Süß, trotzdem gesund und natürlich

Stevia, ein Gewächs aus Paraguay, soll chemische Süßstoffe überflüssig machen

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Sie ist süßer als Zucker, enthält keine Kalorien und wird natürlich hergestellt. Trotzdem dauert es vermutlich noch Jahre, bis die Stevia-Pflanze europäische Lebensmittel versüßen wird.

Stevia-Versuchsfeld in Südspanien (Bild: Universität Hohenheim)

250 mal süßer als Zucker

Schlemmen ohne auf die Kalorien achten zu müssen. Das ist der Traum nicht nur von Übergewichtigen. Stevia, eine unscheinbare Pflanze aus Paraguay verspricht die Erfüllung dieses Traums. Mit vollem Namen heißt sie Stevia rebaundiana Bertoni und stammt ursprünglich aus dem Hochland von Amambay in Paraguay. Dort süßen die Guarani-Indianer seit Hunderten von Jahren ihren Mate-Tee mit den fünf Zentimeter langen Blättern der Pflanze. Ihre getrockneten Blätter und das daraus gewonnenen Pulver sind 15 bis 30 mal süßer als Zucker, statt Kalorien enthalten sie zahlreiche Spurenelemente. Die Süße stammt von der Stoffgruppe der Stevioside, deren Gehalt in den Blättern etwa 10 Prozent ausmacht. Sie lassen sich zu einem Pulver extrahieren, das 250 mal süßer ist als Zucker.

Nicht marktreif für Europa

In Japan z. B. ersetzen Stevioside schon lange die Hälfte aller Süßstoffe (25%), in den USA, wo die FDA die Vermarktung der Süßpflanze argwöhnisch verfolgt, ist Stevia seit 1995 zumindest als Nahrungsergänzungsmittel erlaubt. Doch in Europa tut man sich schwer mit dem Wundermittel aus Südamerika. Im Jahr 2000 lehnte die EU einen Antrag auf Zulassung ab, weil die gesundheitliche Unbedenklichkeit für den Menschen nicht hinreichend belegt war.

Doch jetzt gibt es einen neuen Anlauf: Das Joint Expert Comittee on Food Additives (JECFA), ein gemeinsamer Ausschuss von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Food and Agriculture Organisation (FAO), das auf Antrag von Regierungen Lebensmittelzusatzstoffe überprüft, hat dem Süßstoff nach einer ersten Prüfung einen vorläufigen ADI-Wert erteilt.

Süß und so gesund

Udo Kienle vom Institut für Agrartechnik der Universität Hohenheim hat die Pflanze für Deutschland entdeckt und bemüht sich seit 20 Jahren, sie in Europa auf den Markt zubringen. Er ist davon überzeugt, dass Stevia für den Menschen unbedenklich ist und gesundheitlich enorme Vorzüge besitzt. Zudem entfaltet es bei zahlreichen anderen Krankheitsbildern eine positive Wirkung. Kienle im Gespräch mit Telepolis:

Es gibt eine Theorie, nach der die modernen Zivilisationskrankheiten, also z. B. Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Bluthochdruck, Rheuma etc., ihre Ursache in Entzündungsvorgängen im Körper haben und bei einem Teil dieser Krankheitsbilder konnte man nach der Einnahme von Stevia bestimmte Effekte beobachten. Man stellte fest, dass Stevia Diabetes mildert, dass Bluthochdruck gesenkt wird und bei Ratten verschwand sogar Hautkrebs. An was das genau liegt, weiß man noch nicht. Allerdings muss dies noch genauer untersucht werden und für diese Bereiche hat der JECFA-Ausschuss weitere Untersuchungen angefordert. Auch das Verhalten von Stevia gegenüber Vitaminen ist interessant. Süßstoffe wie Saccharin und Aspartam etwa bauen Vitamin C massiv ab. Bei Steviosid ist das genau anders, der Abbau verlangsamt sich deutlich, so dass man von einer Schutzfunktion sprechen kann.

