Reingespuckt, rausgefischt

Tätersuche mittels DNA-Test: Was im Expertenstreit zwischen Datenschützern Molekulargenetikern übersehen wird

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Seit der Aufklärung des Mordes an dem Modeschöpfer Moshammer wird eine Diskussion über die Ausweitung von DNA-Tests zur Verbrechensbekämpfung geführt (s. Verbrechen war gestern). Die datenschutzrechtlichen Bedenken, die dagegen geltend gemacht werden, betonen vor allem die Unterschiede zwischen herkömmlichen Techniken der Identifizierung wie etwa dem normalen Fingerabdruck und dem DNA-Test. Gestritten wird um die Auswirkungen von gentechnischen Analysen auf das Persönlichkeitsrecht. Dabei werden wichtige Fragen vernachlässigt. Vielleicht dringlicher als zu diskutieren, wessen Daten künftig in einer DNA-Datenbank gespeichert werden, wäre es, den Zugriff auf die DNA-Datenbank zu beschränken und den Katalog von Delikten zu begrenzen, bei denen mit Hilfe der Datenbank ermittelt werden darf.

Otto Schily ist dafür - natürlich. Brigitte Zypris, bisher immer dagegen, will zustimmen, wenn die Sache verfassungsrechtlich geboten ist. Stoiber, die Gewerkschaft der Polizei GdP und der Bund Deutscher Kriminalbeamter BDK begrüßen den Vorschlag. Und jetzt auch Schröder. Sie alle sind, quer durch die politischen Parteien, für eine Ausweitung des genetischen Fingerabdrucks zur Verbrechensbekämpfung. Die in der Strafprozessordnung festgelegten rechtlichen Einschränkungen für die Erhebung und Speicherung von personenbezogenen DNA-Informationen zum Zwecke der Identifizierung sollen gelockert werden.

Aber andere stellen sich quer. Der Bayerische Datenschutzbeauftragte Reinhard Vetter sieht in der Ausweitung der Analysedatei eine Gefahr von Willkür, die in letzter Konsequenz zur Registrierung der ganzen Bevölkerung führen würde. Und der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar stellt sich der Ausweitung mit dem Argument entgegen, dass die Erhebung von DNA-Proben einen erheblichen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung darstelle und nicht mit dem herkömmlichen Fingerabdruck zu vergleichen sei.

Was ist von diesen Einwänden zu halten? Im folgenden werden drei verschiedene Gruppen von Argumenten diskutiert: I) Argumente der Schiefen Bahn; II) das Argument der "Freiheit zur Moral" und III) das Argument der Informationellen Selbstbestimmung.

I. Auf der schiefen Bahn

"Wer heute DNA-Proben von Ladendieben in die Zentraldatei aufnehmen will, wird morgen die ganze Bevölkerung registrieren." Dieser Einwand ist vom Typ eines Arguments der "Schiefen Bahn"(slippery slope) oder des Dammbruches.

Argumente der Schiefen Bahn spielen eine wichtige Rolle in der Diskussion um die Ausweitung der DNA-Analyse. In seiner allgemeinen Form ist das Argument wenig aussagekräftig. Beispiele wie "Wer heute Cannabis raucht, nimmt morgen Heroin" oder "Wenn Schwulen erlaubt wird zu heiraten, werden die Leute bald auch Kinder und Tiere heiraten wollen" demonstrieren dies. Es kommt also darauf an, welche Indizien in einem konkreten Fall die mit einem Schiefe-Bahn-Argument vorgebrachte Vermutung stützen. Hier sind einige der in die aktuelle Diskussion eingebrachten Argumente der Schiefen Bahn:

