Auf der Suche nach dem Tal im Kopf

Silicon Valley ist mehr eine Geisteshaltung als ein Ort

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Die Maßeinheit für den Zustand des Silicon Valley ist der Abstand zwischen den Autos auf dem Highway 101. Das hat mir Dave Sifry, Gründer einer Internetfirma in San Francisco, erklärt: "Es ist traumhaft. Seit dem Crash haben wir freie Fahrt bis San Jose!" Demnach muss ich die vierspurige Blechlawine, die mich mit den zulässigen 65 Meilen pro Stunde südwärts aus der Stadt spült, als Zeichen der Krise werten.

Vom Highway aus ist das Valley kaum zu erkennen. Südlich des Flughafens sticht rechter Hand der Campus von Excite ins Auge. Der Komplex der Pleite gegangenen Stellenvermittlung hat einen neuen Namen: "Mid Point Technological Park", dröhnt ein riesiges Schild. "For rent", wäre anzufügen: Die eine Million Quadratfuß Bürofläche stehen leer. "Wenn das vermietet ist", sagt Dave, "ist das Valley wieder am Boomen." Geographisch markiert der Kasten den Eingang zum Silizium-Tal. Für den Hinweis bin ich dankbar - wer einen Schlitz zwischen Berggipfeln sucht, riskiert, 400 Meilen bis Los Angeles durchzufahren.

Ein Professor erforscht die Silikaner

Ich weiß auf dem 101 ohnehin nie, wo ich mich befinde. Wohl sind die Ausfahrten quer über alle Fahrbahnen angeschrieben. Aber sie verkünden nur die Quartierstraße, in die sie münden. Den Namen der aktuellen Ortschaft hätte irgendwo vorher ein winziges Schild auf Radkappenhöhe neben der rechten Spur angegeben: "SAN MATEO - next 5 exits". Es mutet an, als ob das Tal Eingeweihten vorbehalten werden soll - wie mittelalterliche Städte, in denen die Zünfte laufend die Straßennamen änderten, um wandernde Händler zu verwirren.

Ich nehme irgendeine Abfahrt in Palo Alto und verliere mich sogleich in den Nebenstraßen. Inmitten der eingeschossigen Gewerbe- und Wohnbauten ist auch der Hügelzug im Westen nicht mehr sichtbar, und markante Gebäude oder wenigstens Funktürme, wie sie in San Francisco dem räumlichen Empfinden auf die Sprünge helfen, fehlen gänzlich.

Nichts überragt die mediokren Flachdachgebäude suburbaner US-Kultur. Kein Apple-Turm, kein Google-Monument und keine qualmenden Schlote einer Intel-Fabrik. Außer Prototypen wird sowieso längst alles in China, Taiwan und Korea produziert. "Das letzte Reinraum-Labor steht als Ausstellungsobjekt im Tech-Museum von San Jose", hat mir Chuck Darrah erklärt.

An ihn hatte ich mich gewandt, um die Seele des Valley zu finden. Der Anthropologie-Professor an der San Jose State University erforscht seit 15 Jahren die internationale Spezies der Silicon Valley-Bewohner.

Das Valley, hat sein Team in Tausenden von Interviews herausgefunden, ist eine Geisteshaltung, kein Ort. Ein Schmelztiegel von Technokraten aus aller Welt: "Inder, Asiaten, Europäer und Amerikaner fühlen sich hier wohl: Sie finden alles, was sie von zu Hause gewohnt sind", fasst Chuck zusammen, "und sie alle sind glücklich, unter ihresgleichen rund um die Uhr über Technik reden zu können."

Mit Hilfe meines Satellitennavigationssystems finde ich den Weg zu Fry's. Darrah hat mir diesen Ort als einen Kristallisationspunkt des Valley empfohlen. Der Elektronikdiscounter ist Treffpunkt der Technikverrückten, der "Geeks".

Alle in einer Firma

Zwischen Regalen voller Mainboards, MP3-Playern, Plasma-Bildschirmen und Spezialkaffee mit fünffachem Koffeingehalt werde ich Zeuge engagierter Fachsimpeleien unter Kunden. Und erlebe ein Gespräch zweier Ingenieure, wie es mir Darrah prophezeite:

"Ach, Bill ist jetzt drüben bei 3Com? Ich habe ihn oben bei HP kennen gelernt, bevor ich zu Apple zurückkehrte." - "Ja, das Projekt wird von Jenny geleitet, die mit uns bei Compaq war." Firmennamen fallen im Sekundentakt. "Das Valley wird von seinen Bewohnern als Konzern wahrgenommen - die einzelnen Firmen sind bloß Abteilungen", sagt Darrah.

