Heim ins Reich?

Kulturschock USA - Teil I

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Fast acht Jahre war ich nicht mehr Zuhause gewesen. Während dieser Zeit war viel geschehen. Aus Europa betrachtet schien die alte Heimat verrückt geworden zu sein - der Begriff "totalitär" wäre in mancher Hinsicht nicht fehl am Platz. Lange habe ich gehofft, dass meine Landsleute nicht hinter dem Patriot Act und der Außenpolitik Bushs stünden, aber die Wahlergebnisse von 2004 haben gezeigt, dass die Hälfte der Wähler diese Entwicklungen begrüßte.

Würde ich lauter von der Angst vor Terroristen aufgescheuchte, nicht mehr klar denkende Amerikaner treffen? Würde ich die Amerikaner überhaupt noch verstehen - und sie mich? Wie lebt es sich überhaupt im Herzen des Imperiums? Und würde man mich gleich an der Grenze aufhalten, wenn ich keine Adresse in den USA angeben kann ("Erwartest du heute Besuch?"), oder wegen meiner Bush-kritischen Schriften gleich verhören (Guantanamo-Feeling: Die falschen Stempel im Pass) oder gar zurück nach Deutschland schicken (Endstation Miami).

"Alle Taschen auf das Band legen, alle Gürtel, Armbanduhren, Schmuck und sonstige Gegenstände aus Metall in eine Wanne legen, die Jacken auch ausziehen und in die Wanne legen, Schuhe ausziehen, wer einen Six-Pack im Gepäck hat, kann gleich nach vorne kommen, das Lächeln wird auch kontrolliert - Sie dahinten, nicht gähnen!"

Der Sicherheitsbeamte am Flughafen in New Orleans wäre offenbar am liebsten Komiker geworden. Stattdessen stand er an der Stelle, wo die Schlange stehenden Flugpassagiere die neuesten Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen müssen, und sorgte für gute Laune.

Schon mal eine lachende Menge an der Sicherheitsschleuse am Flughafen gesehen?

Keine grundlegenden Veränderungen

Um es gleich vorweg zu sagen: Mir hat der 30-tägige Aufenthalt in den USA bestens gefallen. Mehr noch: Ich fand das Land praktisch unverändert vor. Es gab zwar viele Veränderungen, doch diese waren lediglich die Fortentwicklung dessen, wohin das Land schon Mitte der 1990er steuerte. Für mich hatten sich die USA genauso weiterentwickelt, als wäre der 11. September 2001 nicht geschehen.

Ich hatte also keineswegs den Eindruck, als hätte ich eine Reise beispielsweise in das Nazideutschland von 1933 oder meinetwegen in die DDR unternommen. Diese Einsicht brachte mich aber zugleich in die Bredouille, denn offenbar war alles, was in den letzten Jahren solche Vergleiche überhaupt denkbar machte, möglich in meiner Heimat, ohne dass sie sich grundlegend verändert.

Als Schulkind erfuhr ich von den antikommunistischen Hetztiraden des Senators McCarthy und habe sie als unamerikanische Ausrutscher verstanden. Was mein Land wenige Jahre zuvor alles in Vietnam angerichtet hatte, stand Ende der 70er noch nicht in den Schulbüchern.

Und als ich im ersten Golfkrieg an der Universität von Texas meinen Magister machte, hielt der damalige Präsident Bush Sr. eine Untersuchung von Amnesty International über die Gräueltaten von Saddam Husseins Truppen in den Händen, als er seinem Volk im Fernsehen erklärte, weshalb man im Golf nun militärisch eingreifen müsse. "Morgen wird er bestimmt ausgelacht", dachte ich, denn die Medien würden bestimmt darüber berichten, dass Amnesty International solche Berichte über die meisten Länder schreibt, und wir marschieren nicht überall ein. Doch solche Medienberichte blieben aus.

Stattdessen verkauften Studenten an der Uni bald T-Shirts mit der Aufschrift I'd fly 10,000 miles to smoke a camel. Jeden Tag lief ich an einem solchen Stand vorbei und verkniff mir die besserwisserische Bemerkung, dass es vor allem in Saudi-Arabien viele Kamele gibt, also in dem Land, das wir angeblich verteidigten.

Ich komme also aus einem Land, das in der Lage ist, alle 10 bis 20 Jahre so was wie McCarthy, Vietnam und die Golfkriege I und II zu produzieren. Diese Ereignisse sind keine Ausnahmen, keine unamerikanischen Ausrutscher, sondern sie gehören zum Wesen meiner Heimat. Für viele Amerikaner sind sie nicht einmal unamerikanisch.