  1. Möglicherweise steuern wir darauf hin, dass bald jeder schon bei Geburt eine DNA-Probe ans Zentralregister wird abgeben müssen.
  2. Eine Lockerung der Bestimmungen zur Aufnahme von DNA-Proben könnte bedeuten, dass künftig DNA-Proben nicht nur zu Zwecken der Identitätsfeststellung analysiert werden dürfen, sondern auch, um Aufschluss über Persönlichkeitsmerkmale zu erhalten.
  3. Wo immer große Datenmengen zusammenkommen, ist es wahrscheinlich, dass diese über kurz oder lang zu anderen Zwecken als den anfangs beabsichtigten verwendet werden. Wer kann mit Sicherheit behaupten, dass Datenmaterial, welches heute im Zuge von DNA-Analysen gespeichert wird, nicht zukünftig auf neue, unvorhersehbare Weise genutzt werden kann?
  4. Auch bei kleineren Delikten wie etwa einem Ladendiebstahl wird in Zukunft mit Hilfe der DNA-Spurensuche nach dem Täter gefahndet werden können.

Für die vier Vermutungen gibt es unterschiedlich starke Indizien. Über (1) und (2) lässt sich nur spekulieren. Gegenwärtig wären beide Szenarien gesetzeswidrig. Für (3) gibt es eine Reihe von handfesten Beispielen aus der jüngsten Vergangenheit wie die europäische Telekommunikations-Überwachungsverordnung (s. Europols Wunschliste) und Rechtsausschuss für Vorratsdatenspeicherung) oder den Zugriff auf das Maut-System zu Ermittlungszwecken (Kommt die "totale elektronische Verkehrsüberwachung"?). Besonders interessant im Zusammenhang mit DNA-Tests ist der (vermutlich gesetzeswidrige) Einsatz einer eigentlich zu medizinischen Zwecken angelegten nationalen Datenbank mit Blutproben von Neugeborenen für die Verbrechensbekämpfung in Schweden.1

Eine weitere Überlegung macht die Plausibilität von (3) deutlich. Es ist nämlich wahrscheinlich, dass sich über kurz oder lang die Standards der europäischen Länder aneinander angleichen. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Berichte über Entwicklungen in Großbritannien. Dort werden, einer Erklärung der NGO GeneWatch Labore, die die DNA-Analyse ausführen, dafür bezahlt, Reste der für die Analyse verwendeten DNA-Proben auf unbestimmte Zeit aufzubewahren.2 Diese Reste umfassen auch codierende Abschnitte - was für die Beurteilung der Technik den entscheidenden Unterschied macht. In Deutschland wäre eine Praxis der beschriebenen Art nach der Strafprozessordnung verboten.

Trotzdem ist, auf lange Sicht betrachtet, eine europaweite Angleichung der Standards nach oben wahrscheinlicher als eine Angleichung nach unten - allein aus dem schlichten Grund, dass eine Verengung der gesetzlichen Standards eine aufwändige technische Umgestalten von DNA-Datenbank-System zur Folge haben könnte, während eine Gesetzeslockerung den weiteren Ausbau von DNA-Datenbanken erlauben, nicht aber erzwingen würde. Aber auch davon abgesehen, deutet die Tatsache allein, dass bestimmte technische Details der DNA-Analyse bereits in den europäischen Nachbarländern anders geregelt sind als bei uns, darauf hin, dass auch hierzulande die diese Details festlegenden Gesetze auf lange Sicht vielleicht nicht sehr stabil sein werden.

Am stärksten ist die Beweislage jedoch für (4) - den Ladendieb, nach dem mit Hilfe von DNA-Proben am Tatort und Anfragen an die zentrale DNA-Datenbank beim Bundeskriminalamt ermittelt wird. Dieser Fall liegt bereits jetzt im gesetzlichen Rahmen. Er wird im folgenden diskutiert.