Startup-Gründer Tim Tuttle und Adam Beguelin haben mir das bei einem Zwischenstopp an ihrem Firmensitz in San Mateo bestätigt: "Informationen fließen hier grenzenlos. Geschäftsbeziehungen machst du paradoxerweise am ehesten kaputt, wenn Du deine Karten zu sehr bedeckt hältst."

Alle ziehen am gleichen Strick. "Die reden ständig von Re-invention", sagt Chuck Darrah, "sie wollen sich und die Welt neu erfinden, mit "Lösungen" alles besser machen, und damit meinen sie: effizienter."

Dass die täglichen Staus auf den Highways, der veraltete Caltrain, die kriselnde Energieversorgung und die miese Trinkwasserqualität dem widersprechen, fällt keinem auf. Außer mir. Sensorgesteuerte Schweizer Verkehrsampeln gewohnt, stehe ich beim Wegfahren von Fry's an einer leeren Kreuzung kopfschüttelnd fünf Minuten vor einem Rotlicht.

Mein Landsmann Toni Schneider weiß, warum solche Anachronismen die Geeks kalt lassen: "Die meisten glauben eh nur befristet hier zu sein." 40 Prozent der Valley-Bewohner sind im Ausland geboren. "Vor allem aber leben sie in ihrer virtuellen Welt", erläutert der Informatiker mit Stanford-Abschluss, der seine Firma gerade an Yahoo verkauft hat.

"Als wir mit unserem Startup einen Backsteinbau in San Francisco bezogen, hat ein Kollege an der Decke ein riesiges Mobile montiert. Am nächsten Tag hat keiner der Software-Ingenieure davon Kenntnis genommen. Die erscheinen zur Arbeit, setzen sich an die Bildschirme - und tauchen ein in ihr Paralleluniversum."

Das dehnt sich bisweilen aus in die reale Welt. Chuck Darrah kennt den Alptraum der hiesigen Politiker: "Eine öffentlichen Informationsveranstaltung über die neue Verkehrsplanung in Sunnyvale fand ihren Höhepunkt im stundenlangen Streit des Publikums über die besten Algorithmen für die Steuersoftware."

Technik ist ein Dauerthema, aber nicht die Arbeitsbelastung. Tim Tuttle geht das auf die Nerven: "Die benehmen sich hier alle, als ob sie kaum arbeiteten. Nach 18 Stunden hinter dem Bildschirm schwärmen sie an der abendlichen Party von ihrer letzten Wanderung. Dabei liegt die acht Monate zurück."

Die kalifornische Mentalität hat auch ihre guten Seiten. Ostküsten-Einwanderer Tim Tuttle war schockiert über die hiesigen Kapitalgeber. "In Boston und New York waren das verbissene Skeptiker", erzählt der MIT-Abgänger. "Hier wollen gleich alle einsteigen. Die wissen, dass sie auf 50 Projekte nur einen Treffer landen müssen, um im Geld zu schwimmen."

Grundsätzlich sei die Risikobereitschaft an der Westküste höher. Warum? Gemeinsam entwickeln wir die Wettertheorie: Wo selbst an Weihnachten 18 Grad herrschen, fürchtet sich niemand vor dem Erfrieren, sollte er auf der Strasse landen. "Zudem lockt der Erfolg", ergänzt Tims Partner Adam. "Jeder hat hier Bekannte, dies geschafft haben. Der Amerikanische Traum steht in voller Blüte."

Spitzentechniker wie vom Fließband

Warum das grade hier passiert ist? Die Antwort liegt auf dem Campus der Elite-Uni Stanford in Palo Alto. Auch der erweckt mit Sportstadien und Golfplätzen den Eindruck, als sei alles Tennis und Sonne.

Aber hier werden massenhaft hoch gebildete Geschäftsleute und Ingenieure produziert. Ebenso wie an der nahen Uni Berkeley und dem Anza-College in Cupertino, das in Zweijahreskursen Techniker ausspuckt: Unbegrenztes Frischblut für weitere "Re-inventions".