Erosion der urbanen Zentren

Was hat sich denn verändert? Das Land rückte immer weiter von einer Infrastruktur ab, die es einem erlauben würde, ohne Auto unterwegs zu sein. Die Zersiedlung der Städte schreitet unaufhaltsam voran.

So sieht die "alte" Hardy Street mitten in Hattiesburg / Mississippi aus, wo ich in die Grundschule ging. Vier Spuren mit einer Abbiegerspur in der Mitte, aber immerhin sind die Geschäfte dicht an der Straße gebaut.

Als ich die Altstadt von Hattiesburg besuchte, konnte ich nachvollziehen, warum man so arg am Stadtrand ausbauen muss: Die Innenstadt wird fallengelassen. Die Weißen wissen warum: Die Schwarzen ziehen dort ein. Und sobald eine schwarze Familie eingezogen ist, gibt es nur noch eines: "There goes the neighborhood." Die Flucht der Weißen - "white flight" - setzt ein, und das Geld zieht ab. "Amerikanische Städte", so ein Freund von mir aus Baton Rouge (der Hauptstadt von Louisiana), der seit Jahren bei der ESA arbeitet, "sehen aus, als wäre die Mitte ausgebombt worden. Nur am Rand lebt alles gesund weiter."

Als Kind ging ich hier Pizza essen - mitten in Hattiesburg/Mississippi. Die Wegwerf-Gesellschaft wirft seine eigenen Innenstädte weg.

Die eigentlichen "malls" - die Einkaufszentren, in denen man in einer klimatisierten Passage an den Ladenfronten vorbei läuft - haben sich was einfallen lassen, um gerade die Senioren anzulocken: Sie bieten sich den älteren Menschen, bei denen das Geld ja eher locker sitzt, als medizinisch betreuten Sportplatz an. Man kann also eine Runde laufen, ohne sich der Hitze der Südstaaten auszusetzen, und wenn man einen Herzinfarkt hat, ist die Ärztestation gleich um die Ecke zwischen der Eisdiele und dem Allerlei-Laden.

Was aussieht wie eine Autobahn ist nichts anderes als die Verlängerung der Hardy Street. Immer noch vierspurig, aber nun mit dedizierten Abbiegerspuren auf beiden Seiten und in beiden Richtungen - also nun 8 statt 5 Spuren. Dazu noch etwas Grün im früher nicht vorhandenen Mittelstreifen. Rechts werden die ersten freistehenden Läden gebaut, allerdings nicht mehr dicht an der Straße, sondern hinter einem Graben. Man muss an diesen Läden vorbeifahren, um zum Parkplatz des "strip mall" (alle Läden in einer geschlossenen Reihe) zu gelangen. Zu Fuß geht man hier wegen der großen Entfernungen besser nicht einkaufen. Öffentliche Verkehrsmittel wie Bus und Bahn - Fehlanzeige.

Das amerikanische Einkaufszentrum entwickelt sich also doch noch zu einem kommunalen Platz, wo man sich einfach treffen kann, auch wenn das Einkaufen noch im Vordergrund steht. Wenn mich ein Amerikaner fragt, weshalb ich so gerne in diesen engen europäischen Innenstädten lebe, verkaufe ich die Idee meistens mit Verweis auf unsere Einkaufszentren. Stelle dir vor, sage ich, über den zwei Etagen, wo man einkaufen kann, gibt es Wohnungen und Parks. Die meisten Läden sind näher als der eigene PKW. Man geht also gerne zu Fuß, trifft die Nachbarn zufällig und irgendwann hängen alle so um, ohne was kaufen zu wollen. Bisher hat das jeder Amerikaner als verlockend empfunden, aber noch habe ich keine Wohnungen oben auf den Malls gefunden.

Das Turtle Creek Mall wirbt für sich mit "Herz-sicherem Einkaufen". Das Mall wirbt auch mit zwei Sauerstoff-Geräten und einem externen Defibrillator.

Kulturschock?

Eigentlich habe ich nur einen Kulturschock bei diesem Besuch erlebt, und zwar gleich am ersten Abend. Allerdings zog sich dieser Kulturschock durch die ganze 30 Tage.

Mein Bruder holte mich vom Flughafen in New Orleans ab und wir gingen mit seiner Frau mexikanisch essen. Ich litt noch an der Zeitverschiebung, aber mein Bruder und seine Frau lobten dieses Restaurant, und ich wollte nichts verpassen.

