen, die sich auf mehrere strukturelle Bausteine stützt. Insgesamt könnte die Stärkung folgender Infrastrukturbereiche zu einer Verbesserung der Krisenberichterstattung beitragen:

  1. Medienarchive: Kontinuierlich Beiträge von Fremdquellen (z. B. BBC, CNN, al-Dschasira) sichten, archivieren und tagesaktuell verfügbar halten; senderübergreifende Archiv-Infrastruktur in Deutschland weiter ausbauen; Zugriff auf internationale Textarchive, Bilderpools und unabhängige Aufklärungssatelliten ermöglichen.
  2. Synergien: Redaktions-, sender- und branchenübergreifende Kooperations- und Kommunikationsmodelle zum Material- und Informationsaustausch sowie zur Abstimmung von konzertierten Aktionen (z. B. Nachrichtenstopp) erarbeiten und abstimmen, um Terroristen kein unnötiges Forum zu bieten; hierdurch würde auch der nachrichtliche Konkurrenzdruck abnehmen.
  3. Korrespondentenvertretung: In Auslandvertretungen fach- und ortskundiger Korrespondenten in Hauptstädten und Krisenregionen weiter investieren und diese weiter ausbauen sowie eine ständige Studiopräsenz von Korrespondenten gewährleisten (keine "Parachute"-Journalisten).
  4. Internes Expertennetzwerk: Aufbau eines internen Netzwerks von Dolmetschern und Fachleuten, die Bekennerschreiben, Videobotschaften u. ä. übersetzen und interpretieren können.
  5. Externe Expertendatenbank: Aufbau und Pflege einer Datenbank für externe Experten; ständige Überprüfung von Seriosität und Aktualisierung der Fachkompetenzen der Ansprechpartner (zur Vermeidung von "Praktikanten-Aufsagern").
  6. Netzwerk Recherche: Geheim- und Sicherheitsdienste, Regierungsstellen und Bundesämter (z. B. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) als Informationsquellen nutzen sowie Netzwerke mit Kollegen bilden.
  7. Live-Logistik: Professionelle Rund-um-die-Uhr-Koordination von Produktionsstab und Redaktionsmitarbeitern veranlassen, um - wenn unbedingt erforderlich - unmittelbar, ggf. auch zeitversetzt auf Sendung gehen zu können, z. B. mittels Breaking-News-Systemen.
  8. Aus-/Fortbildung: Spezielle Schulungen und Trainingskurse für Mitarbeiter anbieten, z. B. Sprachkurse, Hintergrundseminare zu Themenkomplexen (z. B. "Islam"); Ergänzung der journalistischen Aus- und Weiterbildung um friedensjournalistische Elemente.
  9. Guidelines: Notfallpläne mit Verhaltensregeln zur Herstellung von Transparenz der Nachrichtenlage und Handlungsanweisungen in Krisensituationen, um z. B. Panikreaktionen in Redaktionen (und damit möglicherweise bei den Zuschauern) zu vermeiden.
  10. Planspiele: Szenarien von Terror-, Kriegs- und Krisensituationen redaktionell durchspielen (Atomschlag, Bioterrorismus etc.), um Eventualitäten professionell vorzubeugen (z. B. Wie sendefähig sind wir nach einem Nuklearanschlag?).
  11. Sicherheitsvorkehrungen: Vorkehrungen für den Schutz der in Kriegs- und Krisengebieten beschäftigten Fernsehjournalisten im Außendienst treffen, damit diese nicht zur Zielscheibe werden.

Der Autor lebt und arbeitet als Medienwissenschaftler in Hamburg.

Für hilfreiche Anregungen und Kritik dankt der Autor Iris Ockenfels und Michael Beuthner. Zitate ohne Quellenangaben sind aufgezeichneten Hintergrundgesprächen und Stellungnahmen entnommen, die der Autor im Juli und August 2004 mit Redakteuren, redaktionell Verantwortlichen und Kommunikationswissenschaftlern geführt bzw. von ihnen erbeten hat.