Von den palmengesäumten Campus-Straßen mache ich mich auf den Weg zum Rathaus von Palo Alto. Der hässliche Klotz ist leicht zu finden - er ist das einzige Hochhaus weit und breit. In ihrem Büro in der siebten Etage weist Stadtentwicklerin Landee Lopez auf die unter uns liegende Stadt und erklärt ihr Problem: "Wir haben keine Landreserven mehr. Wir können nicht mehr wachsen." Zwar stehen in der Gründerstadt des Silicon Valley 30 Prozent der Gewerbefläche leer - bei 100.000 Jobs auf 60.000 Einwohner führt das noch nicht zu Beschäftigungsproblemen. Für das Steueraufkommen der Gemeinde aber ist die Verkaufssteuer von Großverteilern maßgebend. Die aber bauen lieber auf der grünen Wiese, nebenan im ärmlichen East Palo Alto beispielsweise, wo Ikea und Homedepot ihren Umsatz für die halbe Bay-Area generieren.

Deswegen ist die Stanford Mall von großer Bedeutung. Sie erzielt den größten Umsatz aller Shoppingcenter in den USA. In der angeblich einem mediterranen Städtchen nachempfundenen Anlage reihen sich die Luxusshops.

Für Chuck Darrah ist das Center ein Kristallisationspunkt des "neuen Silicon Valley". Was Fry's für die Geeks, ist die Mall für Geschäftsleute. "Das Valley besteht inzwischen aus einer Mixtur an Technophilen, aber auch superreichen Bankiers, Risiko-Kapitalisten und Anwälten." Die Trennung ist eminent wichtig: Wer in Technikerkreisen mit gekämmtem Haar und sauberem Hemd auftaucht, wird laut Tim Tuttle als "Businessman" beschimpft.

Im Zirkel der Kapitalisten

Aber auch die stellen ihren Reichtum nicht zur Schau. Geld ist nicht mehr als der Treibstoff für die nächste "Reinvention". "Ich habe bei milliardenschweren Venture-Kapitalgebern in Büros gesessen, die jeder Beschreibung spotten", hat mich Tim aufgeklärt. "Nur die wenigsten Firmen errichten sich einen Repräsentativbau, wie das an der Ostküste üblich ist."

Das erklärt das Fehlen architektonischer Wahrzeichen, was mir auch den Weg in die Hügel von Menlo Park an die Sand Hill Road 3000 erschwert. Neben dem exklusivsten Golfclub der Region duckt sich eine Reihe zweigeschossiger Bürobauten im Kreis um ein als Cafeteria getarntes Hochpreis-Restaurant.

In diesen Bungalows residieren die mächtigsten Risiko-Kapitalfirmen der Welt. "Es gibt dort eigentlich nichts zu sehen", hatten mich Tim und Adam gewarnt. "Aber es ist das finanzielle Epizentrum der Region."

Auf dem Weg zur Weihnachtsparty bei Google nehme ich einen Augenschein in Cuppertino: Apple ist hier nirgends und, in Form anonymer, nummerierter Bürogebäude mit dem angebissenen Obst auf den Schildern, überall.

In Mountain View verpasse ich zweimal die Einfahrt zum Parkplatz des Google-Hauptsitzes. Die Tafel mit dem bunten Schriftzug ist etwa so prominent platziert wie die Ortsschilder am Highway 101.

Google-Bus mit Onboard-Netzwerk

Den Haupteingang versperrt ein mobiler Coiffeursalon. Und im Laufe der lockeren Small-Talk-Party eröffnet mir ein Mitarbeiter der Suchmaschinenfirma, dass den Googlern einmal pro Monat eine fahrbare Zahnarztpraxis und täglich ein Masseur zur Verfügung stehen. Und weil immer mehr der jungen Mitarbeiter San Franciscos Nacht- und Kulturleben der familiären Vorstadtkultur des Valley vorziehen, betreibt Google einen Shuttlebus in die Stadt. Mit Satellitenverbindung und Onboard-Funknetzwerk.

Dave Sifry hat den einfacheren Weg gewählt und seine dritte Firma gleich in San Francisco angesiedelt. Dass "die Stadt" per definitionem - und in den Statements ihrer Einwohner sowieso - keinesfalls zum Silicon Valley gehört, interessiert ihn nicht. "Das ist doch Blödsinn. Für mich gehört alles zum Silicon Valley, von wo aus ich innerhalb einer Stunde bei den Venture-Kapitalisten bin."