II. Freiheit zur Moral

Die momentane politische Diskussion dreht sich ausschließlich um die Frage, wessen DNA-Daten erhoben und in die Datenbank des Bundeskriminalamtes aufgenommen werden dürfen. Stattdessen sollten wir uns darum kümmern, in welchen Situationen und gegen welche Delikte überhaupt mittels DNA-Analyse ermittelt werden soll. Das Szenario, das uns beschäftigen sollte (und das auch als Thema von Karikaturen immer wieder gerne aufgegriffen wird), ist nicht nur die "Registrierungsgesellschaft", in der Ladendiebe und Falschparker zum DNA-Test gebeten werden. Wir sollten uns auch mit dem Szenario einer "Bestrafungsgesellschaft" beschäftigen, in der Ladendiebe und Falschparker mittels DNA-Untersuchungen aufgespürt und belangt werden.

Die "Bestrafungsgesellschaft", in der bereits kleinste Vergehen sofort aufgespürt und geahndet werden, würde sozusagen der Corporate Identity unserer Gesellschaft strikt zuwiderlaufen. Denn die Idee, dass wir unrechte Handlungen nicht nur dann unterlassen, wenn wir davon ausgehen können, mit Sicherheit ertappt und bestraft zu werden, ist ein Kernelement unseres moralischen Selbstverständnisses. Man könnte hier von einem Argument der "Freiheit zur Moral" sprechen.

Man kann diese Auffassung aber auch ökonomisch begründen: Ein gesellschaftliches System, dass ausschließlich auf der Androhung von Strafen basiert, ist schlicht weniger effizient als eines, welches von Kooperationsbereitschaft ausgeht (s. Die Vertreibung des Homo Oeconomicus).

Aus dieser Überlegung lässt sich ein überraschender Schluss ziehen. Es sind nicht nur etwaige "Nebenwirkungen", derentwegen wir den Umgang mit DNA-Analysen beschränken sollten. Es ist, im Gegenteil, die Hauptwirkung, die herbeizuführen - wie bei einer Medizin - nur in Maßen zuträglich ist. Der Traum einer Gesellschaft, wo jedes Vergehen aufgeklärt und geahndet wird, ist ein Albtraum, weil er eine Welt beschreibt, in der ein völlig instrumentalisiertes Verständnis von Moral und Gesetzestreue vorherrscht. Von daher haben wir einen Grund, bei der Aufklärung von Delikten den Rahmen des technisch Möglichkeiten nicht immer voll auszuschöpfen. Und es sieht so aus, als würden die technischen Möglichkeiten uns bereits heute mehr erlauben, als für eine freie Gesellschaft zuträglich ist.

Ein DNA-Scanner für unterwegs

Ein wenig Science Fiction mag an dieser Stelle die Dringlichkeit der Überlegung verdeutlichen. In Großbritannien news.scotsman.com/scitech.cfm?id=61992005 Wissenschaftler bereits an einem Hand-DNA-Scanner, der wie eine Art Staubsauger zum Einsatz kommt und mit dessen Hilfe sich DNA-Spuren am Tatort in Minutenschnelle analysieren lassen. Die Ergebnisse können dann über Funk sofort mit einer Zentraldatenbank abgeglichen werden. Nach Ansicht von Adrian Linacre von der Strathclyde Universität, so schreibt The Scotsman am 18. Januar, sei zu erwarten, dass solches Gerät innerhalb von fünf Jahren einsatzfähig ist. Aber auch nüchtern betrachtet besteht Grund zur Sorge. Sinkende Kosten für DNA-Analysen und sinkende Einschränkungen bei der Aufnahme von personalisierten Proben machen das Szenario einer "Bestrafungsgesellschaft" immer wahrscheinlicher, in dem auch gegen kleinere Delikte mit DNA-Analysen ermittelt werden kann.

Dass diese Frage in der gegenwärtigen Diskussion so überhaupt keine Rolle spielt, hat einen triftigen Grund. Es gibt hier keine Gesetze oder Regelungen, über deren Abschaffung man öffentlich nachdenken könnte: Die Strafprozessordnung schreibt nicht vor, bei der Aufklärung welcher Delikte oder Verbrechen die DNA-Analyse zum Einsatz kommen darf. Und für einzelne Abfragen der DNA-Datenbank gelten keine Einschränkungen. Jede dazu autorisierte Person darf sie vornehmen. Die Erfassung der Daten von "Spuckangreifern" (Großbritannien baut Nationale Gendatenbank aus) wäre insofern durchaus auch in Deutschland möglich.