Keine Monopolisierung, keine Investitionen

Es spricht so vieles für Stevia, dass man sich wundert, warum die Industrie sich nicht gierig darüber hermacht. Laut Udo Kienle hat das zwei Gründe:

Es kann sein, dass die Industrie das Potenzial von Stevia noch nicht so erkannt hat, doch für wahrscheinlicher halte ich etwas anderes. Die Industrie hat sich, als Stevia vor 30 Jahren in Japan bekannt wurde, Muster besorgt und damit Tests gemacht. Weil die Produkte, die dabei herauskamen, aber dem Geschmack nicht entsprachen, kam man davon ab. Heute sieht das anders aus. Je nach Verfahren kann man den typischen Stevia-Geschmack sehr gut wegbekommen, obwohl das Resultat aus meiner Sicht immer noch verbesserungsfähig ist. Doch für die Hersteller gibt es noch ein weiteres Problem. Stevia ist ein Naturprodukt und lässt sich nicht monopolisieren, so wie das bei künstlichen Substanzen möglich ist, wo man ein Patent erheben kann. Stevia kann jeder anbauen und daraus Extrakte herstellen. Wer hierzulande plant, viel Geld in langwierige Zulassungsverfahren zu investieren, fragt sich eben, wie er sein Geld wieder zurückholt.

Zulassung in der EU

Was muss geschehen? Laut Kienle gibt es zwei Möglichkeiten, in der EU das Zulassungsverfahren zu betreiben: einmal über eine Zulassung von Steviosid als Lebensmittelzusatzstoff oder über eine Zulassung von Stevia als neuartiges Lebensmittel (Novel Food). Letzteren Weg hält er für interessanter, weil er größere Möglichkeiten eröffnet: Mit einer Zulassung als Novel Food ist Stevia als Lebensmittel definiert. Als solches kann es mit anderen Lebensmitteln gemischt werden, ohne dass es durch eine E-Nummer als Zusatzstoff deklariert werden muss und damit in einen Topf mit allen möglichen chemischen Zusätzen geworfen wird.

Die Erteilung des ADI-Werts führt in die richtige Richtung. Doch nun müssen weitere Vorschriften für eine langfristige Zulassung erfüllt werden. Und Kienle ist sich sicher, dass die EU streng prüfen wird, weil Süßmittel eine enorme Verbreitung haben: In Europa werden jährlich 15.000 Tonnen konsumiert, auch von Kleinkindern. Für die jetzt noch nötigen Untersuchungen sind laut Kienle rund 5 Millionen Euro an Investitionen fällig – ein Klacks verglichen mit den Kosten für einen neuen künstlichen Süßstoff.

Die Entwicklung von Aspartam hat nach Schätzungen zirka 225 Millionen Dollar gekostet. Er rechnet vor, dass, wenn nur 5 Prozent der in Deutschland verkauften Limonaden mit Stevia gesüßt werden würden, der Preisunterschied zum Zucker genau das Geld für die Zulassung betrüge. Die erforderlichen Mittel sind also eigentlich längst da, sie müssten nur anders ausgegeben werden. Obendrein liegt der Marktanteil von Diätlimonaden deutlich über 5 Prozent.

Kommt Zeit, kommt Süßstoff

Doch selbst wenn alles gut geht, Süßmäuler brauchen noch viel Geduld: Bis 2007 müssen die sich aus dem JECFA-Verfahren ergebenden restlichen Untersuchungen vorliegen. Wenn das klappt, führt das zu einem endgültigen Gutachten und zu einer endgültigen Bewertung. Im nächsten Schritt folgt dann die Festlegung, in welchen Mengen das Steviosid in Lebensmitteln vorkommen darf. Das dauert weitere zwei Jahre (sog. Codex-Alimentarius-Prozess), so dass die EU frühestens 2010/11 gezwungen werden kann, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Udo Kienle allerdings ist optimistisch. Über kurz oder lang wird Stevia die künstlichen Süßstoffe vom Markt verdrängen und er rechnet damit, dass es bis 2025 so weit sein wird.

Künstliche Süßstoffe wie etwa Saccharin und Cyclamat werden aus Erdöl hergestellt und das wird immer teurer und seltener. Diese Lücke werden andere Stoffe füllen und man wird sich etwas suchen, was natürlich und auch gut fürs Image ist. Stevia ist hier genau das richtige.