Das Essen schmeckte dann zwar vorzüglich, aber die Gäste saßen alle auf abgenutzten, schäbigen Holzbänken, und die ganze Haustechnik hing ohne jede weitere Verzierung von der sonst auch nicht verschönerten Decke. Ich wunderte mich sehr, dass man den Laden so schludrig eingerichtet hatte, aber außer mir schien niemand daran Anstoß zu nehmen.

Und so ging es dann vier Wochen weiter. In einer Bar in Austin/Texas sah man den grauen Feuerschutz, der offen an die Decke gesprüht war, und in Hattiesburg/Mississippi aß ich in einem Restaurant, das angeblich den besten Barbeque der Gegend zu bieten hatte. Das Restaurant "Leatha's" war ein Holzschuppen mit einem Fußboden aus billigen, dünnen Holzplatten, die unter dem Übergewicht der schwarzen Big Mama Leatha, die den Laden schmiss, gefährlich nachgaben und laut ächzten. Die Einrichtung sah aus, als wäre heute Sperrmüll; keine zwei Stühle waren gleich. Aber das Essen schmeckte tatsächlich hervorragend, und kaum war mein Glas Eistee halbleer, stand die Bedienung da und füllte nach - "all you can eat & drink".

Ich sprach mit meinem Bruder am Ende meiner Reise von diesem Kulturschock. Er sagte, man wolle ja nur Essen gehen, und wenn der Laden dann auch noch herausgeputzt ist, dann kostet das Essen eben noch im paar Dollar mehr. Hauptsache, das Essen schmeckt. Und das tut es (siehe Teil II).

You can take the boy out of the country, but you can't take the country out of the boy.

Nach anfänglicher Befremdung fühlte ich mich vor allem in Leathas Holzschuppen auf dem Land in Mississippi wieder Zuhause. Man gab sich eben keine Mühe, seine Armut zu verbergen. Und wer Geld hatte, der wollte sowieso nicht in einem feinen Restaurant mit weißen Tüchern und feinen Gläsern und doppeltem Besteck ausessen, sondern mit einem teuren Pick-up oder Geländewagen zu einer Hütte fahren, wo man Berge von gutem Fleisch mit den Händen essen kann.

Und überhaupt konnte ich den ganzen Rummel um die SUVs, die Geländefahrzeuge, plötzlich nicht mehr begreifen. In den Südstaaten fährt man seit eh und je Pick-ups, und die Hummers, die ich endlich mit eigenen Augen gesehen habe, sahen überhaupt nicht sehr groß aus neben den herkömmlichen Pick-ups, die manchmal sogar vier Reifen hinten haben. Und außerdem ist das größte Fahrzeug, das man kaufen kann, auch kein SUV, sondern ein CXT - eine richtige LKW-Kabine für Brummis, nur mit einer festen Pritsche hinten statt einem abkoppelbaren Anhänger.

Die SUVs stehen vermutlich nur in der Kritik, weil sie plötzlich als Familienwagen von so genannten "soccer moms" missbraucht werden (also gewissermaßen "Familienmütter" aus der Mittelschicht, die ihre Kinder nach der Schule zum Sportplatz fahren, damit die kleinen die neumodische europäische Sportart "soccer" lernen können). In den Südstaaten werden aber solche Riesenfahrzeuge seit jeher gefahren. Es ist auch nicht so lange her, dass wir Geländewagen wirklich nötig hatten, weil unsere Straßen Schotterpisten waren (den europäischen Fußball spielt man natürlich noch nicht so gerne im Süden).

Ich wusste dann endgültig, dass ich vollends in den Südstaaten angekommen war, als der offenbar leicht geistig behinderte Sohn Leathas an unserem Tisch erschien, nachdem wir bestellt hatten, und wissen wollte, welches Musikstück er uns singen soll. Wir einigten uns auf das Weihnachtslied "Chestnuts Roasting on an Open Fire". Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und legte mit einer recht unbedarften Stimme los, wobei er die Zeilen der Strophen komplett durcheinander brachte. Das machte es auch schwierig, ein Ende zu finden. Doch als er eine Stelle erreicht hatte, die man für das Ende einer Strophe nehmen konnte, klatschten wir alle begeistert in die Hände, um den Sänger zu überzeugen, er habe das Ende erreicht und das Publikum glücklich gemacht.

Es war wie eine Passage aus einem Roman von William Faulkner, wo man nicht immer weiß, wer seine Sinne noch hat. Jeder ein potentiell verrückter Südstaatler. Nur der Anstand verbietet eine genauere Bestimmung, denn niemand ist perfekt, und wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.

Du hast es noch drauf, dachte ich mir, du kannst noch wie einer aus dem Bible Belt denken. Welcome home.