Wie so oft, macht uns die ausschließliche Fixierung auf den Datenschutz blind für viele andere Fragen.3 Anonyme Spuren, die am Tatort eingesammelt und ausgewertet werden, sind nämlich datenschutzrechtlich betrachtet nicht besonders heikel. Der Richtervorbehalt, den das Gesetz auch hier dennoch vorschreibt, ist in der Praxis bereits heute eine bloße Formalität. So kommt es auch, dass in der Erfolgsbilanz des BKA Diebstahlsdelikte mit weitem Abstand an vorderster Stelle stehen4.

Die "Bestrafungsgesellschaft" verhindern

Was kann man dem Trend zur "Bestrafungsgesellschaft" entgegensetzen? Die Bestrafungsgesellschaft" hat die "Registrierungsgesellschaft" zur Vorraussetzung. Aber eine "Registrierungsgesellschaft" mündet nicht notwendig in einer "Bestrafungsgesellschaft".

Um die "Bestrafungsgesellschaft" zu verhindern, würde es von daher ausreichen, die Delikte zu begrenzen, bei denen mittels Abgleich von Tatortproben mit der DNA-Analyse-Datenbank ermittelt werden darf, und die Abfragemöglichkeit der zentralen DNA-Datenbank zu beschränken. So betrachtet, stünde dem Aufbau einer umfassenden DNA-Datenbank nichts im Wege. Was dem Aufbau einer solchen Datenbank widerspricht, ist das diskutierte Argument der Schiefen Bahn: Wo immer große Datenmengen zusammenkommen, ist es wahrscheinlich, dass diese über kurz oder lang zu anderen Zwecken als den anfangs beabsichtigten verwendet werden.

Wer ausschließen will, dass Datenbanken zukünftig zu einem anderen Zweck als dem heute gewünschten verwendet werden, muss vermeiden, dass eine bloße Gesetzesänderung den unerwünschten Gebrauch ermöglichen kann. Wie wenig schließlich nicht nur geltendes Recht, sondern selbst Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vom politischen Gestaltungswillen als Hindernis aufgefasst werden, zeigt die aktuelle Diskussion.

Die Argumentkombination

Ein Zwischenfazit: Das Argument der "Freiheit zur Moral" und das Argument der Schiefen Bahn wirken in Kombination. Das Argument der "Freiheit zur Moral" gebietet lediglich den Katalog von Delikten zu beschränken, bei denen mittels der Analyse von Tatortproben und Abgleich mit der zentralen DNA-Datenbank ermittelt werden darf. Da aber, wie die Argumente der Schiefen Bahn zeigen, eine solche Beschränkung nicht von garantierter Dauer ist, verbietet sich bereits der uneingeschränkte Aufbau einer DNA-Analyse Datei, wenn man das Szenario einer "Bestrafungsgesellschaft" vermeiden will. (Das Argument der Schiefen Bahn allein wäre nicht ausreichend. Denn mit der "Freiheit zur Moral" erst wird die Richtung angezeigt, in welche ein kritisierenswertes Abgleiten zu befürchten wäre.)

Dies sollte ein ausreichender Grund dagegen sein, künftig bereits Ladendiebe und andere Kleinkriminelle routinemäßig in eine DNA-Datenbank aufzunehmen. Daran, dass sich auf demselben Wege ebenfalls eine Beschränkung von anderen Datenbanken mit Identifizierungsmerkmalen (wie etwa gewöhnlichen Fingerabdrücken) begründen lässt, sollte man sich nicht stören. Im Gegenteil: Wenn die Verbrechensaufklärung via Fingerabdruck mit ebenso spektakulären Erfolgen aufwarten könnte wie jene via DNA-Test, würde diese gleichfalls in eine "Bestrafungsgesellschaft" münden.

Möglicherweise müssen Überlegungen in diese Richtung ausreichen, um eine Einschränkung der DNA-Analyse-Banken zu begründen. Denn die Berufung auf die Informationelle Selbstbestimmung, das sollen die abschließenden Überlegungen zeigen, ist nur wenig geeignet, die Einschränkung zu begründen.

III. Informationelle Selbstbestimmung

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar beruft sich in seiner Kritik5 an dem Vorhaben einer Ausweitung der DNA-Tests vor allem auf die Informationelle Selbstbestimmung. Schaar und jene, die ihm folgen, stellen den Unterschied zwischen einer DNA-Analyse und einem Fingerabdruck in den Vordergrund. DNA-Analysen, so die Behauptung, erlauben Aussagen über persönlichkeitsrelevante Merkmale wie etwa die Disposition zu bestimmten Krankheiten. Deshalb ist ihre Erhebung ein Eingriff in das verfassungsmäßig garantierte Recht der informationellen Selbstbestimmung.

Man muss sich nicht einmal auf die rechtsmedizinischen Details der DNA-Analyse einlassen, um diesen Einwand zumindest teilweise zu entkräften.

  1. Zunächst sind die allermeisten Erkrankungen, die sich auf dem Wege einer DNA-Analyse feststellen lassen, multifaktoriell bedingt. Selbst bei nicht multifaktoriell bedingten Krankheiten erlauben genetische Untersuchungen oft wenig Aufschluss darüber, wie sich die Krankheit am Menschen ausprägt.6 (Auf der anderen Seite: Daraus, dass genetische Untersuchungen oft nur Aussagen mit geringer Geltungswahrscheinlichkeit erlauben, folgt nicht, dass Dritte - Versicherer oder Arbeitgeber etwa - diese Informationen nicht zum Nachteil der Betreffenden verwenden könnten.).
  2. Ein Großteil der genetisch bedingten Erkrankungen ist so selten (meist: 1: X-Hunderttausend), dass aufgrund der großen Vielzahl möglicher Gendefekte nur dann darauf getestet werden kann, wenn bereits ein Verdacht vorliegt - zum Beispiel aufgrund einer Erkrankung in der Verwandtschaft. Ein Test auf alle möglichen Defekte ist undurchführbar. Das Problem ist bekannt aus der Pränatalen Diagnostik.
  3. Auch die zukünftigen Möglichkeiten, mittels DNA-Analysen Vorhersagen über Krankheitsdispositionen treffen zu können, werden von fast allen Wissenschaftlern sehr skeptisch betrachtet.7
  4. Das via kriminalpolizeilichem Gentest erfolgende Bekanntwerden von Informationen über die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in Zukunft von einer bestimmten Krankheit betroffen sein wird, wird von vielen vor allen deshalb als Gefahr gesehen, weil diese Informationen in die Hände von Arbeitgebern oder Versicherern gelangen könnten und dort zum Nachteil der Betroffenen verwendet werden können. Das mag vielleicht ein sehr unwahrscheinlicher Fall sein. Untriftig ist der Einwand aber aus einem anderen Grund: "genetische Diskriminierung" wird - wenn überhaupt - auf breiter Basis nur durch das in Vorbereitung befindliche Gesetz zur Gendiagnostik verhindert werden können. Dieses Gesetz, das noch in diesem Jahr in den Bundestag kommen soll, wird jedoch die von Schaar angedeuteten Missbrauchsfälle abdecken.
  5. In der Diskussion wird oft der Unterschied zwischen "codierenden" und "nichtcodierenden" Abschnitten der DNA betont. Verfechter der DNA-Analyse betonen, dass die Untersuchung lediglich auf den nichtcodierenden Abschnitten vorgenommen wird, aus dem sich keine Informationen über Krankheitsdispositionen oder persönliche Merkmale ablesen lassen. Datenschützer stellen das in Frage. a) Der Unterschied zwischen "codierend" und "nicht codierend" ist, was die rechtliche Grundlage der DNA-Tests betrifft, irrelevant. In der Strafprozessordnung ist lediglich festgelegt, dass DNA-Tests ausschließlich zum Zweck der Identitätsfeststellung durchgeführt werden dürfen. Sollte sich also in Zukunft herausstellen, dass nicht-codierende DNA-Abschnitte doch persönlichkeitsrelevante Informationen bergen, dann wäre diese Untersuchungsmethode mit geltendem Recht nicht mehr vereinbar. b) Aber auch der Sache nach ist der Einwand nicht haltbar. Zwar trifft zu, dass nichtcodierende DNA-Abschnitte nicht nur zur Identitätsfeststellung genutzt werden können, sondern auch Aussagen über das Geschlecht der betreffenden Person erlauben. Darüber hinaus ließe sich etwa auch eine Trisomie 21 (Mongoloismus) auf diesem Wege feststellen - aus dem einfachen und offensichtlichen Grund, weil hier anstelle von zwei gleich drei der zu untersuchenden "Stränge" vorliegen. So, wie sich die Sachlage aus Sicht der Molekularbiologie darstellt8, gibt es aber keine Hinweise darauf, dass zukünftig noch weitere Informationen aus nichtcodierenden Abschnitten gewonnen werden können.9 Mehr noch gilt dies für die jeweils auf acht Ziffernpaare reduzierte Information, die als Resultat der DNA-Analyse in der DNA-Datenbank des Bundeskriminalamtes zur personalen Identifizierung gespeichert werden. c) Zuweilen wird in der Diskussion darauf hingewiesen, dass heute niemand wissen kann, was in der Biologie morgen möglich sein wird. Dieses Argument ähnelt ein wenig jenem der Schiefen Bahn: Wer heute Trisomie 21 aus nichtcodierender DNA ablesen kann, wird morgen vielleicht noch andere Krankheiten aus nichtcodierenden DNA-Abschnitten erkennen können. Vom Typus her ist dieses Argument jedoch genauso problematisch wie das Argument der Schiefen Bahn. In seiner Allgemeinheit ist es nämlich unwiderlegbar: Es gibt keinen Beweis dafür, dass irgendeine technische Errungenschaft nicht in Zukunft existieren kann. Möglich, dass wir in Zukunft Gedanken lesen und kriminelle Absichten im Voraus erkennen können, wie in Minority Report. Dann braucht es aber auch keine DNA-Analyse mehr.

Aus diesen Überlegungen folgt nicht, dass es, auch zwischen Datenschützern auf der einen und Molekulargenetikern und Rechtsmedizinern auf der anderen Seite, sinnvolle Auseinandersetzungen darüber geben kann, was als persönlichkeitsrelevantes Merkmal im Sinne der Informationellen Selbstbestimmung gelten kann und was nicht (man könnte zum Beispiel darüber streiten, ob so augenscheinliche Informationen wie "Alter" oder "ethnische Zugehörigkeit" schützenswert sind).

Im vorliegenden Fall aber dreht sich der Streit um die gentechnischen Fakten. Dabei sprechen wissenschaftliche Erwägungen tendenziell gegen die Bedenken der Datenschützer. Von dem bloßen Grundsatz her, dass "dass heute niemand wissen kann, was in der Biologie morgen möglich sei wird", kann aber die Ablehnung der Ausweitung von DNA-Tests zur Verbrechensbekämpfung nicht begründet werden. Das ist nicht weiter tragisch - jedenfalls dann nicht, wenn man anerkennt, dass es andere Gründe gegen eine Ausweitung gesetzlicher Standards von polizeilichen DNA-Tests gibt als den Schutz der Informationellen Selbstbestimmung. Die "Freiheit zur Moral" und das Argument der Schiefen Bahn sind, in Kombination, ein solcher Grund.10

Von Ralf Grötker ist in der Telepolis-Reihe das Buch Privat! Kontrollierte Freiheit in einer vernetzten Welt erschienen